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"Wir brauchen moralische Autoritäten"

In der modernen Ökonomie gilt es als "vernünftig" egoistisch zu sein, kritisiert Frank Schirrmacher. Der Mitherausgeber der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" regt an, dieses Menschenbild - und seine Folgen - zu hinterfragen.

Frank Schirrmacher im Gespräch mit Christiane Kaess |
    Christiane Kaess: Man kann es wohl als eine radikale Abrechnung mit dem Kapitalismus bezeichnen, was Frank Schirrmacher, Mitherausgeber der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", sich in seinem neuen Buch vornimmt. "Ego – das Spiel des Lebens" heißt es, und im Zentrum steht ein moderner Homo oeconomicus, der lediglich auf seinen eigenen Vorteil bedacht ist, den er auch durch das Austricksen anderer zu erreichen versucht. Schirrmacher zeichnet das Bild eines Monsters, das aus Egoismus und Misstrauen besteht. Ein Bild unserer Gesellschaft, jedenfalls nach Schirrmachers Vorstellung, das sich zum Beispiel in der aktuellen Finanzkrise widerspiegelt, deren gesellschaftliche Erscheinungen laut Schirrmacher das Buch ausgelöst haben. Ich habe vor der Sendung mit ihm gesprochen und ihm vor den Fragen zu seinem Buch zunächst zum angekündigten Rücktritt des Papstes gefragt, als er die Nachricht gehört hat, an was hat er zuerst gedacht.
    Frank Schirrmacher: Ungläubigkeit – das passt ja nicht so gut zur katholischen Kirche, aber Ungläubigkeit, dass das geschieht, weil ich natürlich wie alle anderen davon ausgegangen bin, dass er bis zum Ende seines Lebens Papst bleibt.

    Kaess: Was verbinden sie denn mit Benedikt XVI.?

    Schirrmacher: Na ja, das ist der erste deutsche Papst, das wissen wir, eine der großen Krisen der katholischen Kirche, die er nicht lösen konnte, partiell vielleicht sogar …

    Kaess: Da meinen Sie den Missbrauchsskandal?

    Schirrmacher: Ja, auch die ganzen Debatten, die wir jetzt auch haben mit dem moralischen Kodex der katholischen Kirche in den letzten Tagen zu der ungewollten Schwangerschaft, also zu Vergewaltigungsopfern, da hat jetzt der Papst keine Schuld dran, nur es zeigt, dass die katholische Kirche mitten in einer gesellschaftlichen Debatte steht. Und ich mochte Ratzinger so als Professor sehr gerne, aber vielleicht war er in dieser Umbruchszeit auch schon zu alt.

    Kaess: Er galt ja als konservativ – haben Sie sich über seinen Widerstand gegen den Zeitgeist geärgert?

    Schirrmacher: Ich bin immer der Meinung, wir müssen das aushalten in unserer Gesellschaft, dass nicht alles konformistisch ist. Ich bin immer ein Freund von Leuten – ob das jetzt der Papst ist oder wer auch immer, der auch mal anderer Meinung ist oder gegen eine angebliche Setzung von Gesellschaften, wie sie sich entwickeln, verstößt. Es gab ein paar Punkte, die mir noch sehr im Gedächtnis sind, und vielleicht der wesentlichste war die berühmte Regensburger Rede, wo – wie Sie sich vielleicht erinnern – ja fast ein Riesenkonflikt mit dem Islam entstanden wäre aufgrund einer, wie er dann sagte, missverständlichen Formulierung, und wie zum ersten Mal ein Papst sich eigentlich korrigieren und erklären musste, und da sah man so, er ist immer ein Professor gewesen, sehr stark, auch aus der Moraltheologie, und vielleicht weniger der politische Führer, der Wojtyla gewesen ist.

    Kaess: War er denn auf der anderen Seite für die Vermittlung von Werten in einer säkularen Gesellschaft wichtig, oder war er dafür zu intellektuell oder zu akademisch?

