Archiv


"Wir müssen ja gar nicht für die Knesset wählen"

Israel übernimmt den Gazastreifen und das Westjordanland und gewährt den Palästinensern Bürgerrechte wie Bildung und Versammlungsfreiheit, diese verzichten im Gegenzug auf politische Rechte. Das ist der Vorschlag des Präsidenten der Al-Quds-Universität in Jerusalem, Sari Nusseibeh.

Sari Nusseibeh im Gespräch mit Jasper Barenberg |
    Jasper Barenberg: Für Sari Nusseibeh ist der sogenannte Friedensprozess zwischen Israel und den Palästinensern lange schon zu einer Farce geworden, weil jüdische Siedlungen mit einer halben Million Bewohnern die palästinensischen Gebiete zerschneiden, weil in Israel selbst inzwischen 20 Prozent der Staatsbürger palästinensischer Herkunft sind, weil sich beide Bevölkerungsgruppen das Land also de facto bereits heute teilen, teilen müssen. Zumindest für eine Übergangszeit sollte Israel deshalb das Westjordanland und den Gazastreifen übernehmen und den Palästinensern dort bürgerliche Rechte gewähren. Im Gegenzug würden die Palästinenser zunächst jedenfalls auf politische Rechte verzichten. Über diesen Vorschlag habe ich vor dieser Sendung mit Sari Nusseibeh sprechen können und ihn zunächst gefragt, ob er die Zwei-Staaten-Lösung bereits für endgültig gescheitert hält.

    Sari Nusseibeh: Ja, das ist kein schlechter Ausgangspunkt für ein Gespräch. Ich glaube, man muss in der Tat den möglichen Wundern Platz einräumen, so dass sie geschehen können. Da ich an Wunder glaube, meine ich, dass tatsächlich Möglichkeit für etwas Außergewöhnliches besteht. Und wenn man sich dann aber wieder die Tatsachen vor Ort anschaut und sich überlegt, wie die Politik sich tatsächlich entwickelt hat, dann wird man schon zugeben müssen, dass eine klassische, eine übliche Zwei-Staaten-Lösung doch unwahrscheinlich ist. Damit haben Sie vollkommen recht.

    Barenberg: Lassen Sie uns also über Ihr Gedankenexperiment sprechen. Die Palästinenser würden dabei vorerst auf ihre Forderung nach einem unabhängigen Staat verzichten und im Gegenzug so etwas wie Bürger zweiter Klasse eines größeren Staates Israel werden. Warum sollten die Palästinenser dem zustimmen?

    Nusseibeh: Ja, die Lage sollte vielleicht noch anders dargestellt werden - in dem Sinne, dass man sich eine dritte Option offen hält, die lange nicht offen war: Nämlich nachdem die Palästinenser seit 43, 44 Jahren keine Bürgerrechte in dem ganzen Land gehabt haben, in dem sie leben, sollte man sich etwas anderes überlegen. Da sie eben immer gehofft haben, irgendwann einen unabhängigen eigenen Staat zu bekommen, und da dies unmöglich war, sollte man eine dritte Möglichkeit offen halten, nämlich dass sie eben doch die Bürgerrechte in dem Staat bekommen, in dem sie leben - immer in der Hoffnung, dass sie später einmal entweder doch einen demokratischen, säkularen, binationalen Staat erreichen, oder eben eine Zwei-Staaten-Lösung, wobei diese beiden Staaten dann miteinander in einem Staatenbund leben sollten.

    Barenberg: Zu den Bürgerrechten würde die Krankenversicherung zählen, Bildung, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, nicht aber das Recht zu wählen und das Recht, in ein Amt gewählt zu werden. Aber kann man die Forderung nach Bürgerrechten von der Forderung nach politischen Rechten trennen?

    Nusseibeh: Wenn Sie fragen, ob politische Rechte ohne Bürgerrechte möglich sind, dann sage ich, das ist nicht möglich. Selbstverständlich kann es politische Rechte ohne Bürgerrechte nicht geben. Wenn man aber umgekehrt fragt, müssen Bürgerrechte immer auch die vollen politischen Teilhaberechte bedingen, so kann man sagen, nein, nicht notwendigerweise. Sie führen häufig zu voller politischer Teilhabe. Ich möchte also sagen, das Argument, das Israel immer dagegen vorbringt, wenn uns volle Bürgerrechte zugestanden würden, dann würden wir letztlich die Israelis an Zahl bald übertreffen, die Palästinenser würden also diesen Staat übernehmen, da würde ich sagen, man könnte auch einen dritten Weg einschlagen. Die Israelis sollten dieses Argument dagegen, sich geopolitisch zu öffnen, nicht weiter verwenden. Sie brauchen diese Ausrede nicht, sondern ich sage, gebt uns die Bürgerrechte, ohne Angst zu haben, dass wir dadurch auch die vollen politischen Rechte bekommen würden. Ich würde sagen, wir müssen ja gar nicht für die Knesset wählen, wir brauchen nicht Abgeordnete oder Minister zu werden, wir brauchen nur die vollen Bürgerrechte. Wenn sich das dann in 10, 15, 20 Jahren entwickelt, wie wir es wünschen, dann könnte man immer noch überlegen, entweder einen Einheitsstaat mit voller demokratischer Struktur zu errichten, oder eben, was ich für wahrscheinlicher halte, eine Art Föderation, eine Art Staatenbund zwischen zwei Gebilden.

