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"Wir haben keine Zeugen, keine Überlebenden, keine Opferzeugen"

Zehntausende Juden soll John Demjanjuk im Vernichtungslager Sobibor in die Gaskammern getrieben haben. Kirsten Goetze, Richterin und Dezernentin der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen, spricht über Ermittlungs-Schwierigkeiten in einem Prozess, in dem es so gut wie keine Opferzeugen mehr gibt.

Kirsten Goetze im Gespräch mit Stefan Heinlein |
    Stefan Heinlein: Guten Morgen, Frau Goetze!

    Kirsten Goetze: Guten Morgen, Herr Heinlein.

    Heinlein: Sie haben gemeinsam mit Kollegen die Ermittlungen gegen Demjanjuk geführt und den Anklagebericht für die Staatsanwälte in München mitformuliert. Wie hieb- und stichfest sind denn die Beweise gegen John Demjanjuk?

    Goetze: Wie Sie ja eingangs schon in Ihrem Statement gesagt haben, ist die Beweislage dadurch gekennzeichnet, dass wir so gut wie keine überlebenden Opfer haben. Sobibor ist als Vernichtungslager dadurch gekennzeichnet, dass die Menschen dort mit einem Zug in dem Zeitraum, in dem sich Demjanjuk, wie wir vermuten, dort aufgehalten hat, gebracht wurden und binnen weniger Stunden in die Gaskammern getrieben und dort umgebracht worden sind. Das heißt, wir haben keine Zeugen, keine Überlebenden, keine Opferzeugen, wir haben aber eine Vielzahl von Aussagen, die wir aus früheren Prozessen haben, die hier in Deutschland geführt worden sind. Das sind Aussagen von deutschen SS-Männern, die dort Dienst getan haben. Darüber hinaus haben wir aber auch eine Vielzahl von Dokumenten – es handelt sich um deutsche sogenannte Kriegsdokumente -, die von der Roten Armee erobert wurden und die in Moskau gelagert wurden und die von Historikern und Ermittlern, früheren Ermittlern eingesehen und uns zur Verfügung gestellt worden sind. Dabei handelt es sich zum einen um den in der Öffentlichkeit viel diskutierten Dienstausweis. Es ist nicht der einzige Dienstausweis, den wir kennen, der jetzt auf den Namen von John Demjanjuk oder Iwan Demjanjuk damals ausgestellt worden ist. Wir haben auch vergleichbare Dienstausweise, die aus unserer Sicht eben belegen, dass es sich hier unter anderem auch um ein echtes Dokument handelt. Der Dienstausweis ist ja auch zuletzt vom Landeskriminalamt München kriminaltechnisch untersucht worden, seine Echtheit ist bestätigt worden. Zum anderen haben wir aber auch andere Dokumente, unter anderem den Marschbefehl für Demjanjuk und weitere Trawnikis, die seine Abordnung, seine Kommandierung in das Vernichtungslager nach Sobibor im März 1943 belegen.

    Heinlein: Also alles Indizien. Reicht das denn aus, um die Mittäterschaft von Demjanjuk beim Judenmord zweifellos zu beweisen?

    Goetze: Anders als wir das jetzt zum Beispiel aus Verfahren aus den Vereinigten Staaten oder auch in Israel kennen, kommt es bei uns ja nicht nur ausschließlich auf Aussagen von Zeugen an, sondern die deutsche Strafprozessordnung kennt ja durchaus die Möglichkeit, auch mit Dokumenten, auch mit historischen Sachverständigen zu arbeiten. Zum Beispiel Herr Dr. Pohl vom Institut für Zeitgeschichte wird sozusagen zu den historischen Grundlagen, die bekannt sind, gehört werden. Dann muss sich am Ende des Prozesses die Kammer darüber Gedanken machen, ob sie diese Aussagen alle verwerten kann. Das ist eben auch die Frage. Wir haben eine Vielzahl von Dokumenten von ehemaligen sowjetischen Verfahren, wo ehemalige Trawniki-Angehörige, ehemalige Rotarmisten Angaben zu dem Lager machen, unter anderem auch zur Person von Demjanjuk.

