Halten, Greifen, Aufhalten. Festhalten, Anhalten, das sind die Bewegungen der Katastrophe. Die Hände sind weit vom Körper gespreizt, immer in Bereitschaft, zu handeln. Einer der zwölf Tänzer schlägt mit der Handfläche auf den Boden, und alle starren erschrocken nach oben - zum tief herabhängenden Bühnenhimmel, der doch nur diffuses Licht nach unten durchgibt. Blitzartig verharren sie, dann rennen alle durcheinander, prallen zusammen, frieren ein wie in einem Video-Still: Ein Trio. Mit einem Mann, der die Schultern einzieht, an seinem Kopf klebt die Hand eines anderen Mannes, seitlich neben ihm. Hat der ihn gerettet? Oder im Gegenteil: Bedroht? Geschlagen? Festgenommen? Wie ist es zu dieser Momentaufnahme gekommen? Wir können es nicht nachvollziehen, denn die Tänzer schlüpfen immer wieder aus und in Posen, als wollten sie sich aus einem Bild davonstehlen oder mitten hinein.
Die Bilder der Katastrophen unserer Zeit, sie sind x-mal bearbeitet. Davon handelt William Forsythe's neues Stück "Clouds after Cranach". Wie auf einem Rückgrat sitzt das Publikum im Bockenheimer Depot, und nach einer halben Stunde Tanz drehen wir uns um, um den anderen Raum sehen zu können: Den, aus dem jetzt Stimmen dringen. "Mein Sohn wurde verhaftet", erzählt eine Frau. Sie kauert links auf einem Stuhl, während in der rechten Ecke ein Mann über Bücher gebeugt an einem Tisch sitzt und versucht, ins Arabische zu übersetzen. "Erzählen Sie mir nur, was Sie übersetzt haben wollen", ruft er immer wieder ungeduldig, doch die Frau wird aufgeregt, erinnert sich an die Straße, die rennenden Menschen, die Rakete, die einschlug, die uniformierten Männer, ihren Sohn, der die Schaufel nahm und - die Tochter ihrer Schwester, die - und die Kinder wollten doch nur - ". Und irgendwann dreht sie ganz auf, die fantastische Tänzerin und Schauspielerin Jone San Martin: Knallt die Worte heraus, schleift andere würgend aus ihrem Körper, schluchzt auf einer gehaltenen Silbe als laufe hier ein Tonschnitt mitten durch die Szene. Und binnen fünf Minuten sind wir zu Tode erschrocken und verstehen allmählich Bruchstücke dieser tragischen Geschichte. Die ganze Zeit schon tanzte David Kern in der Tiefe des von Schnüren durchzogenen Raumes, und sprach die Farben einzelner Pixel aus als Anhaltspunkte für das Bild: orange, grau, weiß, weiß. Er tanzt zwischen den Kreuzungspunkten dieser Schnüre und erklärt sie zunehmend: "Nummer Fünf. Mutterfigur. Punkt, an dem der Stein von der Schaufel des Kindes abgelenkt wurde und den Polizisten traf."
Am Ende beschwichtigt der Übersetzer die Frau: Da war doch Rauch. Ihre Augen waren bestimmt wässrig. Sie konnte doch bestimmt nichts sehen. Und die Frau fragt nur noch geistesabwesend: "Nichts? Was heißt nichts?" Und dann wiederholt sie von seinen Lippen das arabische Wort für "Nichts" im untergehenden Licht.
Beim Hinausgehen sehen wir noch zwei Bilder: Eines ist von Lukas Cranach, es zeigt die Klage Magdalenas unter dem Kreuz. Rechts türmen sich Wolken, ebensolche wie die Wolken im Farbfoto rechts daneben. Es stammt von der Agentur Reuters und zeigt Rauchwolken explodierender Autos, vier Männer tragen einen Körper in Richtung Betrachter. Fünfhundert Jahre liegen zwischen beiden Bildern, doch was heißt das schon, wenn es um die Perspektive geht, um das Eine, das zählt, als ein Abstand zwischen zwei Dingen. Das unübersetzbar ist, und doch nur eine unvollkommene Scherbe aus einem Größeren.
