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"Wir brauchen eine Erweiterung der Politik"

Deutschland steckt nach Auffassung des Soziologen Ulrich Beck nicht in "einer kleinen Krise", sondern habe mit einer grundsätzlichen Veränderung zu kämpfen. In den Wahlprogrammen aller Parteien vermisse er allerdings eine realistische Einschätzung der Probleme. Es sei eine überalterte Vorstellung zu glauben, man könne nationale Probleme national lösen. Notwendig sei die Formulierung europäischer und transnationaler Probleme.

05.07.2005
    Klein: Es ist Wahlkampf. Die Parteien legen ihre Programme vor und es darf nun etwas genauer hingeschaut werden, worin sie sich eigentlich unterscheiden und wie glaubwürdig sie sind. Nach Ansicht von vielen Experten stehen alle vor ähnlichen Aufgaben und Problemen, so dass man sich fragt, wo denn jeweils die realistische Alternative liegt. Der Soziologe Ulrich Beck beschäftigt sich seit langem mit gesellschaftlichen Umwandlungen und vor wenigen Tagen ist sein neuestes Buch erschienen mit dem sehr aktuellen Titel "Was zur Wahl steht". Guten Morgen Professor Beck.

    Prof. Beck: Guten Morgen Frau Klein!

    Klein: Was steht denn zur Wahl?

    Prof. Beck: Ja, ich meine wir haben eine grundsätzliche Veränderung in Deutschland zu verarbeiten. Es handelt sich nicht nur sozusagen um eine kleine Krise, sondern um eine Verwandlung. Ich versuche ja auch, diese Metapher in dem Buch von Kafka zu benutzen, um unsere Situation zu erklären. In dieser Situation ist es notwendig, dass man grundlegend nachdenkt über die Ziele der Politik. Es geht nicht nur darum, sozusagen jetzt darüber noch einmal zu diskutieren, ob wir eine Eigenheimzulage brauchen oder möglicherweise auch eine Reichensteuer, sondern darum, wie die Ziele der Politik, die wir immer wieder aufs Neue beschwören, eigentlich umgesetzt werden können. Ein zentraler Punkt, den ich in all den politischen Auseinandersetzungen bisher vermisse, ist, dass die Vorstellung, dass man die nationalen Probleme in Deutschland national lösen kann, immer irrealer wird. Tatsächlich brauchen wir eine Erweiterung der Politik, die der Globalisierung nachfolgt in dem Sinne, dass sie nationale Probleme beispielsweise als europäische oder jedenfalls als transnationale Probleme formuliert und auf diese Weise eben auch die nationale Politik neu ermächtigt. Diesen Punkt vermisse ich.

    Klein: Ja. Welche Lösungen Sie da sehen, darauf kommen wir gleich noch. Ich glaube Sie sollten zunächst mal erklären, was die Verwandlung des Gregor Samsan, einem Käfer im Buch von Kafka, zu tun hat mit der Situation, die wir jetzt gerade in Deutschland erleben.

    Prof. Beck: Ja. Wir befinden uns in einer Situation wie der Käfer. Ich finde, dass Kafka sehr schön diese Metapher ausgearbeitet hat, die eine eigene Logik hat. Deutschland ist sozusagen der Käfer, der eines Morgens in seinem Bett aufwacht und bemerkt, dass die Instrumente, die ihm zur Verfügung stehen, die Arme, die Beine, die er bisher benutzt hat, in der Politik nicht mehr funktionieren. Die Vorstellung, dass man aufgrund von Wirtschaftswachstum neue Arbeitsplätze erzeugt, scheint nicht mehr zu funktionieren. Die Vorstellungen, dass es immer so weiter geht mit neuen Technologien, die uns neue Handlungschancen eröffnen, die den Reichtum auch in Deutschland begründet haben, funktionieren nicht mehr. So strampeln wir sozusagen mit unseren Beinchen auf dem Rücken liegend und versuchen, erst einmal auch gar nicht uns richtig mit dieser neuen Situation, in der sich Deutschland aufgrund der Erfolge befindet, auseinanderzusetzen.

