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Wilhelm Raabe
Der verkannte Utopist

Wilhelm Raabes "Pfisters Mühle" von 1884 gilt als erster Umweltroman der deutschen Literatur. Mitten im wirtschaftlichen Aufschwung der Gründerzeit thematisierte der vermeintliche Philister Raabe mit utopischer Kraft die Ambivalenz von Veränderung und die Opferung der Idylle für den Fortschritt.

Von Katrin Hillgruber |
    Das verbindet ihn über die Jahrhunderte hinweg mit Thomas Hettches Roman "Pfaueninsel", ausgezeichnet mit dem Wilhelm-Raabe-Literaturpreis 2014. Die vom Abriss bedrohte niedersächsische Mühle und das künstliche preußische Arkadien in der Havel namens Pfaueninsel sind hybride Orte, an denen sich revolutionäre Momente verdichten und beide Schriftsteller die Zeit selbst als Akteurin auftreten lassen.

    Das Manuskript in voller Länge:
    Auf der Bühne im Schauspiel Stuttgart dreht sich ein schwarzgraues Ungetüm im Hintergrund. Ein harmlos klapperndes Mühlrad? Oder eine laut rotierende Industrieturbine, der man besser nicht zu nahe kommt? Dieses Ungetüm kann sich aufspielen, aber auch ins Nirgendwo zurückziehen, um einem fahlen Lichtstrahl Platz zu machen, der das Untergangsszenario auf der Bühne kurzzeitig erhellt. Dort ist eine Gruppe aufgeregter Menschen zu sehen - teils laufen sie hin und her, teils stehen sie unschlüssig herum: die Männer in Frack und Zylinder, die Frauen in dunklen Gewändern à l'Époque.
    "Pfisters Mühle. Ein Sommerferienheft" wurde in Stuttgart erstmals dramatisiert. Die Aufführung in der Inszenierung von Armin Petras feierte am 15. November 2014 Premiere am Schauspiel Stuttgart. Der Roman von Wilhelm Raabe ist 130 Jahre älter, er wurde 1884 veröffentlicht. "Pfisters Mühle" gilt als der erste Umweltroman der deutschen Literatur. Wilhelm Raabe schrieb ihn in Braunschweig. Von dort reichen die Spuren des Romans bis nach Stuttgart, wo Wilhelm Raabe von 1862 bis 1870 lebte.
    Ungleicher Kampf gegen eine Industrie-Fabrik
    Aus der Menschenmenge im Gründerzeit-grafitgrau sticht eine Frau im zitronengelben Spitzenkleid heraus: Emmy, frisch angetraute Ehefrau des Dr. phil. Eberhard Pfister aus Berlin, Romanheld respektive Hauptfigur. Der Latein- und Griechischlehrer hatte die 19-jährige Berlinerin dazu überredet, die Flitterwochen in der väterlichen Mühle mit angeschlossenem Ausflugslokal im Weserbergland zu verbringen, kurz bevor die Stätte seiner Kindheit verkauft werden wird.
    "Ich fühle mich mehr denn je als Vater Pfisters letzter Stammgast in dem heutigen Sonnenschein und Laubbaumschatten."
    Einige Kilometer flussaufwärts liegt die Zuckerfabrik Krickerode. Sie verursacht das biologische Umkippen des Mühlbachs im idyllischen Weserbergland. Der Chemiker Adam August Asche unternimmt die Analyse des Gewässers und findet "Pilzmassen mit Algen überzogen", "Fäulnisbewohner" und Beggiatoa alba. Letztere stammen von "den Ausflüssen der Zuckerfabriken". Vater Pfister und seine alte Magd Christine, der Dichter Felix Lippoldes und noch weitere Mitstreiter nehmen mit Unterstützung des Advokaten Riechei den ungleichen Kampf gegen die Industrie-Fabrik auf.
