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Willy Brandt: Zwei Vaterländer. 1940 - 47 und Auf dem Weg nach vorn. 1947 - 72

Leben und Werk Willy Brandts. Ein facettenreiches Bild dieser Persönlichkeit sollen seine gesammelten Reden und Schriften vermitteln. Die von den Historikern Helga Grebing, Gregor Schöllgen und Heinrich Winkler herausgegebenen zehn Bände der Berliner Edition berichten von der Jugend Brandts am Ende der Weimarer Republik in Lübeck. Von seiner Flucht vor den Nationalsozialisten zunächst ins norwegische, später dann ins schwedische Exil. Von seinem unermüdlichen Werben für das "andere, das bessere" Deutschland. Von seiner Rückkehr ins zerstörte Berlin. Bis zu seinem Ringen um die Regierungsfähigkeit einer reformierten SPD. und um eine den Ost-West-Konflikt überwindende Entspannungspolitik. Band zwei und vier der Brandt-Ausgabe wurden kürzlich von Gerhard Schröder vorgestellt. Helmut Hohrmann rezensiert:

Helmut Hohrmann |
    Als den nach August Bebel bedeutendsten Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands hat der derzeitige SPD-Vorsitzende, Bundeskanzler Gerhard Schröder, Willy Brandt bezeichnet. Die Partei, so Schröder in koketter Anspielung auf die eigene Karriere, habe es Brandt "nicht immer nur leicht gemacht", aber darin habe sie ja eine große Tradition. Schröder sprach zur Vorstellung der ersten beiden von insgesamt 10 Dokumentationsbänden zur politischen Biografie seines großen Vorgängers im Rathaus Schöneberg, dem Berliner Sitz der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung.

    Während der von dem norwegischen Historiker Einhart Lorenz bearbeitete Band 2 die vielfältigen politischen Kontakte, Aktivitäten und Publikationen Willy Brandts als von den Nationalsozialisten ausgebürgerter Deutsch-Norweger im schwedischen Exil in den Jahren 1940 bis 47 dokumentiert und belegt, wie engagiert und erfolgreich sich der junge, skandinavisch geprägte Sozialdemokrat gegen eine vor allem in der britischen Labour-Party gewachsene Tendenz wandte, alle Deutschen als prinzipiell demokratieunfähige Anhänger des Nationalsozialismus zu verdammen, behandelt der Band 4 Willy Brandts mühsamen, aber letztlich erfolgreichen Weg nach vorn in der von Kurt Schumacher neubegründeten SPD der Nachkriegszeit zwischen 1947 und 1972. Gerhard Schröder im Rückblick auf die teils offenen, teils verdeckt geführten Haßkampagnen in den sechziger und siebziger Jahren gegen den zweimaligen Kanzlerkandidaten und den ersten Bundeskanzler der SPD:

    Gerhard Schröder: "Nicht nur die extreme Rechte, auch Angehörige der Unionsparteien scheuten nicht davor zurück, mit Unterstellungen und falschen Zitaten den europäischen Sozialdemokraten Willy Brandt in den Geruch des antideutschen Vaterlandsverräters zu bringen. Das Gegenteil ist wahr."

    Die hinterfotzige Frage des ehemaligen CSU-Vorsitzenden und späteren bayerischen Ministerpräsidenten Franz-Josef Strauß bei einer Vilshofener Aschermittwochsrede 1961, was Brandt eigentlich 12 Jahre lang draußen gemacht habe, sie wird , wenn es dessen überhaupt noch bedurft hätte, mit den Dokumenten, Briefen, Reden, Manuskripten, Buch- und Broschürenauszügen des zweiten Bandes der Berliner Willy-Brandt-Edition hinlänglich beantwortet. Während Band 4 unter anderem belegt, wie geradlinig sich der 1947 zunächst als norwegischer Presseattaché nach Berlin zurückgekehrte deutsche Sozialdemokrat trotz vieler Enttäuschungen und Rückschläge Zeit seines weiteren politischen Lebens stets für die politischen, vor allem aber auch für die menschlichen Voraussetzungen einer Überwindung der sich schon früh abzeichnenden deutschen Teilung eingesetzt hat.

