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Wilhelmshaven
Zur Kaiserzeit zur Blüte erwacht

Wilhelmshaven war und ist bis heute eine von der Marine geprägte Stadt. Städtebaulich profitierte sie von der Aufrüstung der Marine unter Kaiser Wilhelm II. Während des Zweiten Weltkriegs wurden zwar viele Bauten aus der Kaiserzeit zerstört - im Stadtbild finden sich aber auch heute noch Reminiszenzen an Berlin.

von Godehard Weyerer |
    Die 159 Meter lange Kaiser-Wilhelm-Brücke in Wilhelmshaven wurde Anfang des letzten Jahrhunderts zwischen 1905 und 1907 als größte Drehbrücke Deutschlands erbaut. Sie ist das Wahrzeichen der Stadt Wilhelmshaven.
    Die Kaiser-Wilhelm-Brücke ist das Wahrzeichen der Stadt Wilhelmshaven. (picture alliance / dpa / Klaus Nowottnick)
    Viel Feind, viel Ehr - einer dieser markigen Sprüche aus der Zeit, als Wilhelm Kaiser war und Deutschland hoch hinaus wollte und die kaiserlichen Untertanen sich auf fabelhafte Tugenden einschwören und an ihre eigene Überlegenheit glauben sollten. Das passt so gar nicht in die Welt des Jens Graul, obwohl er, der bis zu seiner Pensionierung das Kulturdezernat der Stadt leitete und heute die SPD im Rat vertritt, sich in architektonischer Hinsicht auf das wilhelminische Erbe in Wilhelmshaven beruft.
    "Wir laufen gerade durch den alten Kurpark der Stadt - ein Areal, das in den 70er-, 80er-Jahren des 19. Jahrhunderts erschlossen wurde als Stadtpark für das preußische Wilhelmshaven."
    Den Zugang zur Parkanlage säumt ein mächtiger Wohnblock, dreistöckig, hellgrau verputzt, große Balkons unter hohen Bögen, die Außenfassade im schlichten Jugendstil – kein Stuck, keine ausladenden Außentreppen. Als Bauherr, erzählt Jens Graul, verabscheute Wilhelm II. eine überbordende, verschnörkelte und protzige Fassadenarchitektur. Nach Ansicht des Kaisers würde sich hiermit bestenfalls das neureiche Bürgertum in Szene setzen. Erbaut wurde der Wohnblock um 1907, eine Mietsvilla mit geräumigen Wohnungen inclusive Gesindezimmer, Offiziere seiner kaiserlichen Marine wohnten hier mit ihren Familien.
    Reitwege für die Offiziere der Marine
    "Man wundert sich ja, dass auch Marineoffiziere reiten können müssten, also mussten sie auch eine Gelegenheit haben auszureiten. Und es gibt heute noch nachvollziehbare Reitwege und Routen, die damals von den Offizieren zum Ausreiten genutzt wurde."
    Wassergräben, Hecken und andere Hürden, die das militärische Vielseitigkeitsreiten zur Herausforderung für Ross und Reiter machen, fehlten im Park. Die Herrschaften, sagt Jens Graul, ritten hier bloß geradeaus. Der Kurpark, heute ein beliebtes Naherholungsgebiet, ist schnell durchschritten. An seiner Südflanke mündet er wie schon zu Kaiserszeiten in einen langgezogenen Grünstreifen.
    "Hier stand das Admiralitätsgebäude am Kopf dieser großen, repräsentativen Achse, die wir Adalbertstraße nennen, nach Prinz Adalbert von Preußen, und am anderen Ende steht die Kirche. Beiderseits dieser Achse mit dem obligatorischen Reitweg in der Mitte befanden sich hauptsächlich Wohnungen von Offizieren und hochgestellten Bürgerlichen und natürlich Dienstvillen, Oberwerftdirektor und was eben so dazugehört."
    Die Besatzung des Flagschiffs der 1. Linienschiffsdivision "Kurfürst Friedrich Wilhelm". Die 1. Linienschiffsdivision verließ am 11. Juli 1900 Wilhelmshaven, um sich an der Niederschlagung des Boxeraufstands in China zu beteiligen.
