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"Wir sind ja etwas, wir sind gar nicht ohnmächtig"

Joachim Gauck, geboren am 24. Januar 1940 in Rostock, Pfarrer. Mitbegründer des Neuen Forums, Abgeordneter der Volkskammer, danach zehn Jahre lang erster Bundesbeauftragter der nach ihm benannten Behörde für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik.

26.11.2009
    Gauck ist augenblicklich Vorsitzender der Vereinigung "Gegen Vergessen – Für Demokratie".

    Joachim Gauck: Vor der Einheit kam die Freiheit, denkt dran, liebe Landsleute!

    Die unblutige Revolution.

    Rainer Burchardt: Herr Gauck, in diesem November – es ist 20 Jahre nach dem Mauerfall – kommen viele Gedanken hoch, bei Beteiligten und Nichtbeteiligten im Westen und im Osten. In Ihrem Buch, das Sie geschrieben haben mit dem Titel "Winter im Sommer – Frühling im Herbst" dringt eigentlich durch, dass Sie sagen, na ja gut, der Mauerfall war auch irgendwas, aber das, was davor war, war viel wichtiger, und das, was dann kam, erst recht. Was hat Sie zu diesem Schluss gebracht?

    Gauck: Ja, das ist einfach aus dem Gefühl heraus geurteilt. Natürlich ist der Mauerfall nicht irgendetwas und so stelle ich es auch nicht dar, sondern es ist ein großes, klingendes Ereignis, ein wunderschönes Bild, ein Symbol geworden. Das hat sich ins Gedächtnis der Deutschen eingegraben, vielleicht sogar ganz Europas und großer Teile der Welt: Mauern können fallen. Das ist ein so schönes Bild, großartig. Aber noch erhebender war für uns – und darauf zielen Sie ab –, die wir aktiv waren 1989 innerhalb der DDR dieses Gefühl der Befreiung. Und die Befreiung beginnt eben dann, wenn die so lange Ohnmächtigen plötzlich erkennen: Wir sind ja etwas, wir sind gar nicht ohnmächtig, wir sind das Volk. Und ich bin geradezu verliebt in diesen Satz, den ich für den schönsten Satz der deutschen Politikgeschichte halte, weil er so stark ist. Er hat uns so stark gemacht und er hat die, die uns beherrscht haben, schwach gemacht.

    Burchardt: Als Willy Brandt da mal sagte, jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört – waren Sie da optimistisch oder haben Sie da gesagt, mein lieber Mann, das ist aber eine Utopie?

    Gauck: Nein, ich war eher optimistisch. Ich bin hinterher etwas skeptischer geworden. Ich war optimistisch und es war auch so, es waren diese Tage der Freude, und wir waren eigentlich gar nicht ganz normal, wir waren also so abgehoben und es hängt wieder mit dieser Erfahrung von Freiheit zusammen. Das ist ganz schwer zu vermitteln für Menschen, die nie in Unfreiheit gelebt haben, was Befreiung bedeutet. Und dieses rauschhafte Glück – ja, wir sind es, nein, wir sind zu 70.000, das ist ja nicht zu glauben, und die schießen uns nicht zusammen, also, wir sind auf der Siegerstraße – und dieses Freiheitsgefühl hat uns so erhoben, also, ich sage dann immer: Vor der Einheit kam die Freiheit, denkt daran, liebe Landsleute! Diese Bewegung für Freiheit und Demokratie ist ja in der deutschen Geschichte nicht so übermäßig großartig mit Ereignissen ausgestattet. Und das ist eben so ein Hochgefühl gewesen und das ging eigentlich den ganzen Winter über noch, und im neuen Jahr, na ja, da fing es dann an bei den ersten, der Streit: Wohin soll es gehen?

    Burchardt: Da materialisierte sich auch sehr vieles. Herr Gauck, Sie waren ja Pastor in Rostock, und es dringt so ein bisschen durch, dass Sie gerade in der Zeit der Leipziger Demonstrationen sich – ich sage jetzt mal ein bisschen flapsig –, sich im Norden abgehängt gefühlt haben, auch von der Bedeutsamkeit der Bewegung, die es bei Ihnen ja auch gab. Was ist da eigentlich geschehen, dass das im Norden eigentlich alles ein bisschen später passierte?

    Gauck: Na ja, wenn wir jetzt im Norddeutschen Rundfunk wären, würde ich sagen: Wir sind halt ein bisschen langtörsch. Für die anderen Deutschen muss ich das übersetzen: Wir sind vielleicht langsamer im Gemüt und langsamer in unseren Entscheidungen, die Mentalität der Bevölkerung dort ist eher konservativ, was sie mal an geworden ist, wie man dort sagt, das bleibt erst mal eine Zeit. Das war immer so bei Übergängen. Bismarck wollte nach Mecklenburg, wenn die Welt untergeht, denn dann, so sagte er, dort würde alles 50 Jahre später passieren. Und na ja, also, wir waren nun nicht 50 Jahre später, sondern nur, sagen wir mal, 10 bis 14 Tage später als die Leipziger auf der Straße. Und es gibt auch Menschen, die bezeichnen den Norden als rot, auch wegen der Wahlergebnisse dort – die ehemalige Staatspartei und ihre Nachfolger bekommen da immer noch einen sehr hohen Stimmenanteil. Nun ja, das hängt ein bisschen damit zusammen, dass wir nicht die Flinksten sind, aber wenn es losgeht, dann mächtig gewaltig.

