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"Wir lassen uns nicht einschüchtern"

Zehn Jahre nach 9/11 seien die USA im Umgang mit dem Terrorismus reifer, nüchterner, aber auch konsequenter geworden. Das glaubt der in Leipzig lehrende Amerikanist Crister Garrett mit Blick auf die Reaktionen nach dem Bostoner Bombenattentat. "Boston hat getrotzt", sagt Garrett.

Crister Garrett im Gespräch mit Christine Heuer |
    Christine Heuer: Ein Verdächtiger ist also gefasst worden, er ist aber tot; der andere ist auf der Flucht. In Boston überschlagen sich die Ereignisse.
    Am Telefon ist jetzt Crister Garrett, ein amerikanischer Politikwissenschaftler, der an der Universität in Leipzig lehrt. Guten Tag, Herr Garrett.

    Crister Garrett: Guten Tag, Frau Heuer.

    Heuer: Auf CNN läuft eine Endlosschleife mit Fotos und Aufnahmen der vergangenen Nacht. Das sieht aus wie im Krieg. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie diese Bilder sehen?

    Garrett: Wie schnell die Ereignisse zusammengekommen sind, wie schnell man die Verdächtigen erfasst hat im Sinne von Bildern und den Kreis schließen konnte. Da spielt natürlich ein bisschen Glück in diesem Spiel eine Rolle, Sie haben es schon angesprochen. Aber jetzt haben wir ein belagertes Stadtviertel, wo Leute natürlich in Angst hinter geschlossenen Türen abwarten müssen, bis der zweite Verdächtige gefasst wird.

    Heuer: Wie wirkt all das auf die amerikanische Gesellschaft? Wie nehmen die Menschen in Ihrer Heimat das alles auf?

    Garrett: Ich denke, die Gesellschaft ist in den letzten zehn Jahren nach dem 11. September, was Terrorismus betrifft, reifer, nüchterner geworden. Wir sahen das in den ersten Stunden und Tagen nach den Anschlägen in Boston. Boston hat getrotzt, hat gezeigt, wir machen unser tägliches Leben weiter. Und im Lande war eine Konzentration auf die nächsten Schritte, eine Vorsicht im Gespräch über mögliche Verdächtige, und das sehen wir jetzt innerhalb von sehr kurzer Zeit, wie das Land zusammengekommen ist, mit Bildern, mit sozialen Medien und mit Unternehmen, um die zwei Verdächtigen zu finden.

    Heuer: Gestern wurden ja erstmals Fotos und Videos mit den beiden Verdächtigen veröffentlicht. Sie haben auch diese Bilder natürlich genau angesehen, Christer Garrett. Kann man aus den Bildern irgendetwas darüber ableiten, wer diese Männer sind, aus welchem Umfeld sie möglicherweise kommen?

    Garrett: Für mich ganz persönlich nicht. Baseball-Mützen werden weltweit getragen, nicht nur in den USA, daraus kann man nicht unbedingt etwas schließen. Mir ist durch den Kopf gegangen, dass die Ereignisse in den letzten Stunden auf dem Campus von MIT stattgefunden haben. Ihr Korrespondent in den USA hat das mehrmals gesagt. Boston ist eine sehr dicht besiedelte Universitätsstadt, Harvard in der Nähe, MIT, weltweit renommierte Namen, und die ziehen natürlich sehr, sehr kluge Studierende und Professoren an und wir hatten in der amerikanischen Geschichte schon einmal in den 70er-, 80er-Jahren den sogenannten Una-Bomber Ted Kaczynski, der in Harvard studiert hat, und der hatte eine bestimmte Ideologie entwickelt. Nun, das ist pure Spekulation, aber vielleicht haben wir es mit Studierenden an der MIT zu tun, die ideologisch sehr geprägt sind, einige Ideen haben. Das weiß ich natürlich nicht. Aber das ist nur so ein Vergleich mit der Geschichte, wenn Sie so wollen.

    Heuer: Herr Garrett, sehen die beiden für Sie aus wie Elitestudenten?

    Garrett: Diejenigen, die am MIT studieren, sind absolute Elite. Es ist sehr, sehr schwer, …

    Heuer: Nein, nein, die beiden auf den Fotos. Entschuldigung!

    Garrett: Können Sie die Frage dann noch einmal formulieren?