    Die Besatzung des Flagschiffs der 1. Linienschiffsdivision "Kurfürst Friedrich Wilhelm". Die 1. Linienschiffsdivision verließ am 11. Juli 1900 Wilhelmshaven, um sich an der Niederschlagung des Boxeraufstands in China zu beteiligen. (picture alliance / dpa)
    An Wilhelm II. scheiden sich die Geister
    Die Garnisonskirche steht noch, das Admiralitätsgebäude wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört, ebenso die Villen, die die Adalbertstraße einst säumten. Geblieben sind breiter Grünstreifen, beidseitig angrenzende Fahrbahnen, mehrreihige Alleebäume: für Jens Graul eine klare Reminiszenz an die Berliner Straße Unter den Linden.
    "Tatsache ist, der Architekt Gotthilf Hagen, der diesen ersten Stadtplan gezeichnet hat, hat bei Schinkel gelernt, der kam aus der gleichen Hochschule beziehungsweise Bauakademie in Berlin wie seine ganze Generation. Er hatte natürlich militärische Vorgaben, was er alles unterbringen sollte. Aber er hat das, wie es eben üblich war, auf eine gestalterisch, sehr klassizistische Art gelöst. Da wurde auch nicht lang diskutiert. Es war eben so."
    An der Person Wilhelm II. scheiden sich die Geister. Für die einen bleibt er der säbelrasselnde, geltungssüchtige Kriegstreiber, der nichts als die Marine im Kopf hatte, wie sich die Kaisermutter recht abfällig über ihren ältesten Sohn einmal ausließ und ansonsten ihm zeitlebens weder Liebe noch Anerkennung schenkte. Andere wie der Kreis um die Wilhelmshavener Gesellschaft für wilhelminische Studien, dem auch Jens Graul angehört, schätzen den Monarchen als durchaus klugen, gütigen und bescheidenen Mann, den modernen Wissenschaften und der Technik aufgeschlossen, bemüht um wahre Freundschaft und offen für die Nöte der Menschen um ihn.
    "Jetzt gehen wir zum alten preußischen Wasserturm von 1872."
    Frisch renoviert steht er da. Ein Bürgerverein und die besagte Gesellschaft für wilhelminische Studien haben hier ihre Seminar- und Tagungsräume. Die wilhelminischen Kulturwerte gilt es laut Satzung in der Stadt zu erhalten und die Geschichte des wilhelminischen Zeitalters zu bewahren. Entworfen wurde die Stadt am Reißbrett. In der ersten, bescheidenen Bauphase fertiggestellt war sie 1869.
    Die Marine, ein Kind der Demokratie
    "Wasser war ein großes Problem hier. Es gab im Jadegebiet nichts auf Grund der Tatsache, dass unterirdisch die Wasserhorizonte versalzen waren, das war etwas, was man bei der Anlage der Stadt überhaupt nicht im Kalkül hatte. Das führte dazu, dass in den ersten Jahren der Ansiedlung das Trinkwasser mit Schiffen hergebracht werden musste. Katastrophale Zustände. Dann hat man hier angefangen zu bohren und hat man gedacht, hier hat man's. Dann ist dieser Wasserturm gebaut worden Anfang der 1870er Jahre. Nach relativ kurzer Zeit war das Vorhaben schon verbraucht, erst zur Jahrhundertwende sind große, sogenannte Marinewasserwerke in der Geest entstanden, die dann in der Lage waren, mit großen Fernleitungen das Wasser zu fördern, was die Marine und auch die Stadt brauchte."
    Ihren Anfang nahm die Marine in Deutschland an einem 14. Juni. Am 14. Juni 1848 beschlossen die Parlamentarier der Frankfurter Paulskirche, eine Flotte zu gründen. Sie sollte gesamtdeutsch sein, unter der schwarz-rot-goldenen Flagge aller Welt die neugewonnene Souveränität des geeinten und demokratischen Deutschlands demonstrieren, und unter Auftrag und Kontrolle des Parlaments stehen.
    Schiffe der Deutschen Marine liegen im Marinestützpunkt Wilhelmshaven.
