Stephan Detjen: Herr Minister, Frage an den Liberalen Guido Westerwelle. Welche Zukunft hat ein Land, das die Freiheit der Ökonomie gewährt, aber Grundfreiheiten der Politik, also freie Meinungsäußerung, auch die Würde des Einzelnen, die Freiheit des Einzelnen, ständig missachtet?
Guido Westerwelle: Auf Dauer wird keine Gesellschaft erfolgreich sein, die zwar zulässt, dass Privateigentum und Marktwirtschaft Wohlstand schaffen, aber die bürgerlichen Freiheitsrechte verwehrt. Und deswegen ist es wichtig, dass wir beides auch in einem Zusammenhang sehen. Andererseits wissen wir aus unserer eigenen Geschichte, dass das Prinzip Wandel durch Handel funktioniert, das heißt, mit wirtschaftlichem Austausch kommen auch freiheitliche Ideen in ein Land, mit wachsendem Wohlstand kommt auch mehr Bildung, und mit Bildung kommt Aufklärung. Und dann entwickelt sich in aller Regel auch eine Gesellschaft offener und freiheitlicher als zuvor.
Detjen: Wir führen, Herr Westerwelle, dieses Gespräch in China – in Hongkong, das ja zu China gehört mittlerweile. Sie befinden sich auf der Rückreise von den deutsch-chinesischen Regierungskonsultationen, Sie haben daran mit sechs Kabinettskollegen – einer Kollegin, Frau Schavan – teilgenommen. Da haben Sie in Peking Gespräche geführt mit Machthabern eines autoritären Einparteienregimes. Was für Politiker, was für Typen von Politikern sitzen Ihnen da gegenüber?
Westerwelle: Die ich dort getroffen habe, kannte ich ja ganz überwiegend schon vorher aus vielen Gesprächen. Wir haben ja einen Führungswechsel in China, und es ist wichtig, nicht nur die derzeitigen Verantwortlichen zu kennen, sondern auch die, die jetzt mutmaßlich kommen werden. Und natürlich gibt es in einem so großen Land trotz einer Einheitspartei, nämlich der KP China, unterschiedliche politische Denkschulen, unterschiedliche Richtungen. Es gibt einige, die sind doch etwas stärker im alten Denken verhaftet, andere sind moderner, auch gereist und kennen auch den Erfolg von freiheitlichen Gesellschaften. Und ich hoffe natürlich, dass dieser letzte Teil die Oberhand gewinnt.
Detjen: Sie haben den Wechsel der Führung angesprochen, der sich in den nächsten Wochen wahrscheinlich vollziehen soll – auf dem nächsten Parteikongress der kommunistischen Partei. Nachdem, was Beobachter erzählen, hat es da hinter den Kulissen heftige, zum Teil wohl brutale Titelkämpfe gegeben. Hat man Ihnen das mitgeteilt, dass es da solche Spannungen innerhalb der Führung gibt?
Westerwelle: Nein, ich glaube, das ist wie bei jedem Führungswechsel in solchen Systemen, dass es natürlich auch ein hartes Ringen hinter den Kulissen gibt. Aber das wird ja nicht nach außen getragen, das bekommen wir ja nur in den seltensten Fällen wirklich mit, nämlich wenn etwas Spektakuläres passiert ist, wie beispielsweise auch jüngst der Prozess gegen die Frau eines hohen Parteifunktionärs mit einem ganz anderen Hintergrund. . .
Detjen: . . . der selbst entmachtet und wahrscheinlich verschleppt worden ist . . .
Westerwelle: . . . ich kann darüber nicht spekulieren und möchte darüber auch nicht spekulieren. Aber es ist natürlich so, dass wir mit großer Aufmerksamkeit auch uns bemühen, die inneren Entwicklungen von China nachzuvollziehen. Aber man darf sich nicht einbilden, dass man alles aus den internen Entwicklungen ahnen oder vorahnen könnte. In jedem Fall sind wir aufgestellt und vorbereitet, auch mit den neuen Kräften in China die strategische Partnerschaft fortzusetzen. Und das ist das wichtigste Ergebnis auch in allen Gesprächen mit den heutigen, aber auch mit den künftigen Verantwortlichen: Man will die strategische Partnerschaft mit Deutschland fortsetzen. Man misst ihr große Bedeutung bei. Und obwohl wir so schwierige Fragen wie Pressefreiheit ansprechen, obwohl wir auf die Bürgerfreiheiten hinweisen, Menschenrechtsanwälte auch unterstützen, erkennen wir ja auch, dass trotzdem eine gute Zusammenarbeit – politisch wie wirtschaftlich – mit China unverändert möglich ist.
Detjen: Aber welche Konsequenzen das dann haben oder auch nicht haben kann, haben Sie ja bei Ihrem inzwischen vorletzten Besuch in China mitbekommen. Das war im April 2011, da haben Sie eine große Ausstellung eröffnet über die Kunst der Aufklärung in Peking. Ich glaube, 450.000 Menschen haben das gesehen. Aber kaum waren Sie aus China draußen, ist damals Ai Weiwei, der berühmte Künstler, verhaftet worden. Also, wie viel Misstrauen ist da auch geblieben nach dieser Erfahrung, die Sie da ja auch sehr persönlich gemacht haben?
Westerwelle: Ich habe mich ja, wie Sie wissen, nicht nur für das Schicksal von Ai Weiwei starkgemacht, und zwar nicht nur international, sondern auch in konkreten Gesprächen. Aber es geht hier darum, dass man auf keinen Fall die Bemühungen abbrechen darf. Und die in Deutschland doch häufiger kritisierte Ausstellung "Kunst der Aufklärung" in Peking hat immerhin fast eine halbe Million Menschen angezogen. Und wenn so viele Menschen dann plötzlich über Aufklärung und Aufklärungsideen, und zwar vermittelt über gute Kunst, historische Kunst, ins Nachdenken kommen, dann ist das auch ein kleiner Beitrag dazu, unsere werteorientierte Außenpolitik zu betreiben, denn wir machen ja nicht nur eine interessengeleitete Außenpolitik, das heißt, wir wollen ja nicht nur globale Fragen lösen oder uns als Handelsnation ins Spiel bringen für gute Geschäfte und gute Wirtschaftsinvestitionen und viele Arbeitsplätze, sondern wir machen ja auch eine werteorientierte Außenpolitik. Das heißt, dass wir selbst mit den Partnern, mit denen wir höchste geschäftliche Interessen haben, immer wieder das Thema Zivilgesellschaft, Bürgerrechte, Menschenrechte, Pressefreiheit ansprechen und auf den Tisch bringen.
