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Willkürliche Morde, Vergewaltigungen, Drogengeschäfte

Seit etwa zwei Jahren rekrutiert die ISAF überall in Afghanistan Bewohner aus den Distrikten und stellt Bürgerwehren gegen die Taliban auf - die sogenannte Afghan Local Police (ALP). Berichte über schwere Menschenrechtsverletzungen dieser irregulären Truppen häufen sich aber.

Von Marc Thörner |
    Ein Dorf in der nordafghanischen Provinz Kundus. Über die holprige Piste, vorbei an Lehmhäusern und Bewässerungskanälen knattern auf Motorrädern rund zwei Dutzend Männer mit weiten Hosen und randlosen Paschtunenkappen. Um ihre Schultern hängen Kalaschnikows, einige der Mitfahrer auf den Rücksitzen haben Panzerfäuste geschultert.

    Ein Überfall von Taliban, die in einigen Distrikten von Kundus zurzeit wieder die Oberhand haben? Nein, diese Bewaffneten in Zivil sind keine Aufständischen, sondern Polizisten. Genauer: Eine Patrouille der Afghan Local Police, kurz ALP, inspiziert das Dorf. Chef der Truppe ist Nabi Gutschi. Ein etwa 50-jähriger Mann mit Turban und wettergegerbtem Gesicht. Das Kriegshandwerk hat er von der Pike auf gelernt:

    "Ich habe schon gegen die Russen gekämpft. Während des afghanischen Bürgerkrieges in den 1990er-Jahren war ich bei der islamistischen Hizb Islami. Dann habe ich die Seiten gewechselt und bin zum usbekischen General Dostum übergelaufen."
    Seit etwa zwei Jahren rekrutiert die ISAF überall in Afghanistan Bewohner aus den Distrikten und stellt Bürgerwehren gegen die Taliban auf - die sogenannte Afghan Local Police. Anführer sind meist alte Haudegen aus der Zeit des afghanischen Bürgerkrieges.

    "Das Ministerium des Inneren trägt die Verantwortung für die Afghan Local Police.",

    erklärt Generalmajor Franz Reinhard Golks, stellvertretender Oberkommandeur der internationalen Afghanistan-Schutztruppe ISAF:

    "Sie sind Teil der Afghan National Police. Die Ausbildung wird über NATO-Training Mission Afghanistan in der Regel durch amerikanische Kräfte angeleitet, aber inzwischen auch durch afghanisches Personal selbst durchgeführt."

    Kommandeur Nabi Gutschi präsentiert uns zwar zwei grüne Polizeiautos mit Blaulicht. Die stehen ihm zur Verfügung. Aber Ausbildungsmöglichkeiten und finanzielle Mittel fehlen.

    "Die Deutschen und die Amerikaner haben uns anderthalb Jahre lang hundertfünfzig Dollar pro Mann bezahlt. Aber damit war im April 2013 Schluss. Ich habe den Kommandanten des deutschen Wiederaufbauteams in der Provinz Kundus mehrfach gebeten, unsere Finanzierung sicherzustellen, aber ich bekam nie eine Antwort. Inzwischen helfen uns die Menschen aus dem Bezirk und aus den Dörfern. Sie geben uns Geld für Waffen, Munition und für unsere Motorräder. Das reicht bei Weitem nicht aus - aber was sollen wir machen?"

    Kommandeure also ohne Ausbildung und Verträge, die in Polizeiautos herumfahren und bei der Bevölkerung eintreiben, was sie brauchen? Im ISAF-Hauptquartier zeigt man sich überrascht.

    "Darüber habe ich keine Erkenntnisse. Ich gehe davon aus, dass die Afghan Local Police, über die wir gerade geredet haben, dem Ministerium des Inneren untersteht und dieses für Qualifizierung und Finanzierung zuständig ist."