    Barenberg: Für wie realistisch halten Sie eine Zustimmung Israels zu Ihrem Vorschlag?

    Nusseibeh: Nun, in Israel ist ja die Mehrheit antidemokratisch eingestellt, sie werden eine solche Lösung also akzeptieren. Insbesondere die rechts gerichteten Israelis sind doch sicherlich bereit, uns die Bürgerrechte zu geben, ohne uns die vollen politischen Rechte einzuräumen. Sie wollen ja insbesondere auch das ganze Land unter ihre Herrschaft bringen. Sie glauben ja, es gehöre ihnen, einschließlich des Westjordanlandes und des Gazastreifens. Sie sollten also gegen diese vorgeschlagene Lösung gar nichts einwenden können. Es ist von ihnen sogar mehr Unterstützung für diese Option zu erwarten als von Seiten der Linken, die ja üblicherweise für die Zwei-Staaten-Lösung eintritt.

    Barenberg: Sie haben gesagt, dass die Zwei-Staaten-Lösung im Moment keinerlei Aussicht auf Erfolg hat. Sollten die USA, Europa, die Bundesregierung und die internationale Gemeinschaft dieses Ziel also zu den Akten legen?

    Nusseibeh: Lassen Sie mich nur das sagen: Leider ist die Staatengemeinschaft in ihrem Denken sehr viel langsamer als die Geschichte. Die Staatengemeinschaft hätte seit langem bereits diese Lösung anerkennen und unterstützen müssen. Sie ist erst kürzlich dazu aufgewacht und jetzt ist es bereits zu spät, weil eben die Geschichte sehr viel schneller voranschreitet als die Gedanken. Während die Politiker jetzt allmählich erwachen und diese Möglichkeit in Erwägung ziehen, ist es wohl schon zu spät. Aber eben deswegen sage ich, gut, mögen sie weiter mit dieser Zwei-Staaten-Lösung voranschreiten und an ihr arbeiten, ich schließe ja wie gesagt Wunder nicht aus. Zugleich rate ich aber, sich bereits zu öffnen und zu überlegen, ob man nicht anderes andenken könnte: Ist es nicht vielleicht möglich, statt dieser Zwei-Staaten-Lösung eine Art Föderation oder Konföderation von Staatengebilden anzustreben. Ist es vielleicht möglich, eine "road map", einen Kalender aufzustellen, innerhalb dessen man den Palästinensern die Bürgerrechte einräumt und zugleich auch die Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten der Palästinenserbehörde geografisch erweitert.

    Barenberg: Wie wird Ihr Vorschlag auf Seiten der Palästinenser aufgenommen?

    Nusseibeh: Nehmen wir doch einmal an, dass Israel tatsächlich das Angebot macht und allen Menschen diese Bürgerrechte einräumt - in dem Sinne, dass zum Beispiel Menschen in Gaza, in einem Landstrich, der ja seit zehn, 15 Jahren im Belagerungszustand lebt, dass diese Menschen jetzt herauskommen können, dass sie frei arbeiten können, dass sie Zugang zur Grundversorgung haben. Dann würden doch die meisten Bewohner im Gazastreifen dem zustimmen, und das Gleiche gilt auch für das Westjordanland. Nehmen wir dann an, dass in einem zweiten Schritt, begleitend zu diesem Angebot, ein politischer Prozess einsetzt, der allmählich dann die Menschen wieder zusammenführt und hinarbeitet auf eine derartige Föderation. Na, ich nehme an, dass die meisten Menschen das wirklich begrüßen würden.

    Barenberg: Und was wird in diesem Falle aus der palästinensischen Autonomiebehörde?

    Nusseibeh: Ich glaube in der Tat, wenn dieser Endzustand eine Art Bundesstaat oder Staatenbund ist, dann würde ich doch vorschlagen, dass man zunächst mal weiterhin die Palästinenserbehörde stärkt, indem man sie sowohl horizontal wie vertikal ausbaut, also durch die Zuweisung von mehr Land und durch die Stärkung der Zuständigkeiten, und wenn man zugleich damit auch allen Palästinensern die Bürgerrechte einräumt und dann irgendwann schaut, in fünf oder zehn Jahren, wenn sich das so weit entwickelt hat, dass die Palästinenserbehörde tatsächlich groß genug ist, um die Regierung des palästinensischen Volkes zu sein. Und wenn diese Regierung dann auch Frieden mit der Regierung Israels schließt, dann könnte man darüber nachdenken, einen gemeinsamen geowirtschaftlichen Raum Israel-Palästina zu eröffnen, eine Art Staatenbund oder Bundesstaat, in dem auch diese beiden Regierungen dann miteinander bestehen können, die jüdische und die palästinensische Regierung.

    Barenberg: Sari Nusseibeh, Präsident der arabischen Al-Quds-Universität in Jerusalem. "Ein Staat für Palästina - Plädoyer für eine Zivilgesellschaft in Nahost", so der Titel seines Buches, das in diesen Tagen auf Deutsch erschienen ist.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.