    Burchardt: Der Einheitstag ist der 3. Oktober geworden. Halten Sie das für ein richtiges Datum?

    Gauck: Nein, eigentlich nicht. Also, es ist nicht besonders gefühlsbeladen. Immer wieder werde ich gefragt: Wäre nicht der 9. November das bessere Datum? Und wir kennen die Debatten darum und ich kenne sie auch sehr intensiv und weiß um diese Ambivalenz des Datums. Man könnte allerdings trotzdem es zum Nationalfeiertag machen, aber dann würden die Leipziger sagen, nein, ganz falsch – vor der Einheit kam die Freiheit, und wir brauchen ein kraftvolles Datum, das eben ein Freiheitszeugnis ablegt. Und das ist der 9. Oktober, erste machtvolle Demo in Leipzig.

    Burchardt: Ein Wort vielleicht noch zu Rostock und zu Ihrem damaligen Umfeld: Sie waren Seelsorger, und wenn Sie in die Seelen der Menschen, der geplagten Menschen nach 40 Jahren SED-Diktatur, hineingeschaut haben: War Ihnen eigentlich bewusst, unabhängig vom Mauerfall, da entsteht ein Wunsch – Sie hatten den Begriff Freiheit ja schon genannt –, ein Wunsch, der ist überhaupt nicht mehr in irgendeiner Form noch zu verändern und dieser Wunsch wird auch ganz schnell in eine Einheit führen, so wie es dann ja auch gekommen ist?

    Gauck: Das war mir bekannt, als ich zum ersten Mal erlebt habe, dass meine so angepassten Landsleute tatsächlich es wagen, auf der Straße zu behaupten, sie seien das Volk. Da habe ich gemerkt: Jetzt hat sich was verändert. Diese jahrelange Herrschaft der Angst, die zu einem so ganz DDR-typischen Anpassungssyndrom geführt hat – das ist ja ein völlig anderes Lebensgefühl gewesen als etwa in unserem Nachbarland Polen: Da waren wir doch vorsichtiger.

    Burchardt: Die Parole hat sich dann ja verändert von "Wir sind das Volk" in "Wir sind ein Volk". War das ein Prozess oder ging das schlagartig? Könnten Sie den Zeitpunkt genau benennen, als das passierte?

    Gauck: Einige empfanden es als schlagartig. Es kam relativ plötzlich und war dennoch aus einem Prozess heraus gewachsen. Tragischerweise sind Mitverursacher dieses Themenwechsels diejenigen, die besonders früh und besonders nachhaltig gegen die SED-Diktatur opponiert haben. Das waren die Vertreter der Bürgerbewegung, die – eher von links kommend oder aus einer linksliberalen Grundhaltung – das System angegriffen haben, die zum Teil auch einen verbesserlichen Sozialismus gewollt haben. Und im Neuen Forum etwa, der größten damaligen Bürgerbewegung, der ich angehörte, da waren viele Intellektuelle der Ansicht, es ginge eigentlich um eine Demokratisierung des vorhandenen Systems, Freiheit und Demokratie in das System. Während wir noch immer darüber nachdachten – es gab auch viele Schriftsteller, gerade hier im Ostberliner Milieu, Stefan Heim, Christa Wolf, in diesem Milieu –, ja, stellt euch vor, es ist Sozialismus und keiner läuft weg, so fragten die sich, und jetzt ist doch endlich Freiheit, jetzt können wir es versuchen. Und dann steht dem gegenüber eine große Menge zum Teil auch weniger ausgebildeter Menschen, die aber auch weniger in ideologischen Rastern dachten, sondern die eine natürlichere Wahrnehmungsart hatten, von dem, was machbar ist und was nicht machbar ist. Sie schauten uns an und fragten: Ja, was ist denn nun? Was soll denn nun werden?

    Burchardt: War da Ungeduld?

    Gauck: Ja, da war Ungeduld in der Bevölkerung. Und was ist denn euer dritter Weg? Dann konnte niemand die Ökonomie des dritten Weges benennen, und da ist der Grund, wo ich sehr schnell Realo werde, und bin dann ... von einigen meiner Freunde habe ich mich trennen müssen oder sie haben sich von uns getrennt, sie haben gesagt, nein, wir wollten was Eigenes. Dann haben wir sie gefragt: Und, wie sieht die Wirtschaftsform aus? Ja, das wissen sie nicht, aber sie haben ihre Visionen, und jetzt soll doch mal was Neues kommen. Ich sage: Da vorne stehen aber die Werktätigen, also die arbeitenden Menschen, und fragen: Was wird morgen sein? Du musst den nächsten Schritt definieren. Und so kam es dann zu einer, sagen wir mal, sehr rationalen Entscheidung aus der Mitte der Bevölkerung: Wir sind ein Volk. Und das hieß übersetzt: Ehe ihr euch zu recht ausdiskutiert habt mit eurem dritten Weg, nehmen wir mal das, was schon existiert, das weniger Schlechte, wir nehmen mal die Demokratie vom Rhein. Das ist die Botschaft, die da drin steckt, und einige linke Intellektuelle mochten es so nicht verstehen, sondern haben gesagt: Der Kohl hat denen Geld und Bananen geben und dann hat er das praktisch eingekauft. Nun, das ist eine wirklich üble Unterschätzung dessen, was in einer Bevölkerung abgeht in solchen Zeiten.