"Clouds after Cranach" ist der soeben fertiggestellte dritte Teil des Abends "Three Atmospheric Studies". Und es ist mit das Beste, was im Tanz in diesem Jahr zum Thema Krieg produziert wurde. Neben all den modischen oder harmlosen Versuchen etwa einer Constanza Macras oder Sasha Waltz - bleiben nur wenige, die wie Forsythe eine fundierte Haltung haben zum Krieg als Grundlage unseres Denkbodens.
Die Bilder der Katastrophen unserer Zeit, sie sind x-mal bearbeitet. Davon handelt William Forsythe's neues Stück "Clouds after Cranach". Wie auf einem Rückgrat sitzt das Publikum im Bockenheimer Depot, und nach einer halben Stunde Tanz drehen wir uns um, um den anderen Raum sehen zu können: Den, aus dem jetzt Stimmen dringen. "Mein Sohn wurde verhaftet", erzählt eine Frau. Sie kauert links auf einem Stuhl, während in der rechten Ecke ein Mann über Bücher gebeugt an einem Tisch sitzt und versucht, ins Arabische zu übersetzen. "Erzählen Sie mir nur, was Sie übersetzt haben wollen", ruft er immer wieder ungeduldig, doch die Frau wird aufgeregt, erinnert sich an die Straße, die rennenden Menschen, die Rakete, die einschlug, die uniformierten Männer, ihren Sohn, der die Schaufel nahm und - die Tochter ihrer Schwester, die - und die Kinder wollten doch nur - ". Und irgendwann dreht sie ganz auf, die fantastische Tänzerin und Schauspielerin Jone San Martin: Knallt die Worte heraus, schleift andere würgend aus ihrem Körper, schluchzt auf einer gehaltenen Silbe als laufe hier ein Tonschnitt mitten durch die Szene. Und binnen fünf Minuten sind wir zu Tode erschrocken und verstehen allmählich Bruchstücke dieser tragischen Geschichte. Die ganze Zeit schon tanzte David Kern in der Tiefe des von Schnüren durchzogenen Raumes, und sprach die Farben einzelner Pixel aus als Anhaltspunkte für das Bild: orange, grau, weiß, weiß. Er tanzt zwischen den Kreuzungspunkten dieser Schnüre und erklärt sie zunehmend: "Nummer Fünf. Mutterfigur. Punkt, an dem der Stein von der Schaufel des Kindes abgelenkt wurde und den Polizisten traf."
Am Ende beschwichtigt der Übersetzer die Frau: Da war doch Rauch. Ihre Augen waren bestimmt wässrig. Sie konnte doch bestimmt nichts sehen. Und die Frau fragt nur noch geistesabwesend: "Nichts? Was heißt nichts?" Und dann wiederholt sie von seinen Lippen das arabische Wort für "Nichts" im untergehenden Licht.
Beim Hinausgehen sehen wir noch zwei Bilder: Eines ist von Lukas Cranach, es zeigt die Klage Magdalenas unter dem Kreuz. Rechts türmen sich Wolken, ebensolche wie die Wolken im Farbfoto rechts daneben. Es stammt von der Agentur Reuters und zeigt Rauchwolken explodierender Autos, vier Männer tragen einen Körper in Richtung Betrachter. Fünfhundert Jahre liegen zwischen beiden Bildern, doch was heißt das schon, wenn es um die Perspektive geht, um das Eine, das zählt, als ein Abstand zwischen zwei Dingen. Das unübersetzbar ist, und doch nur eine unvollkommene Scherbe aus einem Größeren.
"Clouds after Cranach" ist der soeben fertiggestellte dritte Teil des Abends "Three Atmospheric Studies". Und es ist mit das Beste, was im Tanz in diesem Jahr zum Thema Krieg produziert wurde. Neben all den modischen oder harmlosen Versuchen etwa einer Constanza Macras oder Sasha Waltz - bleiben nur wenige, die wie Forsythe eine fundierte Haltung haben zum Krieg als Grundlage unseres Denkbodens.