    Asche hingegen, altphilologisch gebildet und Zögling von Vater Pfister sowie Freund des Sohnes Eberhard, hat die Zeichen der Zeit erkannt. Er setzt auf die prosperierende Industrie und die aufstrebende Reichshauptstadt Berlin. Am Ufer der grauen Spree wird er eine chemische Reinigung eröffnen. Ausgerechnet diesem Adam August Asche, dem Vertreter der neuen Zeit, vererbt Vater Pfister sein Werkzeug, die Mühlaxt.
    Müller Pfister gewinnt mit Doktor Riecheis Hilfe den Prozess gegen die Zuckerfabrik.
    "Aber Vater Pfister macht wenig Gebrauch mehr von dem durch Doktor Riechei für ihn erfochtenen Sieg. Das hätte früher kommen müssen - an jenem Tage schon, an welchem er sich zum ersten Mal fragte, wo eigentlich sein klarer Bach - der lustige, rauschende, fröhliche Nahrungsquell seiner Väter seit Jahrhunderten - geblieben sei und wer ihm so die Fische töte und die Gäste verjage. Zu lange hat zuerst der alte Mann das widerwärtige Rätsel selber sich lösen wollen."
    Das hat ihm das "Herz abgefressen", wie es heißt, der alte Müller stirbt. Eberhard Pfister wusste schon im Vorhinein:
    "Für mich aber konnte leider Gottes mein Vätererbe nichts weiter sein als ein großes Wunder der Vorwelt, ein liebes, vergnügliches, wehmütiges Bild in der Erinnerung."
    Raabe hing immer der Philister an
    Das Nachspiel in dieser Aufführung hat es in sich: Über den Köpfen des Ensembles wird quälend langsam ein riesiger triefender Ball graubraunen Unrates an einem Seil emporgezogen. Schauspielerinnen und Schauspieler verharren samt Kinderwagen bis zu den Knöcheln in einer braunen Brühe - ein tableau vivant als Moritat über die profitgetriebene Zerstörung der eigenen Lebensgrundlagen. Das Mühlrad, welches zur zerstörerischen Turbine wurde, ist nicht mehr zu sehen.
    "Wo bleiben all die Bilder?" lautet die Leitfrage des Romans, der aus 22 sogenannten "Sommerferienheften", geschrieben von Eberhard Pfister, besteht. Zu diesem Stoff angeregt hatte Wilhelm Raabe der alldonnerstägliche Spaziergang bei Riddagshausen, östlich von Braunschweig.
    Raabe, geboren 1831 in Eschershausen im Herzogtum Braunschweig, wuchs großbürgerlich in Wolfenbüttel auf. Er verfehlte zweimal das Abitur, brach eine Buchhändlerlehre ab und schrieb sich als Gasthörer an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin ein. 1854 beschloss er, als freier Schriftsteller zu arbeiten. Von Stuttgart nach Braunschweig zurückgekehrt fanden Raabe und seine Frau Bertha - allerdings zögerliche - Aufnahme bei der kulturellen Gesellschaft der Stadt. Die Ehrlichen Kleiderseller zu Braunschweig, meist nur kurz "Kleiderseller" genannt, denen Raabe angehörte, waren eine gesellschaftliche Vereinigung, die für ein (noch zu gründendes) Heimatmuseum erhaltenswerte Gegenstände der Kultur- und Heimatgeschichte aus Stadt und Land Braunschweig sammelten. Zu seinem 70. Geburtstag durfte Raabe im Braunschweiger Rathaus die Ehrenbürger Urkunde der Stadt entgegen nehmen. Aber immer hing ihm der Philister, der Spießbürger an, gegen den er sich so zu verwahren bemühte.
    In der Romantik verwendete man den Philister-Begriff in der Auseinandersetzung um Kunst und Literatur - zunächst im studentischen Kontext, später aber auch bei Brentano, Heine und Novalis. Romantische Autoren beriefen sich auf ihr unabhängiges Genie - als Philister bezeichneten sie ihre konservativen Gegner im Kulturbetrieb.
