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Willkommen zum Skandal 2.0

Nach dem Übergang von der analogen zur digitalen Welt, gilt die Skandal-Mechanik 2.0. Jetzt kann jeder mitmischen. Als Urheber eines Skandals, oder auch in der Rolle desjenigen, über den die Empörungswelle hinwegrollt. Der Skandal im digitalen Zeitalter ist entfesselt - behaupten Bernhard Pörksen und Hanne Detel.

Von Stephanie Rapp und Käthe Jowanowitsch | 04.06.2012
    "Meine von mir verfasste Dissertation ist kein Plagiat, und den Vorwurf weise ich mit allem Nachdruck von mir."

    Es war einer der spektakulären Skandale der jüngeren Vergangenheit: Im Februar 2011 sah sich Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg, damals noch Bundesverteidigungsminister, profilierter CSU-Außenpolitiker und Hoffnungsträger der Union, mit dem Vorwurf konfrontiert, seine Doktorarbeit in großen Teilen abgeschrieben zu haben. Zwischen dem ersten Leugnen und seinem Rücktritt von allen Ämtern lagen nur wenige Tage.

    "Hier handelt es sich um einen massiven Absturz. Jemand, der sehr schnell aufgestiegen ist, als Lichtgestalt verehrt wurde von den Boulevardmedien, aber nicht nur, dann ganz plötzlich abgestürzt ist, nachdem man entdeckt hatte, er hat seine Doktorarbeit nicht selbst geschrieben. Er hat sie plagiiert, er hat sie collagiert. Und er hat dann den enormen Fehler gemacht, dies alles nicht zuzugeben, sondern bis zum heutigen Tage zu leugnen."

    Seit Jahren beschäftigt sich der Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen mit der Anatomie von Skandalen. 2009 hat er zusammen mit "brand eins"-Redakteur Jens Bergmann das Buch "Skandal. Die Macht öffentlicher Empörung" herausgegeben. Jetzt legt er zusammen mit seiner Co-Autorin und Mitarbeiterin Hanne Detel eine Fortsetzung vor: "Der entfesselte Skandal. Das Ende der Kontrolle im digitalen Zeitalter". Die zentrale These: Im Schatten der wachsenden Neigung zur Empörung bildet sich ein völlig neues Skandalschema heraus. Die Autoren nennen es "entfesselt", weil es nicht mehr gebunden ist an die Funktionsweise der analogen Medienwelt. Drei Merkmale sind es, die den "entfesselten" vom klassischen Skandal unterscheiden: Erstens: Enthüller sind nicht mehr nur Journalisten. Das bisher passive Publikum wird selbst zum Akteur.

    "Wir sind heute alle mit Smartphones ausgestattet, wir sind mit den Web-2.0-Formaten vertraut. Das heißt, die Skandalisierungsinstrumente liegen auch in den Händen aller."

    Zweitens: Dank dieser neuen Technologien - Pörksen und Detel nennen sie "indiskrete Technologien" - haben sich die Verbreitungswege buchstäblich ins Unendliche vervielfältigt.

    "Es gibt ein plötzliches Missgeschick, einen Ausrutscher, ein paar falsche Sätze am Rande irgendeiner Veranstaltung ( ... ) all dies lässt sich nun medial mit maximaler Wirkung spiegeln und zum dauerhaft abrufbaren Dokument der Blamage und des eigenen Scheiterns machen."

    Drittens: Opfer sind nicht nur Menschen des öffentlichen Lebens, die bei einem Normverstoß ertappt werden. Jeder kann Opfer sein. Die Fallhöhe spielt keine Rolle mehr.

    "Es sind nicht mehr nur Mächtige und Prominente, die in Skandale verwickelt werden. Auch Nichtigkeiten, Normverletzungen Einzelner, die uns gänzlich irrelevant und unbedeutend erscheinen mögen, können mit der geballten Macht des Web 2.0 unter Umständen vor einem Weltpublikum – und das ist das entscheidend Neue – skandalisiert werden."