Detjen: Aber die Gefahr ist ja, dass so etwas auch für das Gegenüber zum Ritual erstarrt. Da kommen die Deutschen, man weiß, mit denen muss man dieses Thema ansprechen – aber was muss man tun? Jetzt haben Sie es erlebt: Kurz bevor Sie kamen, haben sich die deutschen Korrespondenten, Journalisten beklagt über Repressionen, über Behinderungen ihrer Arbeit durch die chinesischen Behörden. Angela Merkel hat das am Donnerstag auf ihrer Pressekonferenz mit Ministerpräsident Wen Jiabao angesprochen, hat auch deutlich gemacht, dass sie Wirkung dieser Appelle, dieser Gespräche erwartet. Aber sehen Sie denn da eine Bewegung von Machthabern, deren Spielräume dann enden, wenn es um die alleinige Macht der Partei geht?
Westerwelle: Da muss man die kurzen Wellen sehen und man muss die langen Wellen nicht aus den Augen verlieren. Kurzfristig ist es immer ein Auf und Ab, langfristig, über die Jahrzehnte jetzt verfolgt, ist die Öffnung Chinas nicht zu leugnen. Und dazu trägt natürlich auch das Internet bei, selbst bei allen Zensurversuchen. Dazu tragen auch viele Menschenrechtsanwälte bei. Und so wie Sie zu recht auch das Schicksal von einem Künstler und auch von anderen ansprechen, so muss ich aber auch darauf hinweisen, dass wir vielen auch ganz konkret helfen konnten. Davon steht dann wenig in der Zeitung, weil wir es still im Rahmen einer klugen Diplomatie auch für die Menschen gelöst haben. Aber es ist natürlich auch ein Fortschritt allein schon dadurch zu erkennen, dass man heute auch in einer Pressekonferenz – neben dem Außenminister stehend oder die Bundeskanzlerin neben dem Premierminister stehend – diese Themen ansprechen kann. Ich habe es ja nun vor drei Jahren erlebt: Wenn man dort diese schwierigen Fragen angesprochen hat. Das war kurz auch vor den Olympischen Spielen, als ich mich das erste Mal mit China mehr befasst hatte – wenn man diese Fragen angesprochen hat, vor den Olympischen Spielen beispielsweise, gab es manche Fragezeichen. Wenn ich als neuer Außenminister vor drei Jahren solche Themen angesprochen habe, war es oft so, dass man zwar zugehört hat, aber dann anschließend ging die Fassade runter, das heißt, man hat dann einfach gemerkt: Hier ist jetzt dann ein Schluss des Gespräches erreicht worden. Heute wird zugehört, ist ein Dialog entstanden. Und das alleine ist ja schon ein wichtiger Fortschritt, dass die Dinge nicht nur intern, sondern auch öffentlich angesprochen werden können, ohne dass eine Reaktion kommt, die im Grunde genommen dann eine echte Beendigung des Gespräches ist.
Detjen: Das Interview der Woche im Deutschlandfunk, heute aus Hongkong auf der Rückreise von den deutsch-chinesischen Regierungskonsultationen. Sprechen wir mit dem Bundesaußenminister Guido Westerwelle. Herr Westerwelle, Sie hatten ein anderes heikles Thema auf der Agenda, das ist das Thema Syrien. China steht da fest in einer Allianz mit Russland, verhindert ein härteres Vorgehen gegen Syrien im Weltsicherheitsrat – während Sie mit dem chinesischen Außenminister Yang, Sie haben das eben erwähnt, gesprochen haben. lief im chinesischen Staatsfernsehen – wir Journalisten konnten das sehen – ein Interview mit Assad, der seinen Kampf gegen Aufständische und Rebellen begründete, verteidigt. Sehen Sie da irgendeine Bewegung Chinas?
Westerwelle: Wir haben eine strategische Partnerschaft mit China, und das heißt auch, dass wir alle Dinge ansprechen können – Wirtschaft, aber auch Rechtsstaatsdialog, aber eben auch viele außenpolitische Fragen. Und in der Syrien-Politik haben wir einen Meinungsunterschied, den man nicht verstecken kann. Wir sind natürlich nicht glücklich und erst recht nicht zufrieden mit dem Agieren von China und von Russland im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, denn wir sind der Überzeugung, dass die Zeit von Assad vorüber ist und dass wir den Menschen helfen sollten, indem die Gewalt beendet wird. Das wird nur mit einem friedlichen und demokratischen Neuanfang in Syrien ohne Assad möglich sein. Auf der anderen Seite: Mein Eindruck ist, dass es auch Fortschritte gegeben hat. Der Sechs-Punkte-Plan der Vereinten Nationen, von Kofi Annan begonnen, ist ja auch mit der Zustimmung von China zustande gekommen. Dieses ist bis heute die beste Grundlage auch für einen politischen Neuanfang, für eine politische Lösung. Wir werden deswegen auch in dieser Richtung weitermachen. Ich hoffe, dass die bemerkenswerte Rede, die der ägyptische Präsident Mursi jetzt in dieser Woche in Teheran gehalten hat, mit der klaren Bezeichnung der Verantwortlichkeit für die Gewalt beim Regime von Assad nicht ohne Wirkung bleibt – auch auf Peking. Denn China hat zweifelsohne auch strategische Interessen in der arabischen Welt. Und dass ein Schlüsselland wie Ägypten sich so klar einlässt zur Gewalt in Syrien, zu den Gewalttaten auch des Regimes von Assad zur Unterdrückung, das ist ganz sicherlich eine bedeutende Nachricht auch für die Länder, die derzeit noch in der Internationalen Gemeinschaft zögern und vielleicht auch noch andere strategische Interessen, die sie selbst haben als wichtiger nehmen.
Detjen: Herr Minister, lassen Sie uns auf die wirtschaftlichen Aspekte zu sprechen kommen des deutsch-chinesischen Verhältnisses, die bei diesem Treffen auch im Mittelpunkt standen – da wurden 18 Kooperationsverträge unterzeichnet. Aber das Verhältnis der Länder hat sich ja in den letzten Jahren drastisch verändert. Noch vor ein paar Jahren hat China Entwicklungshilfe aus Deutschland bezogen, heute treten Sie und die Bundeskanzlerin im Grunde als Bittsteller auf und müssen dafür werben, dass China auch in Zukunft weiter in den Euro, in europäische Staatsanleihen investiert – aus seinen gigantischen Währungsreserven.