    Ausgerechnet also der alldonnerstägliche Spaziergang mit seiner Vereinigung der "Kleiderseller" zum "Grünen Jäger" löste bei Wilhelm Raabe die Idee zu seinem Roman "Pfisters Mühle" aus.
    Im Winter 1882/83 fiel den Wanderfreunden das Fischsterben in einem zunehmend trüben Bach namens Wabe auf. Bereits 1881 hatten zwei dort ansässige Mühlen einen Prozess gegen die Zuckerfabrik Rautheim angestrengt. Da einer der "Kleiderseller" als Gutachter an dem Verfahren teilnahm, konnte Wilhelm Raabe die Akten einsehen - und seinen prophetischen Roman über Hydrobiologie beginnen.
    "Der Tag kam näher, von dem die Mutter wusste, dass der Vater an diesem vorzüglich trübe und verdrießlich war, nämlich der fünfzehnte November, der Geburtstag seines unglücklichen Sohnes."
    Mit diesen Worten kündigt sich in Ludwig Tiecks Novelle "Der fünfzehnte November" aus dem Jahr 1827 eine Sturmflut bei Amsterdam an. Sie bringt, wie es in Tiecks herrlich bewegter Sprache heißt:
    "Begebenheiten, Rettungen, seltsame Anblicke, Wracks, Licht und Finsternis, Sturm und Brandung"
    Aus diesem Chaos weiß nur einer Rettung: Fritz, der vermeintlich verrückte Sohn der Kapitänsfamilie. Von allen verspottet, hat er einen Kahn gezimmert, der nun gerade noch rechtzeitig zum Einsatz kommt.
    Tendenz zum melancholischen Rückzug
    Rettung durch einen Außenseiter bei schwerem Wetter: Eine solche Geschichte musste Wilhelm Raabe, der sich auch "Jakob Corvinus" nannte, gefallen. Jahrzehnte später erklärte er den 15. November als seinen "Federansetzungstag".
    Als Kind soll Raabe eine Holzarche besessen haben. Verbürgt ist jedenfalls, dass der Tieck-Leser Raabe als Gasthörer in Berlin sein so romantisches wie sozialkritisches Debüt "Die Chronik der Sperlingsgasse" vor der Drucklegung zurückdatierte: exakt auf den 15. November 1854.
    Auf den Tag genau 56 Jahre später, am 15. November 1910, starb Wilhelm Raabe in Braunschweig - von den Zeitgenossen verehrt, in seinem an Schopenhauer geschulten Geschichtspessimismus vielleicht auch gefürchtet.
    Die Tendenz zum melancholischen Rückzug hatte sich in Raabes letzten Lebensjahren verstärkt. Nach dem plötzlichen Tod von Gertrud, der jüngsten von vier Töchtern, verfasste er das tragische "lebenswunde" Meisterwerk "Die Akten des Vogelsangs". Mit Erreichen seines 70. Geburtstags am 8. September 1901 nannte sich das Mitglied des Deutschen Nationalvereins forthin selbstironisch "Schriftsteller a. D.". Vier Jahre zuvor hatte er in einem Brief geklagt:
    "Komödianten und Literaten sollten nicht alt werden, wenn sie auf dem Seil bleiben müssen!"
    Nicht nur die Stuttgarter Aufführung von "Pfisters Mühle" von Armin Petras fand als ein szenisches Echo einen Zugang zu Raabes Werk, der die existierenden Raabe-Klischees kräftig entstaubt. 1968 hatte ein literaturwissenschaftliches Standardwerk - passend zum progressiven Geist der Zeit - eine grundlegende Neuinterpretation des Schriftstellers eingeleitet: Hermann Helmers' Aufsatzsammlung "Raabe in neuer Sicht". Es galt vor allem, Raabes Texte von dem Fluch zu befreien, dass sie von NS Propagandaminister Joseph Goebbels hochgeschätzt worden waren. Seinen Roman "Der Hungerpastor " von 1863/64, der nicht frei von antisemitischen Ressentiments ist, bezeichnete Raabe im Alter als "abgestandenen Jugendquark" und distanzierte sich davon. Dennoch hat das die Rezeption seines Werkes anhaltend belastet.
