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"Wir haben lernen müssen, dass Geschichte in Generationen denkt"

Dass sich die mentalen Befindlichkeiten von Ost- und Westdeutschen derart lange halten würden, habe er sich nicht vorstellen können, sagt der letzte Ministerpräsident der DDR, Lothar de Maizière. Auch sei es Deutschland nach 1990 sehr schwer gefallen, außenpolitisch Fuß zu fassen.

Lothar de Maizière im Gespräch mit Mascha Drost |
    Mascha Drost: Der Volkston muss nicht immer so wohlklingend daher kommen wie bei Schumann, das Volk kann auch anders. Es geht auf die Straße, besteht lautstark auf seiner Identität, und im weltgeschichtlichen Maß rasant bekommt es erst Recht und dann sogar eine völlig neue Identität. Vor 21 Jahren wurden so aus knapp 17 Millionen DDR-Bürgern Bürger der BRD. Und einer der vor 21 Jahren maßgeblich daran beteiligt war, war Lothar de Maizière, der letzte Ministerpräsident der DDR - für fünfeinhalb Monate bis zum 2. Oktober 1990.

    Seit 21 Jahren feiert man am 3. Oktober den Tag der Deutschen Einheit, und aus diesem Anlass habe ich mit Lothar de Maizière gesprochen und ihn zuerst gefragt, ob denn seine Hoffnungen und Wünsche von damals in Erfüllung gegangen sind.

    Lothar de Maizière: Wissen Sie, ich bin ja kein Prophet, ich konnte 1990 nicht ahnen, wo es hingeht, aber mir war schon klar, dass jetzt also dieses geeinte Deutschland eine ganze ganz andere Rolle in der Welt haben wird. Das geeinte Deutschland ist durch den Zwei-plus-Vier-Vertrag souverän geworden, die vier Siegermächte haben auf ihre Vorbehaltsrechte über Deutschland mit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag verzichtet. Und damit ist Deutschland eigentlich überhaupt erst erwachsen geworden und wir haben auch gemerkt, wie schwierig es ist, dem geeinten Deutschland gefallen ist, in der Welt, Außenpolitik oder sonst was, Fuß zu fassen.

    Mascha Drost: Bleiben wir noch mal bei Ihnen: Haben sich denn Ihre Wünsche, Ihre Hoffnungen erfüllt?

    de Maizière: Wissen Sie, ich bin Jurist und kann nur sagen, ich bin nach wie vor glücklich, dass das Grundgesetz, so eine herrliche Verfassung, wie wir sie haben, für alle Deutschen gilt, und hoffe auch, dass die Mahnung aus dem Artikel eins – die Würde des Menschen ist unantastbar – Maxime des Handelns bleibt. Ich sehe, wie meine Enkel in dieses Land hineinwachsen, wie sie Chancen haben, die meine Kinder nicht hatten. Eine meiner Enkeltöchter hat ein soziales Jahr in Argentinien gemacht, die andere war ein Jahr in Ghana im gleichen Beruf und meine jüngste Tochter hat in England, Frankreich, in Moskau studiert. Also alles Chancen, die wir nicht so hatten in dem Maße. Und ich finde es gut, dass sie in ein solches weltoffenes Land hineingeboren werden und dass sie … beinahe glücklich, dass sie den Vergleich nicht haben.

    Drost: Also gar keine Enttäuschung?

    de Maizière: Es gibt Dinge, von denen ich gedacht habe, sie würden schneller gehen, ich habe mir nicht …

    Drost: … zum Beispiel?

    de Maizière: Ich habe mir nicht vorstellen können, dass die wechselseitigen mentalen Befindlichkeiten sich so lange aufrecht erhalten würden. Wir haben lernen müssen, dass Geschichte nicht in Jahren, sondern in Generationen denkt. Die jetzige Abiturientengeneration, für die ist DDR und Teilung Deutschlands und so weiter weit weg, für meine Generation ist es ein großer Teil des eigenen Lebens, den man nicht so ohne Weiteres weglöschen kann und auch nicht will, weil man sonst sich selber kopieren würde. Und ich habe auch geglaubt, dass der wirtschaftliche Aufholprozess schneller gehen würde. Andererseits …