    Doch Fälle wie der von Nabi Gutschi sind keine Ausnahme. In Nordafghanistan tummeln sich unzählige selbst ernannte Polizeichefs, die ihre Interessen mithilfe ihrer bewaffneten Trupps einfach durchsetzen. Wer darf sich legal Lokalpolizist nennen, wer war es früher mal und macht jetzt einfach weiter; wer wurde von einem regulären Polizeichef angestellt, mit mündlichem Vertrag und ohne Wissen des Innenministeriums, wer schart bloß Kämpfer um sich und behauptet, jetzt "die Polizei" zu sein?

    Keine offizielle Stelle kann darüber Auskunft geben. In Daschti Artschi, einem Distrikt von Kundus haben die dort stationierten Lokalpolizisten zwar offizielle Verträge, berichten drei Gemeindeführer. Doch ihr Gehalt reicht ihnen offensichtlich nicht.

    "Die zwingen uns, sie dreimal am Tag mit Essen zu versorgen. Egal, ob man dazu in der Lage ist oder nicht. Unterwegs lauern sie uns auf und stehlen unsere Sachen. Während der Gefechte mit den Taliban, wenn unsere jungen Leute auch nur vor die Tür gehen, werden sie von den Lokalpolizisten gekidnappt. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie das passierte. Die Jugendlichen werden erst wieder freigelassen, wenn wir Lösegeld für sie bezahlen: 20.000 Afghanis, 30.000 Afghanis, also etwa 300 bis 400 Euro."

    "Einer unserer Einwohner war gerade dabei, in seinem Haus eine Mauer auszubessern. Als die Lokalpolizei bei ihm klopfte, dauerte es etwas länger, bis er öffnete. Sie fragten ihn: Warum machst du nicht gleich auf? Du versteckst Taliban. Und dann erschossen sie ihn auf der Stelle."

    Die Meldungen über solche Verbrechen der Afghanischen Lokalpolizei sind nicht neu. Die ersten wurden schon 2009 bekannt, als die Aufstellung dieser irregulären Truppen begann. Und bereits 2011 veröffentlichte die US-Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch einen Report, in dem zahlreiche Fälle willkürlicher Morde, Vergewaltigungen und anderer Verbrechen aufgeführt sind. Für die drei Gemeindeführer aus Daschti Artschi in Kundus ist das Maß inzwischen voll:

    "Was diese Milizionäre mit uns machen, das haben nicht mal die Taliban gemacht. Wenn alles so weitergeht wie jetzt, dann haben wir keine Wahl. Dann werden wir gegen diese Lokalpolizei zu den Waffen greifen."

    "Wenn das so stimmt, dann ist das sicherlich kontraproduktiv. Ich habe keine Erkenntnisse dazu.",

    erklärt der stellvertretende Oberkommandeur der ISAF, Generalmajor Golks. Trotz diverser Berichte über schwere Menschenrechtsverletzungen, mehrere Hundert Seiten stark, trotz warnender Stimmen aus der UNO, dem Auftraggeber der ISAF-Militärs. Man habe keine negativen Erfahrungen mit der Lokalpolizei gemacht, meint der Generalmajor weiter. Und deshalb solle die irreguläre Truppe noch verstärkt und ausgebaut werden:

    "Heute haben wir eine Stärke von rund 25.000, wir wollen bis zum Ende des nächsten Jahres ungefähr 30.000 erreicht haben – dann denke ich schon, dass das einen festen Platz im Gesamtsystem der afghanischen Sicherheit haben wird."

    Mir Ahmad Joyenda arbeitet für die Afghanistan Research and Evaluation Unit. Im Auftrag der UNO untersucht sein Institut auch die Afghanische Lokalpolizei. Seine Bilanz ist deutlich:

    "Die ALP macht mir Angst. Wegen ihrer Verwicklung in Drogengeschäfte und in alle möglichen anderen Verbrechen. Diese Lokalpolizei wird zwangsläufig selbst zur Ursache zukünftiger Konflikte in Afghanistan werden."