    Bernd Isele, Dramaturg am Schauspielhaus Stuttgart, bezeichnet Raabe heute als "stillen Revolutionär", der seine ruhige Erzählstimme auch bei der Abfassung von "Pfisters Mühle" bewahrt habe:
    "Der Tod des Müllers, das Ende des Dichters Lippoldes, die Ablösung der alten Welt durch eine neue - all dies geschieht irritierend geräuschlos, ruhig getrieben vom Fluss der Zeit. Dennoch trägt der Prozess, den Wilhelm Raabe beschreibt, alle Merkmale einer Revolution: Er verschlingt die Natur und die Lebensgrundlagen, vernichtet jene Menschen, die den Schritt in die Zukunft nicht mehr gehen können - und lässt die eigene Vergangenheit zu einem fernen Bild unzusammenhängender Fragmente werden."
    Damit benennt Isele etwas, dass der Schriftsteller Thomas Hettche als die "Ambivalenz von Veränderungen" beschrieben hat.
    Ein utopisches Moment des "Noch nicht"
    Thomas Hettche erhielt für seinen 2014 erschienenen Roman "Pfaueninsel" den Wilhelm-Raabe-Literaturpreis, den die Stadt Braunschweig gemeinsam mit dem Deutschlandfunk jährlich um den 15. November herum vergibt.
    "Zögernd betrachte ich ihn und überlege, ob wohl stimmen könnte, was ich von seinem Schreiben, von meinem Schreiben begreife. Die Frage ist: Weshalb gerade Raabe?"
    "Um dessen Aktualität zu begreifen, genügt es, einmal David Foster Wallace neben Wilhelm Raabe zu legen. Raabes Realismus, der von [Laurence] Sterne herkommt, findet in Wallace seine wie selbstverständliche Fortschreibung unter den aktuellen medialen Bedingungen. [...] Denn es ist Realismus weder ein Epochenbegriff noch ein Verfahren, das sich überlebt haben könnte, sondern eine literarische Haltung zur Welt."
    In seiner Dankesrede arbeitet Hettche ein unterschätztes Potenzial des Schriftstellers aus Braunschweig heraus:
    Wilhelm Raabe habe sich - zum einen - im Widerspruch zum romantischen Geniekult als Handwerker verstanden, der "Unterhaltung gegen Unterhalt" bot und seine Vita komplett in die Arbeit verlagerte.
    "Heftig polemisierte er gegen die Literatur-Unsterblichkeitsansprüche der Kollegen und setzte sein Handwerker-Selbstverständnis dagegen, inklusive Dienstjubiläen und Eintritt in den Ruhestand. Man hat das als Philistertum denunziert. [...] Er verzichtete auf sein Schicksal, das ihn im Zusammenklang mit seinen Werken interessant gemacht hätte, weil er, wie er die Aufgabe des Schriftstellers begriff, keines mehr haben konnte."
    Zum anderen wohne gerade in Raabes Abbruch- und Verfallsgeschichten - etwa in "Pfisters Mühle" - ein utopisches Moment des "Noch nicht" inne.
    "Beweglichkeit in der Zeit, [...] sein Springen vor und zurück im Erzählen, als wäre die Geschichte der Faden, der die verschiedenen Bedeutungsebenen wie Stoffe miteinander vernäht."