    Schiffe der Deutschen Marine liegen im Marinestützpunkt Wilhelmshaven. (AP)
    "Das überrascht viele Leute. Man verbindet Marine normalerweise mit imperialen Staatsstrukturen. Die Bundesflotte, also der Vorläufer der heutigen Marine, 1848 von der Paulskirchen-Versammlung im Rahmen der ersten großen deutschen Demokratiebewegung gegründet wurde. Insofern kann man sagen, die Marine als Kind der Demokratie, auch wenn es sich danach ganz anders dargestellt hat. "
    Aber wie kam die Marine nach Wilhelmshaven?
    Großer Aufschwung in den Jahren nach 1890
    "Es gab eine technische Marinekommission, eine Untergliederung dieser provisorischen Versammlung rund um die Paulskirche, Vorsitzende war Prinz Adalbert von Preußen. In der Tat hatten die beteiligten Küstenländer nichts Adäquates anzubieten. Man hat sich infolgedessen Standorte angeguckt und damals schon festgestellt, dass die Gegend um das heutige Wilhelmshaven aufgrund der Fahrwasserbedingungen und des völligen Fehlens von Zivilisationen, sprich Ablenkung des Militärs, hervorragende Bedingungen."
    Benannt wurde die Stadt nach Wilhelm I., dem Großvater von Wilhelm II. Den großen Aufschwung erlebte die Stadt in den Jahren nach 1890, als der Kaiser im festen Glauben, Deutschland dürfte sich mit dem Erreichten nicht zufrieden geben, eine Marine zulegte, die der britischen in nichts nachstehen sollte. Wilhelm II. suchte die Konfrontation und machte sich alle Welt zum Feind. Wilhelmshaven profitierte davon. Die Marinegarnisonsbauämter bauten, was die Zeit hergab: Kasernen, Exerzierhallen, Schiffbauhallen, Kraftwerke, Marinelazarett.
    "Wir nähern uns dem Werfttor 1, dem Haupteingang zur Werft."
    Typische Industriearchitektur aus der Gründerzeit - dunkelroter Klinker, versetzt mit schmalen, braunen Steinschichten, die die Fassade horizontal durchziehen; runde Fensterbögen, Kopfsteinpflaster in der zweispurigen Tordurchfahrt, in der ein gusseiserner, gelblackierter Briefkasten mit stilisiertem Hermeskopf hängt. In zeitgenössischer Schrift ist die Uhrzeit der täglichen Leerung zu entziffern.
    Auf dem Kaisergleis direkt zur Werft
    "Das ist DER Briefkasten aus der Kaiserzeit. Ein Zeitzeuge, an dem tausende von Werftarbeitern vorbeigegangen sind. Bis vor wenigen Jahren lag hier noch ein Gleis im Boden, hier wo es gepflastert ist, dieses Gleis führte durch einen Nebeneingang am Tor vorbei und kam, man sieht es fast noch, durch dem Friedrich-Wilhelm-Platz vom Bahnhof her. Das war eine Direktzufahrt von der Hauptstrecke in die Werft hinein, die im Volksmund auch das Kaisergleis genannt wurde, weil es durchaus vorkam, dass W 2 mit seinem Hofzug aus Berlin oder Bremen kommend direkt durchgefahren ist, um die Liegeplätze seiner Jacht oder eines seiner Kriegsschiffe zu erreichen, um dort dann an Bord zu gehen."
    Nachgewiesenermaßen 50 mal war Wilhelm II in der Stadt, die unbestrittener Weise unter seiner 30-jährigen Amtszeit zu einer Blüte erwachte wie wohl kaum eine andere Stadt im Deutschen Reich. Ein standesgemäßes Zuhause für die Flotte seiner Majestät sollte sie sein. An den Gebäuden, die heute noch stehen, sind Tafeln angebracht, auf denen nebst altem Lageplan die ursprüngliche Nutzung erläutert wird. An der Straßenecken erinnern Schilder ab die Straßennamen der wilhelminischen Epoche. Die Weserstraße hieß ehedem Kaiserstraße, parallel dazu verlief die Roonstraße, heute Rheinstraße. Aus der Kasernenstraße wurde, weniger verfänglich, die Saalestraße. Allein das Wahrzeichen der Stadt firmiert unter altem Namen.
    "Wir gehen die Kaiser-Wilhelmsbrücke hoch, die Rampe und passieren von hinten die Südzentrale."