    Drost: … und doch haben Sie ja schon ein paar Probleme angesprochen, man könnte natürlich noch hinzufügen die Arbeitslosigkeit, Minderwertigkeitsgefühle, Abwanderung. Hätte das vielleicht vermieden werden können, wenn man die ganze Sache vielleicht ein bisschen langsamer angegangen wäre, also nicht ein Beitritt – es war ja ein Beitritt, es war ja praktisch keine Wiedervereinigung –, sondern sich mehr Zeit gelassen hätte?

    de Maizière: Schon im Frühjahr 1990 oder Frühsommer 1990 sagte Eduard Schewardnadse zu mir, wo bist du, wo bist du, beeil dich, mach schnell, ich weiß nicht, wie lange es uns noch gelingt, das, was wir außenpolitisch miteinander vereinbaren im Rahmen des Zwei-plus-Vier-Prozesses, wie lange wir das noch wirksam in die sowjetische Innenpolitik umsetzen können. Und schon zu Weihnachten 1990 haben wir Päckchen nach Russland geschickt für die notleidende Bevölkerung, im Sommer 91 gab es die Sowjetunion nicht mehr und Michail Gorbatschow war Geschichte geworden. Und ich weiß nicht, wie wir 16 Sowjetunion-Nachfolgestaaten hätten klarmachen sollen, dass wir Interesse an der Einheit Deutschlands haben. Ich glaube nicht, dass die Frage, ob zu schnell, sondern die Frage wäre ja, nicht quantitativ anders, sondern qualitativ anders. Und da, kann man sagen, gibt es einige Punkte, die schwierig waren …

    Drost: … was hätte man denn besser machen können aus Ihrer Sicht?

    de Maizière: Na, zum Beispiel haben wir mit unterschiedlichen Positionen verhandelt zur Frage des Eigentums von Grund und Boden: Wollen wir das Restitutionsprinzip greifen lassen oder ein Entschädigungsprinzip? Wir wussten, dass beide Prinzipien reinrassig nicht durchzustehen sind, aber ich befürchtete, dass dieses Restitutionsprinzip zum Investitionshemmnis werden könnte und dass es außerdem sozialen Frieden gefährden könnte. Denn immerhin waren es ja zum Teil zwei oder drei Generationen her, dass diese Enteignungsakte vor sich gingen. Ich glaube, dass damit eine ganz andere Frage zusammenhängt, nämlich – das ist fast rechtsphilosophisch – wie man nach langen Zeiten des Unrechts nach Gerechtigkeit sucht, ohne neues Unrecht zu begehen. Wenn einer sagt, das war das Herrenhaus oder das Vaterhaus meiner Familie über fünf Generationen, und die andere sagt, ja, jetzt war es aber das Familienhaus oder Vaterhaus meiner Familie über drei Generationen. Bärbel Bohley hat das mal so in so einen Satz gefasst: Wir wollten Gerechtigkeit und haben den Rechtsstaat bekommen. – Ich bin mit dem Rechtsstaat schon sehr zufrieden, denn die himmlische Gerechtigkeit, die sie meinte, die kann irdisches Recht nicht leisten.