    Klein: Das zum einen. Auf der anderen Seite gerade das Buch "Verwandlung" strahlt auch eine äußerst düstere und resignierte, hoffnungslose Stimmung aus. Ist dies auch das, was Sie in Deutschland im Moment wahrnehmen?

    Prof. Beck: Ich finde schon, dass das auch zutrifft: diese Hoffnungslosigkeit und Ausweglosigkeit, die aber zum Teil daraus resultiert – das kann man auch an dem Gregor Samsan ganz gut nachvollziehen -, dass er sich auf seine neue Situation eigentlich nicht einlassen will. Er versucht immer noch ganz nachvollziehbar und menschlich durchaus akzeptabel, mit den alten Instrumenten seine neue Situation zu lösen. Das geht aber nicht, weil er sich in einen Käfer verwandelt hat, und die Vorstellung, dass alles wieder gut wird, dass es sozusagen nur ein Albtraum war, funktioniert auch nicht. Das heißt die entscheidende Veränderung muss nicht nur aus der Politik kommen, sondern muss zunächst mal daraus kommen, dass wir diese neue Situation auch verstehen, denn das Verstehen der neuen Situation ist die Voraussetzung dafür, dass der Käfer dann letzten Endes selbst in der Metapher bei Kafka wieder auf seine Beinchen kommt.

    Klein: Verstehen müssen die Deutschen selber, muss die Bevölkerung selbst, jeder einzelne vielleicht. Wo sehen Sie einen Weg dahin, in den Köpfen etwas zu verändern in dem Sinne, wie Sie sich das vorstellen?

    Prof. Beck: Ich glaube, dass es wichtig ist, zunächst einmal nicht nur wie das Kaninchen auf die Schlange Globalisierung zu blicken. Die Vorstellung, dass man gleich sozusagen von der Globalisierung geschluckt wird, dieses dauernde Einhämmern, dass die Globalisierung ein Naturgesetz ist, dem wir uns beugen müssen, ist falsch. Es gibt durchaus Handlungschancen. Die liegen bei dem Einzelnen ebenso wie in der Politik. Sie liegen aber darin, dass man sich auf diese neue Situation auch einlässt, dass man sozusagen auch den Blick verändert, über Grenzen hinweg denkt und dabei auch für sich neue Handlungsmöglichkeiten eröffnet. Beispielsweise kommt es für den Einzelnen darauf an, mehrsprachig zu werden, weil erst die Mehrsprachigkeit ihm auch ermöglicht, über Grenzen hinweg neue Jobs zu entwickeln. Oder im Bereich der Politik kommt es darauf an, dass etwa Bevölkerungsrückgang und Veralterung der Gesellschaft, die wir beklagen, und die Probleme der sozialen Sicherung nicht nur deutsche Fragen sind, sondern eigentlich alle europäischen Länder betreffen und dass gerade aus der europäischen Definition dieser Fragen auch neue Handlungschancen entstehen, ja sogar eigentlich eine Mehrwertproduktion des Politischen, die auch wiederum den nationalen Handlungsraum neu ermächtigt.

    Klein: Handlungschancen, das ist jetzt das Stichwort, um sich mal mit der Realität zu beschäftigen. Stichwort Parteiprogramme. Schauen wir uns einige mal an. Die SPD wird heute ihr Wahlmanifest offiziell vorstellen. Was darin steht, wissen wir schon so ungefähr. Weshalb ist es aus Ihrer Sicht nicht ausreichend? Weshalb ergreift auch die SPD nicht die Handlungschancen, die sie hätte?

    Prof. Beck: Zunächst einmal finde ich es sehr schwierig, nach wie vor den Bürgern Vollbeschäftigung zu versprechen, dass man durch diese oder jene Maßnahme wieder in die Lage versetzt wird, in der sich Deutschland früher befand, dass der Wohlstand zurückkehrt, wenn wir diese oder jene bittere neoliberale Medizin schlucken. Das ist eine Illusion und eine Illusion, die gerade auch die bisherige Bundesregierung in große Defensiven und Nöte gebracht hat, weil sie daran gemessen wurde und immer wieder eingestehen musste, dass das nicht erreichbar ist. Wichtig wäre es darüber hinaus nachzudenken, inwieweit eine Gesellschaft möglich ist, in der die Menschen, auch wenn sie keinen Arbeitsplatz finden, sinnvoll leben können. Eine solche Frage ist radikal, aber sie muss gestellt werden gerade in einer Phase, in der die Aussicht, dass alle Menschen über Vollbeschäftigung ihre Existenz sichern und auch ihren Sinn im Leben finden, immer mehr schwindet.

