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"Wir sind ein Arbeiter- und Angestelltenstaat"

Obwohl in den Feuilletons die neue Bürgerlichkeit ausgerufen wird, ist Birger Priddat, Professor für politische Ökonomie an der Zeppelin-Universität in Friedrichshafen, eher skeptisch. Eine neue Bürgerlichkeit würde erst dort beginnen, wo wir "nicht mehr an die Parteien delegieren, sondern wir selber viel mehr Politik machen wollen".

Moderation: Christine Heuer |
    Christine Heuer: Günther Jauch ist angeblich ihr Gesicht, jedenfalls im Fernsehen, Freiheit ihr Wesen und irgendetwas zwischen Konservatismus und gesundem Menschenverstand ihr Fundament. Die neue Bürgerlichkeit ist da, sagen ihre Verfechter. Magazine titeln mit dem Phänomen, Wissenschaftler versuchen es zu erkunden und die Feuilletonisten machen sich so ihre Gedanken. Gibt es diese neue Bürgerlichkeit wirklich? Worin sollte sie bestehen und kann sie überhaupt bestehen in dem Rahmen, den die deutsche Politik ihr setzt? Darum soll es jetzt gehen im Gespräch mit Birger Priddat. Er ist Ökonom und Philosoph. Er ist Professor für politische Ökonomie an der privaten Zeppelin-Universität in Friedrichshafen. Guten Morgen Herr Priddat!

    Birger Priddat: Schönen guten Morgen!

    Heuer: Was ist das, eine Feuilleton-Debatte, mehr nicht, oder gibt es wirklich so etwas wie eine neue Bürgerlichkeit in Deutschland?

    Priddat: Ich glaube nicht. Ich glaube, dass es momentan eher ein Wunschtraum ist. Wunschtraum heißt, dass die Bürger sich mehr einmischen möchten oder sollten in die Politik. Faktisch sind wir aber überhaupt nicht gewohnt, das zu tun. Unser Wohlfahrtsstaat hat uns verwöhnt und wir sind im Grunde Bürger dieses Staates.
    Bei dem Wort "Bürger" muss man vielleicht noch ein bisschen differenzieren. Bei Hegel gibt es die schöne Unterscheidung zwischen "Bourgeois" und "Citoyen". Der Citoyen ist der, der vereinfacht qua Einwohnerschaft Bürger ist, und der Bourgeois ist der, der durch eigenes Handeln selbständig ist, der sich am Markt gewissermaßen unternehmerisch die alten Qualitäten des Bürgertums Selbständigkeit, denn Freiheit beruht auf Selbständigkeit, erworben hat. Dieses Moment, das ist bei uns ja nicht sehr stark. Das Unternehmertum wird nicht besonders gefördert. Es gibt gar keine besondere positive Vision des Unternehmerischen, damit nicht der Selbständigen.

    Wir sind im Grunde, wenn Sie so wollen, ein Arbeiter- und Angestelltenstaat und ein Angestellter ist letzthin kein Bürger. Natürlich als Einwohner schon, aber nicht in diesem alten Sinne des Bourgeois. Das ist das Moment, was eigentlich an die Politik kommt. Die alten Bürger haben natürlich ihre Städte selbst gestaltet. Erst wenn wir dieses Moment fördern, dass wir wieder gestalten wollen, wenn wir im Grunde nicht mehr an die Parteien delegieren, sondern wir selber viel mehr Politik machen wollen, dann beginnt tatsächlich erst die neue Bürgerlichkeit. Da ich das Moment nicht so richtig sehe, traue ich dieser Diskussion nicht.

    Heuer: Sie haben gesagt, die neue Bürgerlichkeit sei ein Wunschtraum der Einwohner, sage ich jetzt einmal. Ist es auch ein Wunschtraum der Politik? Welches Interesse hätten denn Politiker an dieser Debatte?