    Der Erzähler als Techniker, als Allwissender, als Weiser, als Zeitkritiker
    Thomas Hettche stimmt in den Tenor des Literaturwissenschaftlers Hermann Helmers ein, der nachdrücklich auf die figurativen Züge jener epischen Figur namens Erzähler im Werk von Wilhelm Raabe verwies:
    "Der Erzähler als Techniker, als Allwissender, als Weiser, als Zeitkritiker: vier Rollen, die sich mit ihren herrschenden Kategorien (Beglaubigung, Vorausdeutung, allgemeine Reflexion, Verfremdung) innerhalb der einzelnen Werke laufend durchdringen und durchaus offen sind für weitere Variationsformen. Diese Rollen bedingen eine ständige epische Ortsverlagerung der Figur des Erzählers."
    Der Erzähler als Techniker, als Allwissender, als Weiser, als Zeitkritiker: Der zeitgenössische Erzähler in Thomas Hettches Roman "Pfaueninsel" steht Raabes Finesse in dieser Hinsicht in nichts nach: Selbstsicher schreitet dieser Erzähler zwischen dem Holzschlösschen im Süden des Eilands über das Kavaliershaus bis zur Meierei im Norden sein Gelände ab. Im Verbund mit der außergewöhnlichen Fauna und Flora schlägt er die herrlichsten metaphorischen Räder.
    Die Pfaueninsel liegt in der Havel im Südwesten Berlins, 22 Kilometer entfernt von der Stadtmitte und 5 Kilometer von Potsdam. Sie war Schlossinsel und Spielwiese der Preußenkönige, Landschaftspark und Alchemisten-Labor, Ort für Schau-Handwerksbetriebe, Kaninchenzucht und Architekturträume. Friedrich Wilhelm II. initiierte dort ein Miniatur-Arkadien.
    Zu Beginn der "Pfaueninsel"-Romanhandlung, an einem Frühlingstag des Jahres 1810, nimmt der Erzähler seine Leserschaft huckepack, um der jungen Königin Luise bei der Suche nach einem verschlagenen Crocket-Ball ins Gebüsch zu folgen.
    "Eine Königin? Was ist das? Eine Märchengestalt, denken wir, und doch: dieser hier pulste das Leben am Hals und flackerte über die Wangen, hier, in der schwülen Enge der Bäume, eng um die junge Frau herumgelegt wie jenes Wort sie zu bezeichnen."
    Mit einer Frage - und einem ausgreifenden "Wir" - gemeindet er die Leser seines Romans listig in den preußischen Hofstaat ein.
    Im Gebüsch trifft Luise auf den Zwerg Christian Friedrich Strakon, der mit seiner jüngeren Schwester Marie als königlicher Pflegling auf die Insel kam. Als der vermeintliche kleine Junge mit tiefer Männerstimme spricht, schleudert ihm die entsetzte Luise das Wort "Monster!" entgegen; wenig später stirbt sie.
    "Monster!" - Dieses Wort wird die Geschwister Strakon für ihr weiteres Leben prägen. Christian endet tragisch - als sexuell hyperaktiver Faun. Die schwarzhaarige Marie wird 80 Jahre alt, doch lässt sie eine existenzielle Frage in den intimen Situationen ihres Lebens immer wieder verstört innehalten: Von Kindesbeinen an liebt sie den Neffen des Königlichen Hofgärtners und späteren Lenné-Schüler Gustav Fintelmann - doch darf sie das? Ein 1 Meter 25 großer weiblicher Däumling mit Säbelbeinen und Sattelnase?
    Erzählzeit und erzählte Zeit durchdringen sich
    Marie ersehnt sich Liebe im biblischen Sinn von "erkennen", sie möchte vor allem eines: angesehen werden. Niemand tut dies so befreiend vorurteilsfrei wie der König - Luises Witwer -, als dessen "Ding" Marie sich betrachtet und ihm deshalb einmal in eroticis pragmatisch zur Hand geht. Der Regent kann sich auf ihre Diskretion verlassen, denn Zwerge, versichert der Erzähler in Hettches "Pfaueninsel" eilfertig, Zwerge gälten seit Alters her als das "schweigende Volk".