Westerwelle: Nein, so sehe ich das nicht. Ich glaube, das ist eine Partnerschaft im gegenseitigen Interesse. Wir Deutschen haben ein großes Interesse daran, dass China in Deutschland, in Europa und natürlich auch in der Eurozone investiert, nicht nur übrigens, dass Staatsanleihen gekauft werden, sondern vor allen Dingen, dass auch wirtschaftlich handfeste Investitionen stattfinden. Dazu war unser Regierungsbesuch von wirklich großem Erfolg gekrönt. Das kann man in handfesten Zahlen und Bestellungen und Investments beziffern. Umgekehrt hat China auch ein großes Interesse an der Stabilität Europas, auch des Euros, denn das strategische Interesse Chinas ist es ja, dass der Dollar nicht die einzig wirkliche Weltwährung in der Welt ist. Der Euro ist ja eine sehr stabile Währung. Wir haben ja keine Eurokrise, wir haben eine Schuldenkrise in Europa. Und dass China auch die eigenen Investitionen diversifizieren will, das heißt, die eigene wirtschaftliche Kraft auch verteilen möchte auf verschiedene Beine und Säulen, das ist klug vorausgedacht.
Detjen: Aber Sie sind da auf einen sehr drängenden und besorgten Investor gestoßen. Ministerpräsident Jiabao hat öffentlich in seiner Pressekonferenz gesagt, er sei persönlich sehr besorgt. Das war sehr offen, unter chinesischen Gesichtspunkten gesagt nicht besonders 'gesichtswahrend'.
Westerwelle: Aber er hat gleichzeitig auch sein großes Vertrauen zum Ausdruck gebracht, nämlich dass mit der Hilfe und auch dem klaren Bekenntnis Deutschlands insbesondere Europa und die Eurozone aus diesen Schwierigkeiten herauskommen kann. Ich sehe auch zum ersten Mal ganz vorsichtig wieder Licht am Ende des Tunnels. Ich sehe, dass in den Schuldenländern, die sich jetzt auch diese Reformpolitik zur Aufgabe gemacht haben zum Beispiel die Produktivität erstmalig wieder etwas wächst. Ich sehe, dass Irland und Portugal auf einem guten Weg sind. Wir können erkennen, dass auch die Reformpolitik in Spanien und in Italien erstmalig zu wirken beginnt. Und es ist ganz wichtig, dass auch Griechenland sich daran ein Vorbild nimmt und erkennt, Reformen, die vereinbart worden sind, die müssen auch durchgesetzt werden, denn dann kommt das Vertrauen auch der Investoren zurück.
Detjen: Nach wie vor ist das Misstrauen ja überbordend. Sie sehen das ja auch hier in Hongkong. Unmittelbar, bevor Sie dieses Gespräch hier aufzeichnen, haben Sie eine Rede vor Wirtschafts- und Finanzvertretern gehalten. Da wurden Fragen an Sie gestellt. Man hat das auch im Auditorium in Gesprächen erlebt, wie groß die Skepsis ist, dass ein solches europäisches Projekt tatsächlich noch gelingen kann.
Westerwelle: Na ja, dass die Sorge groß ist, das ist doch verständlich. Wir haben ja schließlich in Europa diese Sorgen auch. Und ich habe auch als deutscher Außenminister eine große Sorge, wenn ich manche auch populistische Äußerungen in unserem eigenen Lande sehe, wo Europa zerredet wird. Einige reden ja zuhause so, in Deutschland, als würden sie meinen, dass das nirgendwo irgendein ausländischer Investor jemals zu Wort kriegt. Ich meine, wenn wir mit zum Teil ja durchaus auch Persönlichkeiten, die einen Namen haben in Deutschland, vor allen Dingen aus Bayern, dann den Euro zerreden oder ein Ausfransen der Eurozone herbeireden oder Europa insgesamt infrage stellen und es damit auf eine schiefe Bahn setzen, dann bleibt das nicht ohne Wirkung. Auch die Chinesen lesen unsere deutschen Zeitungen und kriegen schon genau mit, wie bei uns über Europa und den Euro gesprochen wird. Deswegen ist es für mich auch unpatriotisch, den Euro und Europa zu zerreden. Wir müssen unsere Arbeitsplätze schützen, wir müssen unsere Wirtschaft schützen. Und das schafft man, indem man die eigene Währung schützt. Und die eigene Währung muss stabil sein. Sie muss auch Vertrauen erwecken bei allen internationalen Investoren. Und deswegen ist es ganz entscheidend, dass die Bundesregierung sich nicht nur zu der eigenen Währung bekennt, sondern auch zur europäischen politischen Union. Das tun wir. Gleichzeitig sind wir der Überzeugung, die Reformen müssen vorangebracht werden. Sonst funktioniert es nicht. Und diese Dreisäulenstrategie, Solidarität, Haushaltsdisziplin plus Wachstum durch Reformen und Wettbewerbsfähigkeit, die ist überzeugend. Die ist übrigens auch in China sehr positiv gewürdigt worden.
Detjen: Gut. Das nächste entscheidende Wort kommt aus Karlsruhe. Am 12. September verkündet das Bundesverfassungsgericht seine Entscheidung über den ESM. Währe es auch unpatriotisch, wenn das Bundesverfassungsgericht hier den Kurs der Bundesregierung stoppen würde?
Westerwelle: Das Bundesverfassungsgericht ist ein weises Gericht, und es würde sich überhaupt nicht gehören von mir als Mitglied der Bundesregierung, irgendwelche Vorgaben zu machen. Ich habe selber mal Staatsrecht studiert, habe im Staatsrecht auch promoviert und erinnere mich noch, dass es in der Präambel des Grundgesetzes heißt, dem Frieden in der Welt zu dienen in einem vereinten Europa. In einem vereinten Europa dem Frieden in der Welt zu dienen. Europa ist die Grundlinie auch unserer Verfassung. Und ich bin deswegen voller Optimismus und auch Zuversicht, dass alle in Deutschland die Notwendigkeit der Vertiefung des europäischen Integrationsprozesses sehen.
Detjen: Bezieht sich das auch auf die Karlsruher Richterinnen und Richter?