    Priddat: Eigentlich gar nicht, weil das ist ja Gefährdung ihrer Parteiposition. Ich meine wir haben die neue Bürgerlichkeit natürlich in gewissem Sinne im lokalen Bereich, wenn freie Wählergemeinschaften gebildet werden. Die werden ja aus Unmut gegenüber der Politik gebildet, an die man sozusagen bisher das Gemeinwohl delegiert hat. Sie haben es anscheinend nicht gut genug gemacht; also macht man es selber. Dieses Moment ist in den Kommunen, im Süddeutschen glaube ich stärker als im Norddeutschen, präsent. Wenn wir uns überhaupt einen Typus vorstellen sollen, was diese neue Bürgerlichkeit wäre, dann würde ich sagen nehmen wir doch da solche Lokalpolitiker, die die Sache der Gemeinde oder ihrer Kommune selbst in die Hand nehmen. Das würde ich mir vorstellen. Das könnte der Typus des neuen Bürgerlichen sein. Bloß ich sehe keinen großen Trend.

    Heuer: Je kleiner sozusagen das Umfeld, in dem man aktiv werden kann, umso wahrscheinlicher ist es, dass Bürger sich tatsächlich beteiligen als Bürger?

    Priddat: Ja, weil sie auch ein großes Wissen um ihre Lebensumstände haben. Diese Qualität können sie einbringen in die Politik. Bei den großen nationalen und internationalen Fragen traut man sich dann ja nicht so. Da denkt man, man ist unwissend und will das eher Professionellen oder scheinbar Professionellen, den Politikern überlassen. Das heißt wir haben so eine Art Beauftragungsdemokratie. Wir beauftragen den Politiker, für uns die Politik zu machen, und dann wollen wir aber mit der Politik eigentlich lange Zeit nichts zu tun haben.

    Heuer: Also liegt es auch an den Bürgern selber, nicht nur an den Umständen?

    Priddat: Allemal! Das ist natürlich eine alte deutsche Tradition. Das deutsche Bürgertum hat sich im 19. Jahrhundert im Grunde die Freiheit von der Politik erkauft. Das heißt sie haben ihre Handelsfreiheit gehabt und ihre Bewegungsfreiheit auch in den Städten und der Kaiser hat nachher die Politik gemacht. Das ist etwas, was in Deutschland noch bis jetzt im Kopfe ist. Politik ist im Grunde etwas Öffentliches und Bürgerliches ist privat. Erst wenn wir sozusagen das Bürgerliche öffentlich machen, wenn wir wieder sagen, dass die Bürger die Öffentlichkeit sind, dass im Grunde die Bürger der Staat sind, wenn wir das begreifen, erst dann können wir tatsächlich davon ausgehen, dass wir eine neue Bürgerlichkeit bekommen würden. Ich muss es sehr vorsichtig formulieren.

    Heuer: Welche Eigenschaften, Herr Priddat, müsste denn so ein Bürger haben? Was konstituiert ihn?

    Priddat: Na ja, er darf nicht abhängig sein. Die klassische Definition bei John Lord - das ist natürlich jetzt 17. Jahrhundert ist -, dass er so viel Eigentum hat, dass er in der Politik unabhängig ist. Alle Leute, die angestellt sind, sind natürlich nicht unabhängig. Gerade bei uns in der Politik alle, die sozusagen beim Staat angestellt sind, haben ja gewissermaßen Interesse, zumindest ihre Position nicht zu gefährden durch Politik.

    Heuer: Nun konnte man den Bürger früher ja auch negativ näher bestimmen, indem man ihn abgegrenzt hat zum Beispiel gegen das Proletariat. Das gibt es ja irgendwie auch nicht mehr.