    "Wie erzählt man, wenn Zeit erzählt werden soll?" lautet die Grundfrage - bei Thomas Hettche in seinem Roman "Pfaueninsel" genauso wie bei Wilhelm Raabe in "Pfisters Mühle". Davon leitet sich die Frage ab: Welche Färbung nimmt die Zeit durch das Erzählen ein? Bereits 1997 hatte sich Thomas Hettche in einem Essay mit dem Sehen beschäftigt, das für ihn zu den "glänzenden und farbigen Dingen" gehöre, wie er schrieb. Reflexionen über Blicke und Liebe, über weibliche Würde, über ein preußisches Jahrhundert und wie sich das Individuum Marie darin bewegt: All dies materialisiert sich wundersam auf der Pfaueninsel...
    "...an diesem Ort, der doch noch im alten Zauber steht".
    Bei Hettche sinniert der Erzähler darüber, was für die Geschichte und deren charakteristisches Zeitpanorama notwendig sei. Er spielt in Gedanken mit der Nennung zeitgenössischer Romane wie Balzacs "Glanz und Elend der Kurtisanen". Oder der Erwähnung einer angeblich tausendjährigen Königseiche:
    "Man mag sie einsetzen ins Bild, aber ist es nötig?"
    Diese reizvoll kokette Selbstbefragung des Erzählers hat der Germanist Hermann Helmers bereits bei Raabe analysiert:
    "Wie ein Regisseur reflektiert der Erzähler über technische Fragen, die in Verbindung mit seiner Aufgabe des Erzählens stehen. Mit Regiebemerkungen und mit technischen Urteilen tritt der Erzähler vor den Leser."
    Erzählzeit und erzählte Zeit durchdringen sich, gehen in "Pfaueninsel" mit Botanik und Sentiment, Theorie und Sinnlichkeit eine Verbindung ein, die auf unerwartete Weise das Heute spiegelt und die Leserschaft einer literarischen Osmose sondergleichen unterzieht. Wie ein Hoffräulein, das mit großer Lust seine Festtagsgewänder aus Seide, Brokat, Damast anlegt, schlüpft Thomas Hettche in ein vollendetes Sprachkleid aus dem 19. Jahrhundert. Da wird der Mund des Königs "zu karpfenhaftem Schweigen geschürzt". Und für die emsigen Inselgärtner gilt es, "Himbeeren und Feigen im Winter sorgsam einzuhausen".
    "Vorbei an dem Raum und an der Zeit"
    Wilhelm Raabes Roman "Pfisters Mühle " und Thomas Hettches Roman "Pfaueninsel" handeln von der Zeitenwende und wie sie Biografien zerreißt. Bei Raabe heißt es:
    "Dann redeten wir Bismarck, Kulturkampf, soziale Frage und was sonst so dazu gehört, um einen Abschiedsabend unter guten Freunden hinzubringen, ohne zu sehr zu merken, wie die Zeit läuft."
    "Wo bleiben alle die Bilder?" - Wilhelm Raabes souveräner Umgang mit der erinnerten Zeit und der Einbeziehung des Lesers "Pfisters Mühle" imponierte auch dem britisch-kanadischen Raabe-Spezialisten und Kunstmaler Barker Fairley 1961:
    "Es ist fraglich, ob er je mit größerer Kunst als hier geschrieben hat. Jedenfalls hat er seine Kunst nie mit größerem Geschick verborgen. Sein Erzählen scheint keine Methode zu haben, aber das ist, wie wir am Schlusse zugeben müssen, einfach ein Teil seiner Methode, der zum wirklichen Gewinn für das Buch wird."