Westerwelle: Nein. Die Karlsruher Richter sind völlig unabhängig. Sie haben bisher klug geurteilt. Das werden sie auch in Zukunft tun. Aber dass ich als Außenminister ein Interesse daran habe, dass wir die europäische Integration fortsetzen und dass die Maßnahmen, die wir ja mit mehr als einer Zweidrittelmehrheit im Deutschen Bundestag beschlossen haben und auch im Bundesrat beschlossen haben, dass die gültig werden, das muss man ja nicht verschweigen.
Detjen: Welchen Schaden würde es aus außenpolitischer Sicht verursachen, wenn das Bundesverfassungsgericht am 12. September gegen den ESM oder gegen eine deutsche Ratifizierung entscheiden würde?
Westerwelle: Darüber spekuliere ich nicht.
Detjen: […] Es geht um Vertrauen [...]
Westerwelle: Ich bitte um Verständnis, darüber spekuliere ich nicht. Ich habe großen Respekt vor unserem Bundesverfassungsgericht und auch ein großes Zutrauen in die Arbeit des Bundesverfassungsgerichtes und deshalb spekuliere ich nicht darüber, wie die Entscheidung ausgeht. Ich kann nur noch einmal sagen, die Präambel des Grundgesetzes ist ja eindeutig, nämlich dem Frieden in der Welt zu dienen in einem vereinten Europa. Also Europa ist der tragende Gedanke, die europäische Integration ist ja der tragende Gedanke auch unseres Grundgesetzes, unserer Verfassung. Und deswegen bin ich auch ganz zuversichtlich, dass die Politik der Bundesregierung, die ja hier diesen Kurs hat, nationale Interessen wahrzunehmen, unsere deutschen Wohlstandsinteressen wahrzunehmen, aber gleichzeitig auch zu erkennen, dass wir in einer globalisierten Welt mit neuen Kraftzentren nur gemeinsam als Europäer bestehen können, dass diese Politik auch viel Rückendeckung in Deutschland bekommen wird.
Detjen: Es wird auch vor dem Hintergrund dieses Verfahrens in Deutschland schon über Änderung des Grundgesetzes, möglicherweise eine Volksabstimmung über ein neues Grundgesetz nachgedacht. Sie haben auch auf der europäischen Ebene eine Initiative gestartet für eine europäische Verfassung. Müssen wir Demokratie, müssen wir Verfassung neu erfinden, um Europa zukunftsfähig zu machen?
Westerwelle: Das deutsche Grundgesetz ist die beste Verfassung, die es in Deutschland jemals gab. Die werden wir bestimmt nicht aufgeben. Es geht um die Frage, ob wir in Europa besser werden müssen, denn wir wollen ja nicht nur mehr Europa, sondern wir wollen ja ein besseres Europa. Wir wollen ein demokratischeres, transparenteres Europa. Wir wollen ein Europa, das handlungsfähig ist und effizient und das nicht meint, mit mehr Geld ließen sich die Probleme lösen, sondern indem das vorhandene Geld besser investiert wird in die Zukunft. Und ich glaube, dass diese politische Richtung eine große Mehrheit auch in unserem Volke hat. Wenn wir also eines Tages eine europäische Verfassung bekommen – der Versuch ist ja schon einmal gewagt worden –, dann muss eine wirkliche Gewaltenteilung darin auch vorgesehen sein, das heißt, ein europäisches Parlament, das wirklich entscheidet. Wir brauchen eine Kommission mit wirklichen exekutiven Befugnissen. Mir wäre es übrigens recht, wenn der Kommissionspräsident direkt in ganz Europa gewählt würde. Dann wäre nämlich auch jeder Kandidat verpflichtet, mit seinen Ideen auch in ganz Europa für sich zu werben. Und dann werden das, was die Räte heute sind, zur zweiten Kammer, also zu einer Vertretung auch der Landesinteressen. Und ich hoffe, dass wir eines Tages eine solche Verfassung zustande bringen. Der erste Versuch ist leider nicht geraten. Es hat nicht geklappt. Aufgeben darf man es auf keinen Fall. Und für eine solche Verfassung sollte dann auch eine Volksabstimmung vorgesehen sein. Und ich sage Ihnen voraus: Bei allem, was unsere Bürger zu Recht an Europa kritisieren, und mir fällt eine Menge ein, weil ich jede Woche in Europa unterwegs bin und auch manchen Missstand aus eigener Anschauung kenne, am Schluss weiß jeder in Deutschland, alleine kommen wir in der Welt nicht zurecht. Wie sollen wir denn alleine mit 80 Millionen Menschen gegenüber aufsteigenden Nationen bestehen wie China mit 1,3 Milliarden Menschen. Alleine in Indien, das ist die größte Demokratie der Erde, werden demnächst dreimal mehr Menschen leben als in der gesamten Europäischen Union. Wir sind doch neun Prozent der Weltbevölkerung mit abnehmender Tendenz. Und da kann ich uns nur raten – Deutschland ist in Europa relativ groß, in der Welt sind wir relativ klein –, lasst uns zusammenhalten als Europäer. Wir sind nicht nur eine Kulturgemeinschaft als Europa der Heimatländer, wir sind auch eine Schicksalsgemeinschaft. Und das muss man verstehen im Interesse des Wohlstandes unseres Landes.
Detjen: Bevor ein europäischer Präsident direkt gewählt wird oder die Deutschen über ein neues Grundgesetz abstimmen, gibt es erst mal eine Bundestagswahl im nächsten Herbst. Wie sehen Ihre Planungen für die Zeit danach aus, ganz persönlich? Wollen Sie als Außenminister weiter Europa gestalten, wenn die Wähler und die eigenen Parteifreunde Sie lassen?
Westerwelle: Ich mache mir, ehrlich gesagt, im Augenblick darüber Gedanken, wie wir das Staatsschiff, wie wir Deutschland durch dieses Unwetter bringen, das auf uns hereinprasselt. Und alles weitere wird dann die Zeit zeigen, denn es geht nicht um uns, um einzelne Politiker, es geht darum, dass wir unsere Aufgaben erfüllen und unserer Verantwortung gerecht werden. Und ich glaube, das ist etwas, was dann auch die Bürger im nächsten Jahr belohnen werden. Denn dass ich ein Anhänger dieser Koalition bin, verwundert nicht. Ich habe sie mal selber mit begründet. Und wenn ich mir ansehe, dass von der Opposition sogar die Vergemeinschaftung der Schulden in ganz Europa zulasten Deutschlands vorgeschlagen werden, dann, denke ich, sind wir mit dieser Regierung gerade in dieser Europasituation bestens aufgestellt.