    Gerhard Schröder: "Eine Zerstückelung Deutschlands widersprach in Brandts Augen nicht nur den Regeln elementarster wirtschaftlicher Vernunft, er hielt sie für unheilvoll. Diese Haltung vertrat er damals und - als vorbildlicher deutscher Sozialdemokrat - auch die ganze Zeit der deutschen Teilung über. Bis es ihm schließlich vergönnt war, das Ende dieser Teilung, das auch seine Politik mit ermöglicht hatte, hier in Berlin zu erleben und im November 1989 vor der Mauer den historischen Satz zu prägen: Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört."

    Zwar ist die Kontinuität seiner vor allem an den Bedürfnissen der Menschen orientierten Deutschlandpolitik bereits aus den Dokumenten des vorliegenden Bandes 4 zu entnehmen. Noch eingehender werden die Brandtsche Deutschland- und Außenpolitik jedoch die Bände 6, 9 und 10 über die Jahre 1966 bis 1992 belegen. "Auf dem Weg nach vorn" - so der Titel des vierten Bandes - beschreibt und dokumentiert in erster Linie das langjährige, zähe von Erfolgen und Rückschlägen begleitete Engagement Willy Brandts, aus einer zunächst noch dogmatisch und milieugeprägten SPD eine moderne linke Reformpartei zu machen, die mit ihrem Godesberger Grundsatzprogramm von 1959 die Voraussetzungen für die spätere Regierungsbeteiligung der SPD auf Bundesebene schaffen sollte. Gerhard Schröder:

    Gerhard Schröder: "Dass die Reform unserer Partei seinerzeit gelang, hatte auch damit zu tun, dass für Brandt Modernität nicht gleichbedeutend mit dem Verzicht auf Tradition war. Dass die SPD bis heute als einzige politische Kraft in unserem Land von sich behaupten kann, dass für sie Erneuerung Teil ihrer Tradition ist und dass ihre traditionellen Grundwerte von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität Basis und Ausgangspunkt ihrer Modernisierung sind - das ist zu einem ganz großen Teil Willy Brandt zu danken."

    Der von Daniela Münkel mit einer vorzüglichen historischen Einführung und mit lesenswerten Anmerkungen verseene Dokumentenband kann freilich nicht als Stoff für ein ungetrübtes politisches Heldenepos mißverstanden werden. Auch Defizite etwa in Willy Brandts Führungsstil als Pareivorsitzender oder in seiner reichlich späten Reaktion auf die schon zu Beginn der sechziger Jahre in der eigeen Partei beginnenden Jugend- und Studentenproteste weren deutlich. Obgleich es dann wieder nur Brandt und nicht etwa Helmut Schmidt gelang, den friedlichen und berechigen Teil der Protestbewegung weitgehend in die SPD zu integrieren.

    Gerhard Schröder: "In der Tat kennzeichnete ihn - und ich kann da als Zeitzeuge sprechen - eine große Offenheit gegenüber neuen Denk- und Politikansätzen, die er fruchtbar machte für die programmatische Entwicklung der SPD. Während viele in der Politik, auch in der SPD, Ende der 60er Jahre auf die Studenten- und Jugendproteste allein mit Härte reagieren wollten, forderte Brandt dazu auf, zu unterscheiden zwischen denen, denen es nur um Gewalt gehe und anderen, die - unbequem genug - überkommene Werte und etablierte Ordnungen in Frage stellten."

    Helmut Hohrmann rezensierte Band II und IV der zehnbändigen Edition "Willy Brandt - Berliner Ausgabe". Sie erscheint im Verlag J.H.W. Dietz Nachfolger Bonn. Die einzelnen Bände kosten normalerweise 54 Mark, sind aber bis zum Jahresende erhältlich zum Subskriptionspreis von je 39,80 DM.