
"Horror And Delight" beschreibt auch die Kurzversion der Entstehungsgeschichte zu dieser Schau. Schuld ist natürlich der Brexit, der so dröhnend über den Bildern schwebt, weil der größte Teil der achtzig Werke aus der Tate Gallery in London entliehen ist. Nach dem Horror im britischen Unterhaus hängt in Münster nun aber ohne Zollprobleme die reine Freude an der Wand.
In Turners Jugendjahren ist Europa auch in Aufruhr. Die Französische Revolution und die Napoleonischen Kriege markieren nur die Spitzen. Turner ist Patriot, und malt heroische Schlachtenbilder, aber mehr noch spielt der Gegensatz von Natur und Kultur, der gerade mit dem Erstarken der Wissenschaften bedeutsam wird, eine große Rolle.
"Es geht bei ihm in seinen Gemälden eigentlich immer um Wahrnehmung, also die Wahrnehmung eines bestimmten Momentes."
Judith Claus, Kuratorin der Ausstellung.
"Wenn Sie eine See-Ansicht haben: Das ist der Blick auf die See. Aber man sieht dann nicht den Strand und die Wasserfläche und den Himmel, sondern auch das Dazwischen, also den Dunst und die Luft. Also all das, was im Grunde vom Betrachter-Auge bis zum Gegenstand führt. Und das macht diese Gemälde so atmosphärisch."
Urgewalt und Vergänglichkeit
William Turner malt die Natur wie niemand vor ihm. Er fängt den Morgendunst ein, den Nebel oder die spritzende Gischt – so, als ob man mittendrin steht. Das gleißende, fast blind machende Sonnenlicht. Das Meer, das Wetter, die Berge sind eine Urgewalt, die versucht, das Unbedeutende und Vergängliche des Menschen schauerlich-schön begreifbar zu machen. Prägend ist für ihn dabei der Begriff des Erhabenen von Edmund Burke:
"Burke war derjenige, der Mitte des 18. Jahrhunderts - also von 1757 ist seine Schrift - der das Erhabene beschrieben hat im Unterschied zum Schönen. Und das Erhabene ist alles das, was groß ist, dunkel, großartig, aber auch eine gewisse Kühle hat und dunkel ist.
Joseph Mallord William Turner, schon mit 20 Jahren ein Meister der Technik und der kunsthistorischen Stile, malt das Schöne aus dem Handgelenk. Noch mehr aber interessiert ihn Natur als latente Bedrohung, die dem Betrachter seiner Bilder bis heute einen Schauer über den Rücken fahren lässt. 1802 hat er durch den Frieden von Amiens mit 27 Jahren erstmals die Möglichkeit, nach Frankreich und in die Schweiz zu fahren. In den Alpen findet er das Szenario, das er sucht: Die raue und damals noch schwer zugängliche Bergwelt.
"Das war nicht ungefährlich. Und einen Landschaftsmaler interessieren natürlich keine flachen Landschaften, sondern es sind die Berge. Die hat Turner auch schon in Großbritannien bereist. Aber natürlich, die Schweizer Bergwelt hat ja im Grunde die Motive ihm geliefert, die für einen Landschaftsmaler interessant sind."
Liebliche Berge und radikale Seebilder
Turner malt einen gewaltigen Felssturz, ein Baum knickt wie ein Streichholz, man hört förmlich die brachiale Gewalt. Und nur wer näher hinschaut, sieht fliehende Menschen, die kaum eine Chance zu haben scheinen. Der legendenumwobene Eingang zur Via Mala-Schlucht sieht bei ihm aus wie das Tor zum Hades. Als er in den Vierziger-Jahren mehrere Sommer in der Schweiz verbringt, malt er aber auch die lieblichen Motive: Berge zu jeder Tagesstimmung, im Spätwerk mit kaum erkennbaren Konturen. Radikal dann seine Seebilder, in denen nur noch Farbe und kein Umriss mehr eine Rolle spielt. Der mehr als 125 Jahre später geborene Mark Rothko, einer der Hauptvertreter des Abstrakten Expressionismus, soll launig gesagt haben, Turner habe viel von ihm gelernt.
Aber Joseph Mallord William Turner wusste schon selbst, was er seinem Publikum schuldig war, und malte 1840 eine Venedig-Ansicht, die auf die berühmten Ansichten Canalettos verweist.
"Canaletto war derjenige, der im Grunde Erinnerungsbilder geschaffen hat für die Briten, die sie auf der Grand Tour mit nach Hause genommen haben. Darauf bezieht sich Turner, und dieses Beziehen und sich Messen bedeutet immer eine Art Konkurrenzkampf. Er will zu verstehen geben: Ich kenne das, ich bin auf einer Augenhöhe. Aber ich übertreffe meine Vorgänger auch."
Kluge Anordnung und Brexit Kommentar
Turner galt als nicht gerade bescheiden, aber man versteht bei dieser fulminanten Ausstellung auch warum: Wo andere Maler auf Effekt setzen, ist er subtil – das zeigen die klug ausgewählten Gemälde von Zeitgenossen aber auch Malern anderer Epochen , die Turner zur Seite gestellt werden. Die Gliederung in sechs chronologisch aufeinanderfolgende Bereiche zeigt anhand von Meeres- oder Bergansichten, von romantischen Venedig-Bildern bis Industrieszenarien, wie der Maler nach dem Wesen, dem Kern einer Ab-Bildung sucht. Die letzten Bilder, die die Apokalypse der Sintflut zeigen, lesen sich heute zwangsläufig wie ein Brexit-Kommentar. Eine Katastrophe - aber auch das geht vorbei.