    Aus einem nahezu völlig erhaltenen Straßenzug heraus führt die Rampe zur Brücke empor. 1907 wurde sie eröffnet.
    Zwei Linienschiffe konnten sich unter der Brücke begegnen
    "Bei der Einweihung war er nicht dabei, obwohl er seinen Namen trägt, hat er von der Brücke wohl nicht so richtig Notiz genommen, jedenfalls ist nichts überliefert."
    Links neben der Rampe liegt das Heiz- und Elektrizitätswerk der Werft. 1988 wurde es stillgelegt und verfällt seitdem - eingeschlagene Scheiben, kaputtes Dach, das Gebälk ist Wind und Wetter schutzlos ausgesetzt. Ein trauriger Anblick. Im Gegensatz zur Brücke - dem Stolz der Stadt, dem Highlight der wilhelminischen Epoche in Wilhelmshaven. Die Stadtväter ließen das Bauwerk vor kurzem erst für sieben Millionen Euro grundsanieren. Seither zieht die Brücke, wie einst bei ihrer Eröffnung im kräftigen Blau lackiert, die Blicke auf sich.
    "Die Brücke ist so breit dimensioniert worden, dass zwei Linienschiffe sich begegnen konnten von der Durchfahrtsbreite her und war zu dem Zeitpunkt die größte Drehbrücke Europas, bis in Brest eine noch größere Brücke gebaut wurde, aber war schon eine technische Besonderheit in jener Zeit."
    Mit dem Matrosenaufstand begann in Revolution
    Die kaiserliche Flotte, der Wilhelmshaven alles verdankte, rückte während des 1. Weltkrieges ein einziges Mal aus - 1916 zur Skagerrak-Schlacht, einem Kräftemessen mit der britischen Navy, die wohl unentschieden ausging, weil beide Seiten den Sieg für sich reklamierten. Ansonsten verharrten die Kriegsschiffe Ihrer Majestät all die Jahre untätig in Wilhelmshaven. Zum Schluss, als der Krieg längst verloren war, wollte es die Admiralität noch einmal wissen und ließ die Anker zur Entscheidungsschlacht lichten. Die Matrosen aber meuterten. Die November-Revolution nahm ihren Lauf - zuerst in Wilhelmshaven, wenige Tage später in Kiel.
    "Es gibt Schauplätze, die auch belegt sind, es gibt leider keine Plätze, wo man sagen kann, so da war es jetzt. Aber wir sind dabei, es mit Hinblick auf das 100jährige 18/19 aufzuarbeiten - zusammen mit Kiel, weil wir schon meinen, dass die Ereignisse eben dann zur ersten deutschen Demokratie geführt haben, dann sollte man den Ausgangspunkt nicht zu niedrig hängen. Also, wir werden da auch mehr machen, auf dem Ehrenfriedhof gibt es einen Erinnerungsstein an den Aufstand. Das Ganze, würde ich sagen, ist noch ausbaufähig, ist noch Luft nach oben."
    Eine von der Marine geprägte Stadt war Wilhelmshaven und ist sie bis heute geblieben. Befehlsverweigerung und Fahnenflucht stehen da nicht hoch im Kurs. Mit der Meuterei der Matrosen auf den vor Wilhelmshaven auf Reede liegenden kaiserlichen Kriegsschiffen könnte sich die Stadt gleichermaßen schmücken wie mit ihrer Vergangenheit als Stützpunkt der deutschen Flotte, die nach der Niederlage im 1. Weltkrieg an Großbritannien ausgeliefert wurde und sich, wohl um die Ehre vor dem Feind zu retten, im schottischen Hafen Scapa Flow selbst versenkte. Ein vergleichbares Schicksal blieb Wilhelmshaven zunächst erspart. Erst 1945, nachdem Deutschland ein zweites Mal vergeblich zur Weltmacht griff, versank die Stadt am Jadebusen zu großen Teilen in Schutt und Asche. Was stehen blieb und die Engländer nicht sprengten, erzählt von einer Stadt, die zwar immer noch Marinestützpunkt ist, jedoch an die turbulente und unbesorgte Blütezeit der wilhelminischen Vorkriegsjahre nicht mehr anknüpfen konnte.