    Schirrmacher: Das müssten wirklich – ich bin Protestant und kein Katholik – das müssten Katholiken beurteilen. Ich denke schon, aber auch als einer aus dem anderen Lager oder aus dem protestantischen Lager, dass es sehr wichtig ist in unserer Gesellschaft, dass wir beharrende Kräfte haben, weil sie uns auch daran erinnern, dass viele Dinge, die wie von selbst ablaufen, dass es gegen die auch Widerstände geben kann. Also ein Problem wird erst es dann, wenn es als eine Art Gesetz gelesen wird, also wenn Menschen keine Freiheit mehr haben, sich dazu zu verhalten. Und vielleicht hat dieser Papst anders als Wojtyla, der in die Geschichte eingegangen ist auch als einer der großen Veränderer mit Blick auf den Kommunismus, hat dieser Papst zu sehr vom Lehrstuhl her gedacht, als von dieser wie bei Wojtyla doch großen menschlichen Wärme.

    Kaess: Was würden Sie sich von einem neuen Papst wünschen?

    Schirrmacher: Na ja, also wir brauchen – auch in dieser Globalisierung –, wir brauchen moralische Autoritäten in dieser Welt. Und die Autorität, die jetzt nötig ist, geht nicht nur um Werte in unseren westlichen Gesellschaften, sondern um den Preis, den die Globalisierung in den Ländern der früheren sogenannten Dritten Welt, in Afrika, in Asien kostet. Insofern wäre ein Papst, ein politischer Papst notwendig, der das zum Thema macht. Und es gibt ja schon Hinweise – vielleicht wird es ja sogar einer aus einem dieser Länder.

    Kaess: Da passt das jetzt gar nicht so schlecht in diesen Zusammenhang, das Thema Ihres neuen Buches, das eine radikale Kritik ist am modernen Homo oeconomicus, der nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht ist und die totale Ökonomisierung unseres Lebens. Warum haben Sie dieses Thema gewählt?

    Schirrmacher: Weil ich jetzt selber dem überall begegne. Wenn Sie sich zum Beispiel anschauen, es gibt ja eine sehr beliebte modernere Theorie, die sogenannte Verhaltensökonomie, die bestsellerträchtig auch, werden ganz banale Lebensfragen gestellt, zum Beispiel: Ist es sinnvoll, eine Strafe zu erheben, wenn man sein Kind zu spät vom Kindergarten abholt? Und dann wird darüber nachgedacht, nein, das ist nicht gut, denn wenn die Strafe zu gering ist, sagen die Eltern, das ist es mir wert, und so weiter. Diese Ökonomisierung, noch von den kleinsten menschlichen und sozialen Fragen, die wir jetzt haben, wie bringt man Leute dazu, damit sie einen Vorteil bekommen, bestimmte Dinge zu machen, war eigentlich der Auslöser, verbunden natürlich mit der großen Eurokrise, die das Gleiche, nur auf größerem Niveau, ist.

    Kaess: Wen wollen Sie wachrütteln?

    Schirrmacher: Ich schreibe solche Bücher, um mir selber etwas klarzumachen. Und ich bin ja auch nicht derjenige, der das jetzt erfindet, oder der Erste, der das sagt, sondern was ich tue, ist auch – das ist das Privileg meines Berufs, ich bin im Gespräch mit vielen Leuten und Denkern und Wissenschaftlern und habe eben gemerkt, dass die Ökonomen selbst, zumindest Teile der Ökonomen, diesen, wie man sagt, ökonomischen Imperialismus mit großem Befremden sehen. Und wir können ja alle nicht, und kein Experte kann das und kein Laie kann das, an der Tatsache vorbeigehen, dass viele dieser berühmten Modelle – es hieß ja sogar mal, nie wieder wird es zu großen Ausschlägen kommen, die Great Moderation hieß das, weil wir alles unter Kontrolle haben –, dass die nicht funktioniert haben. Und ich sage mir, wenn das dort schon nicht funktioniert hat in den Finanzmärkten, was passiert dann mit der Gesellschaft, die ja mittlerweile auch so organisiert ist.

    Kaess: Aber, Herr Schirrmacher, ist es in einer Gesellschaft, die stärker das Individuum als die Gemeinschaft betont, nicht auch unausweichlich, dass man auch auf den eigenen Vorteil schaut?