Detjen: Herr Minister, vielen Dank, dass Sie sich hier in Hongkong am Rande Ihrer Asienreise Zeit für dieses Gespräch genommen haben.
Westerwelle: Ich danke Ihnen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Guido Westerwelle: Auf Dauer wird keine Gesellschaft erfolgreich sein, die zwar zulässt, dass Privateigentum und Marktwirtschaft Wohlstand schaffen, aber die bürgerlichen Freiheitsrechte verwehrt. Und deswegen ist es wichtig, dass wir beides auch in einem Zusammenhang sehen. Andererseits wissen wir aus unserer eigenen Geschichte, dass das Prinzip Wandel durch Handel funktioniert, das heißt, mit wirtschaftlichem Austausch kommen auch freiheitliche Ideen in ein Land, mit wachsendem Wohlstand kommt auch mehr Bildung, und mit Bildung kommt Aufklärung. Und dann entwickelt sich in aller Regel auch eine Gesellschaft offener und freiheitlicher als zuvor.
Detjen: Wir führen, Herr Westerwelle, dieses Gespräch in China – in Hongkong, das ja zu China gehört mittlerweile. Sie befinden sich auf der Rückreise von den deutsch-chinesischen Regierungskonsultationen, Sie haben daran mit sechs Kabinettskollegen – einer Kollegin, Frau Schavan – teilgenommen. Da haben Sie in Peking Gespräche geführt mit Machthabern eines autoritären Einparteienregimes. Was für Politiker, was für Typen von Politikern sitzen Ihnen da gegenüber?
Westerwelle: Die ich dort getroffen habe, kannte ich ja ganz überwiegend schon vorher aus vielen Gesprächen. Wir haben ja einen Führungswechsel in China, und es ist wichtig, nicht nur die derzeitigen Verantwortlichen zu kennen, sondern auch die, die jetzt mutmaßlich kommen werden. Und natürlich gibt es in einem so großen Land trotz einer Einheitspartei, nämlich der KP China, unterschiedliche politische Denkschulen, unterschiedliche Richtungen. Es gibt einige, die sind doch etwas stärker im alten Denken verhaftet, andere sind moderner, auch gereist und kennen auch den Erfolg von freiheitlichen Gesellschaften. Und ich hoffe natürlich, dass dieser letzte Teil die Oberhand gewinnt.
Detjen: Sie haben den Wechsel der Führung angesprochen, der sich in den nächsten Wochen wahrscheinlich vollziehen soll – auf dem nächsten Parteikongress der kommunistischen Partei. Nachdem, was Beobachter erzählen, hat es da hinter den Kulissen heftige, zum Teil wohl brutale Titelkämpfe gegeben. Hat man Ihnen das mitgeteilt, dass es da solche Spannungen innerhalb der Führung gibt?
Westerwelle: Nein, ich glaube, das ist wie bei jedem Führungswechsel in solchen Systemen, dass es natürlich auch ein hartes Ringen hinter den Kulissen gibt. Aber das wird ja nicht nach außen getragen, das bekommen wir ja nur in den seltensten Fällen wirklich mit, nämlich wenn etwas Spektakuläres passiert ist, wie beispielsweise auch jüngst der Prozess gegen die Frau eines hohen Parteifunktionärs mit einem ganz anderen Hintergrund. . .
Detjen: . . . der selbst entmachtet und wahrscheinlich verschleppt worden ist . . .
Westerwelle: . . . ich kann darüber nicht spekulieren und möchte darüber auch nicht spekulieren. Aber es ist natürlich so, dass wir mit großer Aufmerksamkeit auch uns bemühen, die inneren Entwicklungen von China nachzuvollziehen. Aber man darf sich nicht einbilden, dass man alles aus den internen Entwicklungen ahnen oder vorahnen könnte. In jedem Fall sind wir aufgestellt und vorbereitet, auch mit den neuen Kräften in China die strategische Partnerschaft fortzusetzen. Und das ist das wichtigste Ergebnis auch in allen Gesprächen mit den heutigen, aber auch mit den künftigen Verantwortlichen: Man will die strategische Partnerschaft mit Deutschland fortsetzen. Man misst ihr große Bedeutung bei. Und obwohl wir so schwierige Fragen wie Pressefreiheit ansprechen, obwohl wir auf die Bürgerfreiheiten hinweisen, Menschenrechtsanwälte auch unterstützen, erkennen wir ja auch, dass trotzdem eine gute Zusammenarbeit – politisch wie wirtschaftlich – mit China unverändert möglich ist.
Detjen: Aber welche Konsequenzen das dann haben oder auch nicht haben kann, haben Sie ja bei Ihrem inzwischen vorletzten Besuch in China mitbekommen. Das war im April 2011, da haben Sie eine große Ausstellung eröffnet über die Kunst der Aufklärung in Peking. Ich glaube, 450.000 Menschen haben das gesehen. Aber kaum waren Sie aus China draußen, ist damals Ai Weiwei, der berühmte Künstler, verhaftet worden. Also, wie viel Misstrauen ist da auch geblieben nach dieser Erfahrung, die Sie da ja auch sehr persönlich gemacht haben?
Westerwelle: Ich habe mich ja, wie Sie wissen, nicht nur für das Schicksal von Ai Weiwei starkgemacht, und zwar nicht nur international, sondern auch in konkreten Gesprächen. Aber es geht hier darum, dass man auf keinen Fall die Bemühungen abbrechen darf. Und die in Deutschland doch häufiger kritisierte Ausstellung "Kunst der Aufklärung" in Peking hat immerhin fast eine halbe Million Menschen angezogen. Und wenn so viele Menschen dann plötzlich über Aufklärung und Aufklärungsideen, und zwar vermittelt über gute Kunst, historische Kunst, ins Nachdenken kommen, dann ist das auch ein kleiner Beitrag dazu, unsere werteorientierte Außenpolitik zu betreiben, denn wir machen ja nicht nur eine interessengeleitete Außenpolitik, das heißt, wir wollen ja nicht nur globale Fragen lösen oder uns als Handelsnation ins Spiel bringen für gute Geschäfte und gute Wirtschaftsinvestitionen und viele Arbeitsplätze, sondern wir machen ja auch eine werteorientierte Außenpolitik. Das heißt, dass wir selbst mit den Partnern, mit denen wir höchste geschäftliche Interessen haben, immer wieder das Thema Zivilgesellschaft, Bürgerrechte, Menschenrechte, Pressefreiheit ansprechen und auf den Tisch bringen.