    Priddat: Das Proletariat? Da würde ich sagen haben wir ja eine einigermaßen vernünftige Entwicklung in den letzten 150 Jahren gehabt, dass durch Arbeit niemand mehr arm wird, sondern einigermaßen davon leben kann. Er wird auch nicht reich; das wäre ja auch gelogen. Da haben wir so eine Art Verkleinbürgerlichung des Arbeiters. Man hat ein kleines Vermögen, man kann in Urlaub fahren, man kann sich ein Auto kaufen, man kann teilweise sogar auf ein Haus sparen. Das sind Dinge, an die ein Arbeiter früher überhaupt nicht denken konnte. In dem Sinne haben wir eine Verkleinbürgerlichung des Proletariats und wir haben vielleicht auch eine Verangestelltung des Bürgerlichen. Das heißt alle sind in abhängiger Beschäftigung und nicht mehr selbständig.

    Wissen Sie bürgerlich, wenn ich das noch mal aufnehmen darf aus diesen älteren Diskussionen, bedeutet, dass wir einen viel höheren Anteil an Selbständigen hätten. Handwerker und Unternehmer, auch kleine Unternehmer, das wäre sozusagen das Potential für das Bürgerliche. Das muss jetzt nicht der Manager sein. Der Manager ist ja auch nur ein Angestellter und eigentlich auch kein Bürger, sondern jemand, der selbständig für sein Leben, für seine Arbeit und sogar für Leute, die bei ihm beschäftigt sind, verantwortlich ist, der ist jemand, der gewissermaßen dann auch kompetent ist, weil er ja für seinen Kreis das sowieso macht, auch die Politik mitzugestalten. Das ist so das alte Ideal, an dem ich mich auch ein wenig orientiere.

    Heuer: Und das tun Sie mit Begeisterung, wie wir hören können, Herr Priddat.

    Priddat: Ja. Ich komme aus einer alten bürgerlichen Familie aus Ostpreußen, der natürlich alles dann genommen wurde.

    Heuer: Trotzdem auch an Sie die Frage. Brauchen wir eine solche Bürgerlichkeit überhaupt, oder ist die Zeit über diese Bürgerlichkeit im Grunde hinweggegangen?

    Priddat: Da würde ich, wenn Sie mich so auf dieses emphatisch Alte festnageln, denn doch gerne dabei bleiben. Ich finde, dass wir einen gehörigen Schuss Unabhängigkeit des Denkens, das auch mit der Unabhängigkeit des Einkommens ein wenig zusammenhängt, in Deutschland sehr gut brauchen könnten. Wir sind viel zu sehr ich nenne es mal verwohlfahrtsstaatlicht und abhängig. Wir denken ja noch in den Kategorien "der Staat soll es für uns machen". Wir begreifen ja gar nicht, dass wir selbst der Staat sind. Der Staat ist doch nur eine Service-Agentur, in unserem Auftrag die Dinge zu erledigen, die wir privat nicht erledigen können. Dieses Bewusstsein, das ist in anderen Ländern stärker. Dieses Bewusstsein in Deutschland nachzuholen, also ich würde sagen die zweite Phase der Demokratisierung könnte langsam beginnen. Die erste ist ja gelungen. Wir wollen ja nicht mehr den Kaiser oder sonst irgendwelche autoritären Staatsformen haben. Trotzdem wollen wir aber, dass der Staat uns beliefert. Es ist so eine Art Konsumanstalt, die uns die Wohlfahrt liefert. dass wir selbst diese Wohlfahrt erarbeiten müssen, dass wir teilweise viel mehr für uns selber tun müssen, zum Beispiel in Fragen der Bildung oder Fragen der Kindergärten, warum muss das alles der Staat machen? Warum können das die Bürger nicht selbst organisieren und selbst natürlich auch investieren? Organisieren heißt ja nicht nur, die Stimme zu heben und von anderen Geld zu kriegen, sondern selbst Arbeit und Geld reinzugeben. Das würde Bürgerlichkeit bedeuten. Wenn Herr Jauch das Symbol dafür sein sollte, dann wäre das okay.

    Heuer: Danke schön! - Birger Priddat war das mit einem leidenschaftlichen Plädoyer für die Bürgerlichkeit in Deutschland. Er ist Ökonom und Philosoph und Professor an der Zeppelin-Universität in Friedrichshafen. Herr Priddat, vielen Dank!

    Priddat: Gerne!