    Schirrmacher: Also ich bin ja nicht naiv, das tun wir alle, das ist ein Lebensgesetz, ein Überlebensgesetz sogar. Es ist aber ein großer Unterschied, ob Sie sagen, jeder Mensch ist egoistisch, oder ob Sie sagen, was gesagt wird, es ist vernünftig, egoistisch zu sein und wenn Sie das auch noch über Algorithmen in die digitale Welt hineinprogrammieren. Wenn Sie so wollen, ist das die Abschaffung eines Satzes, mit dem wir alle in der Schule schon konfrontiert wurden, nämlich dem von Immanuel Kant: "Handle stets so, dass dein Handeln ein allgemeines Gesetz werden könnte". Das ist genau das Gegenteil, soll es auch sein, und bis zu einem gewissen Grade war das auch sehr erfolgreich. Im Kalten Krieg war das sehr erfolgreich, dass man sagte, die Russen haben ein egoistisches Interesse, selber nicht in die Luft zu fliegen, also, wenn wir das unterstellen und die das bei uns unterstellen können, kann man Geschäfte machen sozusagen, also Verhandlungen führen. Nur wenn es zu einem allbeherrschenden Prinzip wird – ich zeige ja, dass mittlerweile diese kleinen von allen Laien nicht zu verstehenden Algorithmen, das sind kleine Roboter in Finanzmärkten - , seit 2010 drei sogenannte Flashcrashs ausgelöst haben, wo die in ihrem absoluten programmierten Egoismus halt dann anfingen, das System zu zerstören und zu bedrohen. Und wenn man weiß, dass soziale Netzwerke, Facebook und viele andere dieser digitalen Szene auch so konstruiert sind – oder nehmen Sie einfach die große Debatte über Überwachung. Staatliche Überwachung oder auch private Überwachung geht immer davon aus, dass der Mensch, den man überwacht, etwas zu verbergen hat. Ein Personalchef, der Facebook screent – ich beschreibe ja das Beispiel an E-Mails –, geht davon aus, dass das, was da steht, nicht die Wahrheit ist, sondern dass dahinter ein anderes Interesse steht, und das ist mein Punkt.

    Kaess: Herr Schirrmacher, das Modell eines Menschen, das Sie beschreiben, wurde Ihrer Meinung nach im Kalten Krieg entworfen, das haben Sie jetzt gerade auch schon kurz skizziert, und so beschreiben Sie es auch ausführlich in Ihrem Buch. Aber was war denn an der Gesellschaft davor, die ja immerhin zwei Weltkriege geführt hat, besser als an der jetzigen?

    Schirrmacher: Gar nichts, und man muss auch sagen – es ist ja nicht meine Meinung, dass das dort geboren wurde, das ist Stand der Forschung –, das ist die Entwicklung der Spieltheorie und anderer Theorien im Kalten Krieg mit Blick auf die Atombombe. Und die waren sogar eine Reaktion auf diese Totalitarismen, indem sie sagten, diese ganzen schrecklichen Regimes, Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus haben immer behauptet, sie wissen, was für den Menschen am besten ist. Wir sagen, der Mensch selber weiß, was für ihn am besten ist. Das Problem ist nur, dass nach 1989 erkannt wurde, dass diese Systeme perfekt dafür taugen, eben in Märkten, vor allem in digitalen Märkten, große Profite zu machen. Darum haben wir jetzt ja auch keinen Krieg im klassischen Sinne, sondern wir haben eine Situation, wenn Sie sich Europa angucken, die ist wie sozusagen ein ziviler Krieg, also wenn Staaten keine Souveränität mehr haben, wenn gesagt wird, keine Plebiszite und wenn Parlamente übergangen werden, ist das ein Zeichen dafür, dass wir ein ganz anderes Spiel spielen. Und das ist dieses berühmte verdeckte Spiel. Das ist nicht Schach, sondern das ist Poker: Niemand weiß, was der andere in den Karten hat, und jeder misstraut dem Anderen. Und das ist meiner Meinung nach, und nicht nur meiner Meinung nach, eine Frucht dieser Entwicklung, und über die muss man sich erst einmal Klarheit verschaffen.

    Kaess: Frank Schirrmacher, Mitherausgeber der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung".


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