    In fünf Kapiteln fächern die Autoren ihre These vom "entfesselten" Skandal auf und illustrieren die Merkmale mit markanten Beispielen. Der Fall Guttenberg dient ihnen als Beleg für die neue Macht des Publikums. Was zunächst ganz klassisch mit einer Enthüllungsstory in der "Süddeutschen Zeitung" über geistigen Diebstahl des Adeligen begann, nahm binnen kürzester Zeit rasant an Fahrt auf: Aus einem Rechercheur wurden über Nacht Tausende. Ein Schwarm von Plagiatsjägern arbeitete zeitgleich an der Decouvrierung des Ministers und veröffentlichte im Minutentakt Nachweise für kopierte Stellen auf einer im Internet eingerichteten Wiki-Plattform. Bis heute sind ähnliche Plattformen aktiv, wie jüngst wieder im Fall der Doktorarbeit von Bundesbildungsministerin Annette Schavan.

    Wie schnell jeder zum Opfer werden kann, demonstrieren die Autoren unter anderem anhand der Geschichte einer chinesischen Sprachstudentin in den USA. Während einer Tibetdemonstration versucht sie zwischen den Fronten zu vermitteln, wird dabei mit dem Handy gefilmt und kurz danach im Internet als Vaterlandsverräterin diffamiert.

    Die Unbeherrschbarkeit digitaler Daten zeigen Pörksen und Detel am Beispiel der Folterfotos aus dem US-Gefangenenlager Abu Ghraib. Die Aufnahmen vom Kapuzenmann oder der Pyramide aus nackten Menschenleibern, von den Folterern zunächst untereinander weitergereicht, wurden durch die Verbreitung im Netz zu unwiderlegbaren Beweisen und machten die Betrachter weltweit zu Augenzeugen skandalöser Verbrechen. Am Ende des Buches fragen die Autoren nach dem Muster, das die auf den ersten Blick sehr unterschiedlichen Beispiele verbindet. Sie schreiben:

    Die Antwort lautet, dass es die Erfahrung eines elementaren Kontrollverlustes ist, die als ein gemeinsames Meta-Muster gesehen werden kann. In die falschen Kanäle geratene Mails und Fotos, Interviewsequenzen, Passwörter und Handyvideos, SMS-Botschaften und Twitter-Meldungen beenden, so zeigt, sich Karrieren und besiegeln ein Schicksal. Was immer digital vorliegt, kursiert womöglich eines Tages unkontrolliert, wird von einer nicht mehr kontrollierbaren Zahl von Menschen rezipiert, kommentiert und kombiniert, in seiner Bedeutung verändert, in gänzlich neue Zusammenhänge eingebettet und immer wieder aktualisiert und erneut propagiert.

    "Der entfesselte Skandal" konfrontiert mit einer Medienentwicklung, die - so Pörksen - ihre eigene Schönheit und ihren eigenen Schrecken besitzt. Denn:

    Wessen Geschichte zählt? Die des von einem Cybermob ruinierten Opfers oder die Geschichte des arabischen Frühlings, der Twitter und Facebook und den Möglichkeiten der effektiven Schwarmbildung so entscheidende Anstöße verdankt?

    Die Autoren enthalten sich in ihrer Analyse eines klaren Votums. Ihre Beobachtungen zum Verlust von Privatheit in der digitalen Welt sind nicht neu. Neu hingegen ist die Verknüpfung mit der Skandaltheorie: Es geht beiden Medienwissenschaftlerin weder um eine Kritik noch um eine Rechtfertigung des World Wide Web. Sondern darum zu zeigen, dass der Skandal, bisher von Wenigen als singuläres Ereignis erlebt, zur Alltagserfahrung eines jeden werden kann - mal als grausames Spektakel, mal als dringend benötigte Aufklärung. Am Ende des Buches formulieren Bernhard Pörksen und Hanne Detel ihren "Kategorischen Imperativ des digitalen Zeitalters":

    Handele stets so, dass dir die öffentlichen Effekte deines Handelns langfristig vertretbar erscheinen. Aber rechne damit, dass dies nichts nützt.

    Durch die Zuspitzung auf den Skandal gewinnt dieses Plädoyer für ein verantwortliches Verhalten in der digitalen Gesellschaft an Schärfe – gerade jetzt in der von den Piraten angeheizten Diskussion über die unbeschränkte Verfügbarkeit aller Daten.

    Bernhard Pörksen / Hanne Detel: Der entfesselte Skandal. Das Ende der Kontrolle im digitalen Zeitalter
    Halem Verlag
    247 Seiten, 19,80 Euro
    ISBN: 978-3-869-62058-9