    Heinlein: War John Demjanjuk, Frau Goetze, als sowjetischer Kriegsgefangener denn allein Täter, oder auch Opfer? So argumentiert ja unter anderem die Verteidigung.

    Goetze: Das ist sicherlich immer sehr schwierig zu beurteilen, aber nach unserer ethischen, vor allen Dingen aber auch rechtlichen Überzeugung kann es nicht gerechtfertigt sein, dass die eigene existenzielle Gefährdung eines Menschen hier es entschuldigt, dass andere Menschen getötet werden. Wir wissen, dass die Menschen, die nach Sobibor gekommen sind, grausam in den Gaskammern umgebracht worden sind. Es handelt sich um Menschen aller Altersgruppen. Es handelt sich jetzt nicht um bewaffnete Männer, die für mich auch eine Gefahr darstellen könnten, sondern wir haben das ja damals sehr akribisch ermittelt. Wir können sagen, das älteste Opfer war 97 Jahre alt, das jüngste Opfer war drei Monate alt. Dass ich diese Menschen umbringe, um mein eigenes Leben zu rechtfertigen, hierfür sehen wir jedenfalls keinen Entschuldigungsgrund, der zu Gunsten von Herrn Demjanjuk sprechen würde.

    Heinlein: Aber viele deutsche SS-Männer wurden ja in Verfahren wegen dieses Befehlsnotstandes – und darum geht es ja – freigesprochen oder gar nicht erst angeklagt.

    Goetze: Das ist richtig. Wir bewerten das aus Sicht der zentralen Stelle, auch aus Sicht der Staatsanwaltschaft München, denke ich, die diese rechtliche Bewertung ja auch teilen, sind wir der Auffassung, dass hier dieser Befehlsnotstand nicht zum tragen kommt. Wir haben auch aus einer Vielzahl anderer Verfahren keinerlei Hinweise darauf, ob es sich um Wehrmachtsangehörige handelt, ob es sich um Angehörige von Einsatzgruppen handelt, oder auch um diese Trawniki-Männer handelt, dass sie unter, ich sage mal, Einsatz von Waffengewalt zu diesem Dienst dort gezwungen worden sind. Zwischen der Rekrutierung in den Kriegsgefangenenlagern und dem Einsatz in den Vernichtungslagern im konkreten Fall Demjanjuk lagen mehrere Monate. Darin wurden die Trawnikis ausgebildet, einer militärischen Ausbildung unterworfen, und sie haben ihren Dienst in den Vernichtungslagern bewaffnet vollzogen. Sie waren auch gegenüber der deutschen SS, die dort die Verantwortung hatte, in der deutlichen Überzahl.

    Heinlein: Geht es also, Frau Goetze, in diesem Verfahren auch grundsätzlich darum, die Rolle der osteuropäischen Lagerwachmänner in diesen KZs juristisch aufzuarbeiten? Das ist ja juristisches Neuland und ist bisher noch nicht geschehen.

    Goetze: Das ist bislang deshalb auch nicht geschehen, weil es gibt halt so gut wie keine Angehörigen dieser Hilfsmannschaften, die in der Bundesrepublik Deutschland nach dem Krieg verblieben sind. Zum anderen: wir wissen das aus einer Vielzahl von Dokumenten, dass immer wieder über diese Hilfswilligen berichtet wird, über Ghetto-Liquidierungen. Dabei werden sie immer wieder auch erwähnt. Aber es gab eine Möglichkeit der Individualisierung dieser Personen. Es war eine Personengruppe, die dort tätig geworden ist. Das ist ausgesprochen schwierig gewesen und das ist auch jetzt, denke ich, mit den Möglichkeiten, auch den Dokumenten, die uns vorliegen, der historischen Aufarbeitung überhaupt möglich nachzuweisen.

    Heinlein: Im Deutschlandfunk heute Morgen Kirsten Goetze, Dezernentin der Ludwigsburger Zentralstelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen. Ich danke für das Gespräch und auf Wiederhören, Frau Goetze.

    Goetze: Auf Wiederhören.