    Klein: Die Frage ist aber auch sehr allgemein. Was meinen Sie denn konkret damit?

    Prof. Beck: Ja. Wir haben eine Diskussion über Alternativen zur Erwerbsarbeit seit den 80er Jahren in Deutschland, die immer wieder vergessen wird, wenn es darauf ankommt. Warum soll man nicht beispielsweise Bürgerarbeit ermöglichen, die grundfinanziert ist und die den Menschen Spaß macht und ihnen auch die Möglichkeit einräumt, das zu tun was sie immer schon mal tun wollten. Warum beispielsweise ihnen auf die Situation in Europa bezogen, wo den Menschen Europa fremd ist und etwas ist, mit dem sie eigentlich persönlich gar nichts verbinden, nicht die Chance einräumen, durch Projekte, die sie selbst organisieren über Grenzen hinweg und die grundfinanziert werden, einmal Europa von unten zu gestalten. Das sind Handlungsmöglichkeiten, die jenseits der Erwerbsarbeit liegen, die grundfinanziert werden müssen, die sicherlich auch natürlich vor erheblichen Schwierigkeiten liegen, aber die neue Identitätsmöglichkeiten und neue Aktivitätsmöglichkeiten eröffnen, die nicht mehr nur auf Vollbeschäftigung starren.

    Klein: Sehen Sie da andere Ansätze bei CDU und FDP, die ja möglicherweise die Regierung übernehmen werden?

    Prof. Beck: Eigentlich wenig. Ich meine es gibt eine Diskussion über Bürgergeld, über Grundsicherung. Die finde ich außerordentlich wichtig, weil erst in dem Maße, in dem den Menschen wirklich ein Minimaleinkommen zur Verfügung gestellt wird, auch die Freiheit entsteht, die neuen vielfältigen Tätigkeiten auszuüben, die sich ja heute sowieso schon im Alltag stellen. Denken Sie daran, dass man Elternschaft mit Berufsarbeit verbinden muss, dass man aktiver Bürger sein soll. Alles das sind ja Tätigkeiten, die irgendwie miteinander kombiniert werden müssen. Die werden durch eine Grundsicherung stärker ermöglicht. Ich vermisse einen entsprechenden Ansatz bei der SPD, aber auch bei der CDU.

    Klein: Kurzer Blick auf PdS und WASG, die sich ja nun als wirkliche Alternative präsentieren. Zumindest sagen sie das. Sie behaupten, die einzige Alternative zum so genannten neoliberalen Mainstream der anderen Parteien zu sein.

    Prof. Beck: Das kann ich nur bedingt erkennen. Auf der einen Seite ist es richtig, vor allen Dingen an dem Symbol Hartz IV festgemacht, dass sie sich gegen die bisherigen Parteien abzugrenzen versuchen. Allerdings ist für mich das Etikett links immer noch damit verbunden, dass man avantgardistisch die neue Wirklichkeit erfasst und dafür auch um politische Lösungen streitet. Hier haben wir es mit einer nostalgischen Linken zu tun, ja mit einem in gewisser Weise neonationalen Wohlfahrtsstaats-Chauvinismus, der versucht, die bisherigen Rechte, die die Bürger haben, die Sozialrechte, gegen den Ansturm der neuen Wirklichkeit zu sichern. Das ist verständlich. Ich meine man muss auch versuchen, dem Sozialstaat über die Krise hinwegzuhelfen, aber das geht eben gerade nicht nur durch eine neonationale Wende oder es geht nicht durch eine neonationale Wende, sondern es wäre notwendig, so etwas als soziales Europa zu formulieren, als ein Europa, in dem auch eben bestimmte Grundrechte, soziale Grundrechte und damit mehr Politik über nationale Grenzen hinweg möglich wird.

    Klein: Vielen Dank! – Das war Professor Ulrich Beck zur Frage "Was zur Wahl steht".