Detjen: Aber die Gefahr ist ja, dass so etwas auch für das Gegenüber zum Ritual erstarrt. Da kommen die Deutschen, man weiß, mit denen muss man dieses Thema ansprechen – aber was muss man tun? Jetzt haben Sie es erlebt: Kurz bevor Sie kamen, haben sich die deutschen Korrespondenten, Journalisten beklagt über Repressionen, über Behinderungen ihrer Arbeit durch die chinesischen Behörden. Angela Merkel hat das am Donnerstag auf ihrer Pressekonferenz mit Ministerpräsident Wen Jiabao angesprochen, hat auch deutlich gemacht, dass sie Wirkung dieser Appelle, dieser Gespräche erwartet. Aber sehen Sie denn da eine Bewegung von Machthabern, deren Spielräume dann enden, wenn es um die alleinige Macht der Partei geht?
Westerwelle: Da muss man die kurzen Wellen sehen und man muss die langen Wellen nicht aus den Augen verlieren. Kurzfristig ist es immer ein Auf und Ab, langfristig, über die Jahrzehnte jetzt verfolgt, ist die Öffnung Chinas nicht zu leugnen. Und dazu trägt natürlich auch das Internet bei, selbst bei allen Zensurversuchen. Dazu tragen auch viele Menschenrechtsanwälte bei. Und so wie Sie zu recht auch das Schicksal von einem Künstler und auch von anderen ansprechen, so muss ich aber auch darauf hinweisen, dass wir vielen auch ganz konkret helfen konnten. Davon steht dann wenig in der Zeitung, weil wir es still im Rahmen einer klugen Diplomatie auch für die Menschen gelöst haben. Aber es ist natürlich auch ein Fortschritt allein schon dadurch zu erkennen, dass man heute auch in einer Pressekonferenz – neben dem Außenminister stehend oder die Bundeskanzlerin neben dem Premierminister stehend – diese Themen ansprechen kann. Ich habe es ja nun vor drei Jahren erlebt: Wenn man dort diese schwierigen Fragen angesprochen hat. Das war kurz auch vor den Olympischen Spielen, als ich mich das erste Mal mit China mehr befasst hatte – wenn man diese Fragen angesprochen hat, vor den Olympischen Spielen beispielsweise, gab es manche Fragezeichen. Wenn ich als neuer Außenminister vor drei Jahren solche Themen angesprochen habe, war es oft so, dass man zwar zugehört hat, aber dann anschließend ging die Fassade runter, das heißt, man hat dann einfach gemerkt: Hier ist jetzt dann ein Schluss des Gespräches erreicht worden. Heute wird zugehört, ist ein Dialog entstanden. Und das alleine ist ja schon ein wichtiger Fortschritt, dass die Dinge nicht nur intern, sondern auch öffentlich angesprochen werden können, ohne dass eine Reaktion kommt, die im Grunde genommen dann eine echte Beendigung des Gespräches ist.
Detjen: Das Interview der Woche im Deutschlandfunk, heute aus Hongkong auf der Rückreise von den deutsch-chinesischen Regierungskonsultationen. Sprechen wir mit dem Bundesaußenminister Guido Westerwelle. Herr Westerwelle, Sie hatten ein anderes heikles Thema auf der Agenda, das ist das Thema Syrien. China steht da fest in einer Allianz mit Russland, verhindert ein härteres Vorgehen gegen Syrien im Weltsicherheitsrat – während Sie mit dem chinesischen Außenminister Yang, Sie haben das eben erwähnt, gesprochen haben. lief im chinesischen Staatsfernsehen – wir Journalisten konnten das sehen – ein Interview mit Assad, der seinen Kampf gegen Aufständische und Rebellen begründete, verteidigt. Sehen Sie da irgendeine Bewegung Chinas?
Westerwelle: Wir haben eine strategische Partnerschaft mit China, und das heißt auch, dass wir alle Dinge ansprechen können – Wirtschaft, aber auch Rechtsstaatsdialog, aber eben auch viele außenpolitische Fragen. Und in der Syrien-Politik haben wir einen Meinungsunterschied, den man nicht verstecken kann. Wir sind natürlich nicht glücklich und erst recht nicht zufrieden mit dem Agieren von China und von Russland im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, denn wir sind der Überzeugung, dass die Zeit von Assad vorüber ist und dass wir den Menschen helfen sollten, indem die Gewalt beendet wird. Das wird nur mit einem friedlichen und demokratischen Neuanfang in Syrien ohne Assad möglich sein. Auf der anderen Seite: Mein Eindruck ist, dass es auch Fortschritte gegeben hat. Der Sechs-Punkte-Plan der Vereinten Nationen, von Kofi Annan begonnen, ist ja auch mit der Zustimmung von China zustande gekommen. Dieses ist bis heute die beste Grundlage auch für einen politischen Neuanfang, für eine politische Lösung. Wir werden deswegen auch in dieser Richtung weitermachen. Ich hoffe, dass die bemerkenswerte Rede, die der ägyptische Präsident Mursi jetzt in dieser Woche in Teheran gehalten hat, mit der klaren Bezeichnung der Verantwortlichkeit für die Gewalt beim Regime von Assad nicht ohne Wirkung bleibt – auch auf Peking. Denn China hat zweifelsohne auch strategische Interessen in der arabischen Welt. Und dass ein Schlüsselland wie Ägypten sich so klar einlässt zur Gewalt in Syrien, zu den Gewalttaten auch des Regimes von Assad zur Unterdrückung, das ist ganz sicherlich eine bedeutende Nachricht auch für die Länder, die derzeit noch in der Internationalen Gemeinschaft zögern und vielleicht auch noch andere strategische Interessen, die sie selbst haben als wichtiger nehmen.
Detjen: Herr Minister, lassen Sie uns auf die wirtschaftlichen Aspekte zu sprechen kommen des deutsch-chinesischen Verhältnisses, die bei diesem Treffen auch im Mittelpunkt standen – da wurden 18 Kooperationsverträge unterzeichnet. Aber das Verhältnis der Länder hat sich ja in den letzten Jahren drastisch verändert. Noch vor ein paar Jahren hat China Entwicklungshilfe aus Deutschland bezogen, heute treten Sie und die Bundeskanzlerin im Grunde als Bittsteller auf und müssen dafür werben, dass China auch in Zukunft weiter in den Euro, in europäische Staatsanleihen investiert – aus seinen gigantischen Währungsreserven.