    Der Romanheld Eberhard Pfister notiert in einem "Sommerferienheft":
    "Wir stiegen gerade in den Wagen, der uns mit unsern Hutschachteln und Koffern und meiner alten Christine nach der Stadt und dem Bahnhof bringen sollte, als die erste Kastanie unter der Axt fiel. Der Architekt stand am teilweise schon niedergelegten Zaun von Pfisters Garten und winkte uns mit dem Hute vergnügt nach. [...] Und dann war Pfisters Mühle nur noch in dem, was ich mit mir führte in diesem rasselnden, klirrenden, klappernden Eilzuge, vorbei an dem Raum und an der Zeit. Da brauchte ich dann wohl nicht mehr zu fragen: Wo bleiben alle die Bilder? [...] Die von ihnen, welche bleiben, lassen sich am besten wohl betrachten im Halbtraum vom Fenster eines an der bunten, wechselnden Welt vorüberfliegenden Eisenbahnwagens."
    "Vorbei an dem Raum und an der Zeit": Diese Wendung passt gleichermaßen zu Thomas Hettches "Pfaueninsel". Deren - offensichtlich heutiger - Erzähler denkt fortwährend nach über "jenes luftdünne Gespinst der Zeit selbst.".
    Und ähnlich wie der alte Pfister, den der Verlust seiner Mühle in den Tod treibt, verbindet bei Thomas Hettche das Schlossfräulein Marie Strakon ihr Schicksal gänzlich mit dem Romanschauplatz - der Pfaueninsel. Die Existenz des weiblichen Däumlings mit Säbelbeinen und Sattelnase ist verbürgt: Marie war so alt wie das Jahrhundert. Wie die "Vossische Zeitung" berichtete, kam sie am 21. Mai 1880 beim Brand des "schönen prächtigen Palmenhauses auf der Pfaueninsel bei Potsdam" ums Leben.
    Raabes ambivalentes Verhältnis zu Berlin
    Ein einziges Mal gestattet der Autor der bereits 60-jährigen Marie einen Ausflug ins heimatliche Berlin, mit der ihr bis dahin unbekannten, furchterregenden Eisenbahn:
    "Feuerland, so nannten die Berliner damals die Gegenden nordöstlich des Oranienburger Tors, in der sich in den letzten Jahrzehnten Betriebe angesiedelt hatten, wie es sie noch niemals gegeben hatte, Eisen- und Walzwerke, rauchende Schlote, feurige Essen, die Königlich Preußische Eisengießerei am Ufer der Panke, die berühmte Lokomotivenfabrik von Borsig, die Pflugsche Waggonfabrik, dann Wöhlers Maschinenbauanstalt. [...] Zu manchen Stunden des Tages wurde die Chausseestraße zum Flußbett eines Stroms von Arbeitern, ohne daß dieses Wort damals schon seinen heutigen Klang gehabt hätte. Ihr Jahrhundert begann erst."
    Das erscheint als die ideale Nachbarschaft für den "berühmten chemischen Universalfleckenreiniger, Schön- und Neufärber" Adam August Asche aus "Pfisters Mühle" mit seinem "merkwürdigen, aber gewinnbringenden Geschäft".
    In diesen Passagen zeigt sich Wilhelm Raabes ambivalentes Verhältnis zu Berlin. 1857 hatte der 26-Jährige sein Studium dort abgebrochen und kehrte nie mehr in die Stadt zurück. Auch nicht aus dem nahen Braunschweig, wo er nach beschwingten Stuttgarter Jahren ab 1870 wieder wohnte und auch sein zeichnerisches Talent pflegte. Dennoch hat Raabe nach seinem milieugenauen Debüt "Chronik der Sperlingsgasse" noch mehrere Prosawerke in Berlin angesiedelt. Topografie und Atmosphäre der Stadt gibt er, bis in den Dialekt hinein, immer wieder äußerst realistisch wieder.