    Drost: Sie haben letztes Jahr ein Buch veröffentlicht, "Ich will, dass meine Kinder nicht mehr lügen müssen", der Titel, und dort legen Sie Ihre Sicht auf den Verlauf der Wende dar. Nicht wenige haben das Buch nicht vielleicht als eine Abrechnung nicht unbedingt gegenüber Helmut Kohl gelesen, aber doch als eine Art Richtigstellung, dass eben der Einheitskanzler nicht allein für die Einheit verantwortlich war. Ist das vielleicht symptomatisch für den ganzen weiteren Verlauf, für Geschichtsschreibung, dass das alles so auf die westdeutsche Seite gezogen wurde?

    de Maizière: Nein, das liegt eigentlich in dem Wort schon angelegt: Vereinigen können sich immer nur zwei, nicht einer mit sich selbst. Und es ist das Bild entstanden, dass Helmut Kohl sich mit sich selbst vereinigt hätte. Und das ist ein bisschen schiefes Bild. Ich habe durchaus nichts an Kohls Verdiensten zu kratzen oder zu schmälern und ich glaube auch, dass er bis zur Wiedervereinigung keine Fehler gemacht hat. Die Fehler sind danach passiert, indem man nicht behutsam genug mit der ostdeutschen Wirtschaft umgegangen ist und sich nicht der Befindlichkeit der Ostdeutschen angenommen hat und es gibt ein paar Dinge, die von Kohl selbst oder von den Geschichtsschreibern in einem Licht dargestellt werden, die ich anders in Erinnerung habe. Und deswegen habe ich auch darunter geschrieben, unter dem Titel: "Meine Geschichte der deutschen Einheit". Es gibt ja so ein bisschen zynisches Wort von Napoleon: Das objektive Bild der Geschichte ist die Summe der Lügen, auf die sich die Gesellschaft nach 30 Jahren geeinigt hat. – Da habe ich gedacht, dann müssen eben meine Lügen noch dazukommen.

    Drost: Aber ist das nicht eben symptomatisch, dass alles von der westdeutschen Seite jetzt her beleuchtet wird?

    de Maizière: Wissen Sie, das waren 62 Millionen, wir waren 16 Millionen, das ist das eine. Und das andere ist, man wähnte sich in einem absolut erfolgreichen Modell, während wir mit einem Modell kamen, das ganz offensichtlich, und zwar weltweit, gescheitert war. Denn ich meine, wir haben ja nicht nur den Zusammenbruch der DDR, sondern aller Ostblockstaaten in der Sowjetunion erlebt und das hat natürlich auch bei manchen, die uns da belehren wollten, für eine erhebliche Beckmesserei geführt und das hat also dem Bewusstsein der Ostdeutschen nicht gut getan. Das hat mich weniger angefochten, denn ich glaube, dass ich ein relativ stabiles Selbstwertgefühl habe. Aber wenn gefragt wird, ob denn ein Diplomjurist ein richtiger Jurist ist oder sonst irgend so was, dann ist das schon kränkend und vielfach nicht nur aus Unachtsamkeit kränkend, sondern mitunter auch kränkend gemeint gewesen.

    Drost: Jetzt, nachdem wir seit einigen Jahren mit der Krise und in der Krise leben, haben Sie sich manchmal gefragt, ob man nicht vielleicht ein gesundes Misstrauen gegenüber diesem System, den der … (O-Ton an dieser Stelle nicht verständlich, Anmerkung der Redaktion) vielleicht retten könnte?

    de Maizière: Dazu muss ich ja zunächst sagen, es stand kein anderes System zur Verfügung. Wir konnten ja nicht Polen beitreten, sondern wir wollten der Bundesrepublik beitreten, und die Mehrheit der Menschen wollten das auch. Und die soziale Marktwirtschaft ist glaube ich auch eine Form des domestizierten Kapitalismus. Dass diese domestizierte Kapitalismusform in der Bundesrepublik halt klappte, lag daran, dass sie national eingehegt wurde.

    Inzwischen aber, durch die Globalisierung, haben wir Weltkapitalmärkte, Weltwirtschaftsmärkte und da greifen diese zivilisierenden Dinge nicht mehr und wir brauchten also längst eine Ordnung über die G 20 oder sonst, was wir also sagten, was geschieht mit Leerverkäufen, was geschieht mit Spekulationsgewinnen und, und, und. Und das ist ja das, was wir ganz aktuell zu besehen haben, und Überlegungen zu sagen, wir brauchen zumindest im Euro-Raum eine europäische, einheitliche Finanzpolitik und einheitliche Wirtschaftspolitik, sind sicherlich richtig.