    Heuer: Die beiden Männer auf den Fotos, die Verdächtigen, sehen die für Sie aus wie Elitestudenten, die in Harvard oder am MIT studieren?

    Garrett: Nein, das würde ich nicht behaupten. Es gibt unzählige Klamotten und Stile an den Eliteuniversitäten, alles sehr, sehr lässig bis sehr elitebedingt, Burbery und so weiter. Das kann ich selber nicht daraus lesen.

    Heuer: Sie haben den Una-Bomber angesprochen. Dieser Vergleich führt uns auf einen Pfad noch weiter in der Spekulation, Herr Garrett. Glauben Sie oder vermuten Sie am ehesten, dass es sich, obwohl es jetzt zwei Täter sind, eher doch um Einzeltäter, Verrückte handelt und nicht um organisierte Terroristen mit möglicherweise islamistischem Hintergrund?

    Garrett: Mit islamistischem Hintergrund, das möchte ich gar nicht in den Mund nehmen, gerade was die Vergangenheit angeht, nehmen wir Oklahoma City zum Beispiel Mitte der 90er-Jahre. Dort war der erste Verdacht: möglicherweise Islamisten! Und das war vollkommen die falsche Spur. Es war innenpolitischer Terrorismus, wenn wir so wollen. Von daher bin ich diesmal sehr vorsichtig. Einzeltäter möglicherweise. Manche Dinge machen keinen Sinn hier. Normalerweise, sei es Taliban oder wer auch immer, melden sie sich deutlich früher, aber in diesem Sinne haben wir absolut Funkstille bisher gehabt und das ist untypisch in solchen Fällen. Möglicherweise Einzeltäter der alten Weise, wie das abgelaufen ist, mit Zorn auf die Polizisten zu laufen und so weiter und so fort. Das könnte durchaus für Einzeltäter sprechen. Aber Sie haben es schon gesagt: Dies sind alles natürlich Spekulationen.

    Heuer: Wenn der Anschlag diese Hintergründe hat, die Sie gerade skizziert haben, gehen die Amerikaner dann rasch wieder zur Tagesordnung über?

    Garrett: Ich denke, Boston selber und das Land im größeren Sinne hat wirklich gezeigt, das wollen wir, wir lassen uns nicht einschüchtern. In diesem Sinne waren die letzten Tage fast ein politisches Statement in diesem Sinne. Ich würde sagen, insgesamt sehen wir in der Reaktion auf die ursprünglichen Anschläge und in den letzten Stunden: Da ist inzwischen eine Infrastruktur in den USA für solche Fälle aufgebaut worden, wie schnell die Behörden zum Beispiel miteinander arbeiten, koordinieren, die Bevölkerung hilft dazu. Dafür braucht man wirklich, wenn wir so wollen, eine Gesellschaft einzuschalten, um solche Resultate so schnell zu bekommen. In diesem Sinne nicht zurück zum täglichen Leben, das wird das Leben in den USA ändern, aber nicht unbedingt ängstlicher machen oder eingeschüchtert, aber jetzt ist eben eine neue Realität. Das kann man durchaus sagen.

    Heuer: Wenn es organisierter, möglicherweise islamistischer Terrorismus ist, Mr. Garrett, ist dann das Trauma von 9/11 wieder ganz lebendig in den USA?

    Garrett: Ja, das Trauma war vor Boston lebendig im Sinne von, sei es Afghanistan, sei es Irak, sei es einfach Gewalt und Terrorismus. Das ist inzwischen im täglichen Leben der USA eingewoben. Das sieht man an den Flughäfen, das sieht man in den Nachrichten, das ist einfach Teil des täglichen Lebens. Ob das gleichzeitig Trauma und Angst heißt, Ängste heißt, da bin ich ein bisschen vorsichtig. Aber natürlich wird mit dem 11. September verglichen. Aber die Ausmaße dieser Anschläge sind von einer völlig anderen Qualität natürlich und die Reaktionen darauf, würde ich auch sagen. Noch einmal: ruhiger, reifer, vorsichtiger, aber auch konsequenter und insgesamt fast, würde man sagen, erfahrener, wenn nicht professioneller im Sinne von die Behörden arbeiten enger und besser zusammen.

    Heuer: Der amerikanische Politikwissenschaftler Crister Garrett – ich danke Ihnen für das Gespräch.

    Garrett: Sehr gerne.


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