    Vom "ungeheuren Berlin, das kein Farbton aufheitert" spricht der Literaturwissenschaftler Barker Fairley im Zusammenhang mit der Raabe Erzählung "Im alten Eisen". Sie beruhte auf einer Notiz aus dem "Berliner Tagblatt" von 1877: Zwei Kreuzberger Kinder hatten drei Tage lang neben ihrer toten Mutter zugebracht, ohne dass die Nachbarn Notiz davon genommen, geschweige denn geholfen hätten.
    Die Metropole wirft sowohl in "Pfisters Mühle" als auch in "Pfaueninsel" einen bedrohlichen industriellen Feuerschein auf die bukolischen Idyllen - die eine naturbelassen und dem Fortschritt geopfert, die andere auf Geheiß der Preußenkönige je nach Zeitgeschmack umgestaltet.
    Thomas Hettches "Pfaueninsel" verführt dazu, einen Rundgang wie durch die Anlage eines Englischen Landschaftsgartens zu unternehmen: ein Besuch des 19. Jahrhunderts mit all seinen Ereignissen und Geistesgrößen, Ideen und Erfindungen wie einen Park - angefangen von Hegel, der mehrfach zitiert wird, über Darwin bis Lenné, von den Befreiungskriegen gegen Napoleon bis zur Dampfmaschine, dem Eisenbahnbau und schließlich der Gründung des Deutschen Reiches.
    "Gegen Lob und Tadel hat mich ein dreißigjähriges Mitplätschern in der deutschen Literatur so ziemlich abgehärtet; aber für ein verständnisvolles, frohes Anteilnehmen wird mir allezeit Herz und Hirn offenbleiben[...]":
    Das schrieb Wilhelm Raabe 1885 an den Innsbrucker Germanisten Moritz Necker, der "Pfisters Mühle" wohlwollend in der Zeitschrift "Grenzboten" besprochen hatte. Ansonsten hatte sein "Schwanenlied auf die Romantik", wie die Zeitschrift "Nord und Süd" befand, deprimierend wenig Zustimmung gefunden; das Thema "stank" Organen wie der "Deutschen Rundschau" zu sehr, wie diese unumwunden zugab. Das lässt sich bereits als Beweis für die visionäre Modernität Raabes lesen.
    Entdeckung des Utopisten Wilhelm Raabe noch lange nicht abgeschlossen
    Dessen vielschichtigen, anspielungsreichen und zitatreichen Stil nimmt Thomas Hettche ausdrücklich vor der landläufigen Rezeption in Schutz:
    "Die Raabeforschung liest derlei gemeinhin als Zerstückelung, Fragment oder Bruch und schlägt den Autor wahlweise mit Jean Paul der Romantik oder mit Bachtin einer subversiven Literatur des Grotesken zu."
    Stattdessen erkennt er Wilhelm Raabes Bemühen um "ein sich Fügendes, nicht um Auflösung, sondern Vermittlung."
    Nonchalant und mit der Wendigkeit eines Caterpillars räumt Thomas Hettche gleich mehrere Desiderate der Raabe-Philologie aus dem Weg und beweist - gleich der Stuttgarter Inszenierung -, wie aufregend realistisches Erzählen 1884 wie 2015 sein kann.
    "Bürgerliche Radikalität" bescheinigte Wilhelm Raabe kürzlich der Literaturwissenschaftler Moritz Baßler in einem Beitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Baßler wirbt eindringlich für die Lektüre Raabes als eines höchst originellen, so großartigen wie komplexen Vertreters des Poetischen Realismus. Dabei stellt er einen ungewöhnlichen Vergleich an:
    "Mit Raabes Texten ist es wie mit römischen Kirchen oder Countrysongs: Eine(r) allein packt einen vielleicht noch nicht, aber spätestens wenn man in Serie geht, wird es spannend. Hat man die Problemkonstellation einmal erfasst, werden die einzelnen Lösungen höchst aufregend, und keine Erzählung ist hier wie die andere."
    Zum Glück ist die Entdeckung des Utopisten Wilhelm Raabe noch lange nicht abgeschlossen.