    Drost: Lassen Sie uns zum Schluss noch mal kurz über gewisse deutsche Befindlichkeiten reden, vor allem ostdeutsche: Sie haben einmal ein ostdeutsches Selbstbewusstsein gefordert. Was haben Sie damit gemeint, wie könnte das aussehen?

    de Maizière: Ich sage, die Ostdeutschen haben nach dem Zweiten Weltkrieg unter wesentlich schwereren Bedingungen, unter der Last von 22 Prozent Reparationsleistungen aus der laufenden Produktion das Land wieder aufgebaut und dort in weiten Teilen eben ein vernünftiges und auch anständiges Leben geführt. Dafür braucht man sich nicht zu schämen, dass man in Ostdeutschland gelebt hat. Zumal, die Demarkationslinie am 8. Mai 1945 ist nicht nach dem Intelligenzquotienten gezogen worden, sondern ist gezogen worden nach Kriterien, die die Besatzungsmächte für richtig hielten. Zum Beispiel … (O-Ton an dieser Stelle nicht verständlich, Anmerkung der Redaktion), dass es einen speziellen Artikel für die Kultur gibt, weil ich gesagt habe, wenn die Ostdeutschen in zehn, 20 Jahren zurückblicken, werden sie sich fragen, was ist geblieben. Und dann werden sie sehr wohl verweisen können auf Leistungen, die in Kunst und Kultur geschehen sind.

    Die wirklich teuren Bilder, die heute gehandelt werden, sind von Heisig, von Mattheuer, von Tübke, von anderen Leuten, und kein Land hatte eine so reiche Orchesterkultur wie sie die DDR hatte und das Leipziger Gewandhausorchester klingt eben noch deutsch, wenn es Bruckner spielt. Also, da haben wir uns durchaus nicht zu verstecken. Und da war meine große Sorge, dass das untergehen könnte. Und das haben wir Gott sei Dank im Einheitsvertrag erreicht, dass der Bund für längere Zeit eine Übergangsfinanzierung geleistet hat, bis die Länder selbst in der Lage sind, diese Schätze zu bewahren und zu pflegen. Da ist zwar viel Geld geflossen vom Westen, das ist richtig, aber gemacht haben es die Ostdeutschen schon selbst. Und ich glaube, eine so unglaubliche Aufbauleistung, wie wir sie in den letzten 20 Jahren erlebt haben, war nur mit Fleiß und mit Hinstehen verbunden, mit Selbstbewusstsein.

    Drost: Doch eine kleine Frage zum Schluss, wo Sie die Orchester jetzt schon angesprochen haben: Sie sind ja von Haus aus selbst Musiker, …

    de Maizière: … richtig …

    Drost: … sind Bratscher, ist das für einen Politiker nicht eine ganz wunderbare Schule: Man muss sich unterordnen, man muss miteinander spielen, man darf nicht gegeneinander spielen. Vielleicht nicht ganz ernst gemeint, die Frage, aber gäbe es weniger unnütze Kämpfe, Rangeleien im politischen Betrieb, würde man sozusagen ein parlamentarisches Orchester einführen?

    de Maizière: Also, ich habe mal gesagt, die Welt wäre besser bestellt, wenn nicht Generäle, sondern Generalmusikdirektoren die Welt regieren würden. Das weiß ich nicht so genau, auch im Orchester gibt es eine Hierarchie und eine Rangordnung und es gibt also die berühmten Bratscherwitze und die Posaunistenwitze und so weiter. Aber ich glaube, dass man in dem Moment, wo man auf die Bühne geht und sich dann dem Werk verpflichtet fühlt und an einem Strang zieht, das wäre schon ganz schön, wenn das so wäre. Das ist ja auch der Grund, warum ich das Musizieren nicht lassen kann, ich mache ja noch heute regelmäßig Musik.


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