"Die absolute Mehrheit der stimmberechtigten Abgeordneten beträgt 249 Stimmen. Ich stelle daher fest, dass der vom Herrn Bundespräsidenten vorgeschlagene Abgeordnete Brandt die Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf sich vereinigt hat."
Parlamentspräsident Kai-Uwe von Hassel verkündete ein denkbar knappes Resultat: 251 Stimmen, gerade zwei mehr als erforderlich. Aber sie reichten für die Wahl des Sozialdemokraten Willy Brandt zum vierten Kanzler der Bundesrepublik Deutschland.
"Ich frage den Abgeordneten Brandt: 'Nehmen Sie die Wahl an?' – "Ja, Herr Präsident, ich nehme die Wahl an."
Hoffnung auf eine offenere und demokratischere Politik
Nach knapp vier Jahrzehnten wurde in Deutschland erstmals wieder ein SPD-Politiker Regierungschef. Der Mann, der vor den Nationalsozialisten hatte fliehen müssen, dem seine Gegner die Emigration und die nichteheliche Geburt vorwarfen, löste den ehemaligen Nationalsozialisten und späteren Christdemokraten Kurt-Georg Kiesinger im Kanzleramt ab. Bewährt als Regierender Bürgermeister von Berlin, dann ab 1966 als Außenminister der Großen Koalition von CDU/CSU und SPD, verkörperte Willy Brandt die Hoffnung auf eine offenere und demokratischere Politik: Reformen im Inneren, Sicherung des Friedens in Europa durch Ausgleich mit den Staaten des Ostblocks. – Willy Brandt an diesem 21. Oktober 1969 im Deutschen Fernsehen:
"Ich bin zufrieden, dankbar, dankbar für das Vertrauen, ich sage ganz offen: Ich bin ein bisschen stolz darauf, dass ich dieses hohe Amt jetzt ausüben darf, aber ich weiß auch um die Pflicht."
Im vorangegangenen Wahlkampf hatte die SPD sich gegen die Christdemokraten, mit denen sie in einer Großen Koalition regierte, als Partei der Modernisierer profiliert. CDU und CSU plakatierten damals: "Auf den Kanzler kommt es an."
Die SPD hielt dagegen: "Wir schaffen das moderne Deutschland".
Dafür stand nicht allein der Spitzenkandidat Willy Brandt. Prof. Karl Schiller etwa, der sozialdemokratische Wirtschaftsminister, glänzte mit seiner ökonomisch-wissenschaftlichen Kompetenz. Im Streit um die Aufwertung der D-Mark grenzte er sich klar ab von Finanzminister Franz-Josef Strauß (CSU). Der Zeithistoriker Arnulf Baring in seinem Buch "Machtwechsel": "Schiller befreite die SPD in den eigenen Reihen von dem üblen Verdacht, sie passe sich feige der CDU/CSU an, um mitregieren zu dürfen. Sie hatte es vor allem ihrem damaligen Wirtschaftsminister zu verdanken, wenn sie (…) stolz ihr eigenes politisches Gewicht zu spüren begann. Die Wähler merkten diesen Wandel – und honorierten ihn."
Unterstützung der FDP
Dass nach Jahrzehnten christdemokratischer Herrschaft ein Machtwechsel möglich wurde, lag auch an der FDP. Walter Scheel, Vorsitzender seit 1968, und Hans-Dietrich Genscher öffneten die Partei nach links, da die von der SPD vertretene Ostpolitik ihren Vorstellungen entgegenkam. Im März 1969 unterstützten die Freidemokraten die Wahl des SPD-Kandidaten Gustav Heinemann zum Bundespräsidenten. Der neue Kurs der FDP verprellte alte Stammwähler. – Walter Scheel am Wahlabend: "Die Hochrechnungen, die bis jetzt bekannt sind, zeigen, dass die FDP erhebliche Verluste hat hinnehmen müssen und das ist für uns enttäuschend, wir haben nicht damit gerechnet."
Mit 5,8 Prozent der Stimmen schaffte die FDP es knapp ins Bonner Parlament. Und so verkündete Willy Brandt spät in der Nacht: "Ich habe die FDP wissen lassen, dass wir zu Gesprächen mit ihr bereit sind. (Beifall) Dies ist der jetzt fällige Schritt von unserer Seite, über alles andere wird morgen zu reden sein."
Am 28. Oktober 1969 präsentierte Kanzler Brandt in seiner Regierungserklärung das sozialliberale Reformprogramm, das in den Worten gipfelte: "Wir stehen nicht am Ende unserer Demokratie, wir fangen erst richtig an. Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein und werden im Inneren und nach außen."
Es war der Beginn einer sozialliberalen Ära, die über Brandts Rücktritt (1974) hinaus andauern sollte – bis sein Nachfolger Helmut Schmidt wegen großer sozialpolitischer Differenzen das Regierungsbündnis mit der FDP 1982 aufkündigte.