Westerwelle: Nein, so sehe ich das nicht. Ich glaube, das ist eine Partnerschaft im gegenseitigen Interesse. Wir Deutschen haben ein großes Interesse daran, dass China in Deutschland, in Europa und natürlich auch in der Eurozone investiert, nicht nur übrigens, dass Staatsanleihen gekauft werden, sondern vor allen Dingen, dass auch wirtschaftlich handfeste Investitionen stattfinden. Dazu war unser Regierungsbesuch von wirklich großem Erfolg gekrönt. Das kann man in handfesten Zahlen und Bestellungen und Investments beziffern. Umgekehrt hat China auch ein großes Interesse an der Stabilität Europas, auch des Euros, denn das strategische Interesse Chinas ist es ja, dass der Dollar nicht die einzig wirkliche Weltwährung in der Welt ist. Der Euro ist ja eine sehr stabile Währung. Wir haben ja keine Eurokrise, wir haben eine Schuldenkrise in Europa. Und dass China auch die eigenen Investitionen diversifizieren will, das heißt, die eigene wirtschaftliche Kraft auch verteilen möchte auf verschiedene Beine und Säulen, das ist klug vorausgedacht.
Detjen: Aber Sie sind da auf einen sehr drängenden und besorgten Investor gestoßen. Ministerpräsident Jiabao hat öffentlich in seiner Pressekonferenz gesagt, er sei persönlich sehr besorgt. Das war sehr offen, unter chinesischen Gesichtspunkten gesagt nicht besonders 'gesichtswahrend'.
Westerwelle: Aber er hat gleichzeitig auch sein großes Vertrauen zum Ausdruck gebracht, nämlich dass mit der Hilfe und auch dem klaren Bekenntnis Deutschlands insbesondere Europa und die Eurozone aus diesen Schwierigkeiten herauskommen kann. Ich sehe auch zum ersten Mal ganz vorsichtig wieder Licht am Ende des Tunnels. Ich sehe, dass in den Schuldenländern, die sich jetzt auch diese Reformpolitik zur Aufgabe gemacht haben zum Beispiel die Produktivität erstmalig wieder etwas wächst. Ich sehe, dass Irland und Portugal auf einem guten Weg sind. Wir können erkennen, dass auch die Reformpolitik in Spanien und in Italien erstmalig zu wirken beginnt. Und es ist ganz wichtig, dass auch Griechenland sich daran ein Vorbild nimmt und erkennt, Reformen, die vereinbart worden sind, die müssen auch durchgesetzt werden, denn dann kommt das Vertrauen auch der Investoren zurück.
Detjen: Nach wie vor ist das Misstrauen ja überbordend. Sie sehen das ja auch hier in Hongkong. Unmittelbar, bevor Sie dieses Gespräch hier aufzeichnen, haben Sie eine Rede vor Wirtschafts- und Finanzvertretern gehalten. Da wurden Fragen an Sie gestellt. Man hat das auch im Auditorium in Gesprächen erlebt, wie groß die Skepsis ist, dass ein solches europäisches Projekt tatsächlich noch gelingen kann.
Westerwelle: Na ja, dass die Sorge groß ist, das ist doch verständlich. Wir haben ja schließlich in Europa diese Sorgen auch. Und ich habe auch als deutscher Außenminister eine große Sorge, wenn ich manche auch populistische Äußerungen in unserem eigenen Lande sehe, wo Europa zerredet wird. Einige reden ja zuhause so, in Deutschland, als würden sie meinen, dass das nirgendwo irgendein ausländischer Investor jemals zu Wort kriegt. Ich meine, wenn wir mit zum Teil ja durchaus auch Persönlichkeiten, die einen Namen haben in Deutschland, vor allen Dingen aus Bayern, dann den Euro zerreden oder ein Ausfransen der Eurozone herbeireden oder Europa insgesamt infrage stellen und es damit auf eine schiefe Bahn setzen, dann bleibt das nicht ohne Wirkung. Auch die Chinesen lesen unsere deutschen Zeitungen und kriegen schon genau mit, wie bei uns über Europa und den Euro gesprochen wird. Deswegen ist es für mich auch unpatriotisch, den Euro und Europa zu zerreden. Wir müssen unsere Arbeitsplätze schützen, wir müssen unsere Wirtschaft schützen. Und das schafft man, indem man die eigene Währung schützt. Und die eigene Währung muss stabil sein. Sie muss auch Vertrauen erwecken bei allen internationalen Investoren. Und deswegen ist es ganz entscheidend, dass die Bundesregierung sich nicht nur zu der eigenen Währung bekennt, sondern auch zur europäischen politischen Union. Das tun wir. Gleichzeitig sind wir der Überzeugung, die Reformen müssen vorangebracht werden. Sonst funktioniert es nicht. Und diese Dreisäulenstrategie, Solidarität, Haushaltsdisziplin plus Wachstum durch Reformen und Wettbewerbsfähigkeit, die ist überzeugend. Die ist übrigens auch in China sehr positiv gewürdigt worden.
Detjen: Gut. Das nächste entscheidende Wort kommt aus Karlsruhe. Am 12. September verkündet das Bundesverfassungsgericht seine Entscheidung über den ESM. Währe es auch unpatriotisch, wenn das Bundesverfassungsgericht hier den Kurs der Bundesregierung stoppen würde?
Westerwelle: Das Bundesverfassungsgericht ist ein weises Gericht, und es würde sich überhaupt nicht gehören von mir als Mitglied der Bundesregierung, irgendwelche Vorgaben zu machen. Ich habe selber mal Staatsrecht studiert, habe im Staatsrecht auch promoviert und erinnere mich noch, dass es in der Präambel des Grundgesetzes heißt, dem Frieden in der Welt zu dienen in einem vereinten Europa. In einem vereinten Europa dem Frieden in der Welt zu dienen. Europa ist die Grundlinie auch unserer Verfassung. Und ich bin deswegen voller Optimismus und auch Zuversicht, dass alle in Deutschland die Notwendigkeit der Vertiefung des europäischen Integrationsprozesses sehen.
Detjen: Bezieht sich das auch auf die Karlsruher Richterinnen und Richter?
Westerwelle: Nein. Die Karlsruher Richter sind völlig unabhängig. Sie haben bisher klug geurteilt. Das werden sie auch in Zukunft tun. Aber dass ich als Außenminister ein Interesse daran habe, dass wir die europäische Integration fortsetzen und dass die Maßnahmen, die wir ja mit mehr als einer Zweidrittelmehrheit im Deutschen Bundestag beschlossen haben und auch im Bundesrat beschlossen haben, dass die gültig werden, das muss man ja nicht verschweigen.
Detjen: Welchen Schaden würde es aus außenpolitischer Sicht verursachen, wenn das Bundesverfassungsgericht am 12. September gegen den ESM oder gegen eine deutsche Ratifizierung entscheiden würde?
Westerwelle: Darüber spekuliere ich nicht.
Detjen: […] Es geht um Vertrauen [...]
Westerwelle: Ich bitte um Verständnis, darüber spekuliere ich nicht. Ich habe großen Respekt vor unserem Bundesverfassungsgericht und auch ein großes Zutrauen in die Arbeit des Bundesverfassungsgerichtes und deshalb spekuliere ich nicht darüber, wie die Entscheidung ausgeht. Ich kann nur noch einmal sagen, die Präambel des Grundgesetzes ist ja eindeutig, nämlich dem Frieden in der Welt zu dienen in einem vereinten Europa. Also Europa ist der tragende Gedanke, die europäische Integration ist ja der tragende Gedanke auch unseres Grundgesetzes, unserer Verfassung. Und deswegen bin ich auch ganz zuversichtlich, dass die Politik der Bundesregierung, die ja hier diesen Kurs hat, nationale Interessen wahrzunehmen, unsere deutschen Wohlstandsinteressen wahrzunehmen, aber gleichzeitig auch zu erkennen, dass wir in einer globalisierten Welt mit neuen Kraftzentren nur gemeinsam als Europäer bestehen können, dass diese Politik auch viel Rückendeckung in Deutschland bekommen wird.
Detjen: Es wird auch vor dem Hintergrund dieses Verfahrens in Deutschland schon über Änderung des Grundgesetzes, möglicherweise eine Volksabstimmung über ein neues Grundgesetz nachgedacht. Sie haben auch auf der europäischen Ebene eine Initiative gestartet für eine europäische Verfassung. Müssen wir Demokratie, müssen wir Verfassung neu erfinden, um Europa zukunftsfähig zu machen?
Westerwelle: Das deutsche Grundgesetz ist die beste Verfassung, die es in Deutschland jemals gab. Die werden wir bestimmt nicht aufgeben. Es geht um die Frage, ob wir in Europa besser werden müssen, denn wir wollen ja nicht nur mehr Europa, sondern wir wollen ja ein besseres Europa. Wir wollen ein demokratischeres, transparenteres Europa. Wir wollen ein Europa, das handlungsfähig ist und effizient und das nicht meint, mit mehr Geld ließen sich die Probleme lösen, sondern indem das vorhandene Geld besser investiert wird in die Zukunft. Und ich glaube, dass diese politische Richtung eine große Mehrheit auch in unserem Volke hat. Wenn wir also eines Tages eine europäische Verfassung bekommen – der Versuch ist ja schon einmal gewagt worden –, dann muss eine wirkliche Gewaltenteilung darin auch vorgesehen sein, das heißt, ein europäisches Parlament, das wirklich entscheidet. Wir brauchen eine Kommission mit wirklichen exekutiven Befugnissen. Mir wäre es übrigens recht, wenn der Kommissionspräsident direkt in ganz Europa gewählt würde. Dann wäre nämlich auch jeder Kandidat verpflichtet, mit seinen Ideen auch in ganz Europa für sich zu werben. Und dann werden das, was die Räte heute sind, zur zweiten Kammer, also zu einer Vertretung auch der Landesinteressen. Und ich hoffe, dass wir eines Tages eine solche Verfassung zustande bringen. Der erste Versuch ist leider nicht geraten. Es hat nicht geklappt. Aufgeben darf man es auf keinen Fall. Und für eine solche Verfassung sollte dann auch eine Volksabstimmung vorgesehen sein. Und ich sage Ihnen voraus: Bei allem, was unsere Bürger zu Recht an Europa kritisieren, und mir fällt eine Menge ein, weil ich jede Woche in Europa unterwegs bin und auch manchen Missstand aus eigener Anschauung kenne, am Schluss weiß jeder in Deutschland, alleine kommen wir in der Welt nicht zurecht. Wie sollen wir denn alleine mit 80 Millionen Menschen gegenüber aufsteigenden Nationen bestehen wie China mit 1,3 Milliarden Menschen. Alleine in Indien, das ist die größte Demokratie der Erde, werden demnächst dreimal mehr Menschen leben als in der gesamten Europäischen Union. Wir sind doch neun Prozent der Weltbevölkerung mit abnehmender Tendenz. Und da kann ich uns nur raten – Deutschland ist in Europa relativ groß, in der Welt sind wir relativ klein –, lasst uns zusammenhalten als Europäer. Wir sind nicht nur eine Kulturgemeinschaft als Europa der Heimatländer, wir sind auch eine Schicksalsgemeinschaft. Und das muss man verstehen im Interesse des Wohlstandes unseres Landes.
Detjen: Bevor ein europäischer Präsident direkt gewählt wird oder die Deutschen über ein neues Grundgesetz abstimmen, gibt es erst mal eine Bundestagswahl im nächsten Herbst. Wie sehen Ihre Planungen für die Zeit danach aus, ganz persönlich? Wollen Sie als Außenminister weiter Europa gestalten, wenn die Wähler und die eigenen Parteifreunde Sie lassen?
Westerwelle: Ich mache mir, ehrlich gesagt, im Augenblick darüber Gedanken, wie wir das Staatsschiff, wie wir Deutschland durch dieses Unwetter bringen, das auf uns hereinprasselt. Und alles weitere wird dann die Zeit zeigen, denn es geht nicht um uns, um einzelne Politiker, es geht darum, dass wir unsere Aufgaben erfüllen und unserer Verantwortung gerecht werden. Und ich glaube, das ist etwas, was dann auch die Bürger im nächsten Jahr belohnen werden. Denn dass ich ein Anhänger dieser Koalition bin, verwundert nicht. Ich habe sie mal selber mit begründet. Und wenn ich mir ansehe, dass von der Opposition sogar die Vergemeinschaftung der Schulden in ganz Europa zulasten Deutschlands vorgeschlagen werden, dann, denke ich, sind wir mit dieser Regierung gerade in dieser Europasituation bestens aufgestellt.
Detjen: Herr Minister, vielen Dank, dass Sie sich hier in Hongkong am Rande Ihrer Asienreise Zeit für dieses Gespräch genommen haben.
Westerwelle: Ich danke Ihnen.
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