    Burchardt: Aber war nicht die Gefahr und ist sie nicht bis heute eigentlich latent immer da, dass man auch sagt – bei allem Anerkenntnis, auch gerade aus westlicher Sicht, dieser friedlichen, unblutigen Revolution –, dass man sagt, die materialisierte sich aber auch sehr schnell?

    Gauck: Nun ja, ich meine, ich höre das ganz gerne, aber weniger gerne aus einer Bevölkerung heraus, bei der Wohlstand und materielle Sicherheit so eine übergroße Bedeutung hat. Wissen Sie, es ist schon eigenartig, dass in den westdeutschen Milieus, die ihre eigene Besitzstandswahrung viel wichtiger nimmt als den Gedanken der Freiheit, dass ausgerechnet aus diesen Milieus die Frage kommt: Und? Habt ihr nicht nur materielle Interessen gehabt? Da fasse ich mich an die Birne, ja, war das denn jemals anders bei Revolutionen? Hat es nicht immer Menschen gegeben, denen es nur um Brot ging oder um mehr Einkünfte? Und andere, denen ging es um politische Rechte, um Freiheit, um Rechtsstaat.

    Burchardt: Ich würde ganz gern jetzt mal mit einem Trauma anfangen, das Sie erlebt haben, das ist der Zweite Weltkrieg gewesen. Sie sind Jahrgang 1940, Sie waren fünf Jahre alt, als der Krieg zu Ende war. Haben Sie noch konkrete Erinnerungen und welche möglicherweise auch traumatischen Erfahrungen haben Ihren Weg in die Theologie bestimmt?

    Gauck: An das Kriegsende habe ich nur dürftige Kindererinnerungen, und die sind ein bisschen angereichert durch diese frühen Erzählungen, die man dann im Familienkreis hört. Manchmal weiß man nicht mehr genau: Habe ich es selber ... kann ich es erinnern oder ist es frühes Erzählgut, was sich in mir aufbewahrt hat? Und als ich nun meine Erinnerungen niedergeschrieben habe, sind mir doch noch wieder erstaunlicherweise Dinge zugekommen oder zugewachsen.

    Burchardt: Sie haben sehr konkret etwas beschrieben, als Sie drei Jahre alt waren.

    Gauck: Ja, ich sitze im Keller. Ich bin drei Jahre und ich habe eine Erinnerung an den Krieg, ich sitze im Keller, es ist Fliegeralarm und ich muss irgendwie die Angst der Erwachsenen gespürt haben. Deshalb hat sich mir das eingegraben. Bei Kriegsende sehe ich die Russen, die sehe ich noch deutlich vor mir, und wie sie unsere Uhren und Fahrräder und sonst noch was haben wollten, das wäre noch gegangen, das mit den Frauen war schlimmer, das war eine bittere Zeit für alle Menschen, die weiblich waren, damals, und das kriegt man als Fünfjähriger nicht mit. Aber das fängt sofort an, dass du Frauen siehst, die sich verstecken und dann die Erzählungen, das kriegt man doch ein bisschen mit. Also, das sind eher wilde Erinnerungen, da bricht Unordnung in das Leben eines Kindes ein. Und etwas später, ich bin schon ein Schulkind, ein elfjähriger Junge, passiert dann das, was eben in der Nachkriegszeit einige im Osten erlebt haben: Der Vater wird abgeholt und verschwindet. Wir wissen zwar ...

    Burchardt: Von den Russen.

    Gauck: Ja, er wird von den Russen abgeholt, was wir nicht wissen, er wird unter Vorspiegelung falscher Tatsachen in die Werft gelockt, er war Seemann und hatte einen seemännischen Beruf, aber an Land, und wird gerufen zu einem Unfall und taucht nirgendwo auf, und wird zweieinhalb Jahre weg sein. Mutter und Großmutter versuchen verzweifelt, vom Volkspolizisten bis hin zum Staatspräsidenten, zu erfahren, wo ist der Mann? Niemand kennt ihn. Das prägt dann doch. Ich bin elf und habe noch drei jüngere Geschwister, die Familie fällt sofort in Armut, das ist ein Trauma, ja.

    Burchardt: Hat sich dann irgendwann mal ergeben, weswegen, welches war wirklich der wahrheitliche, vorgeschobene Grund?

    Gauck: Ja, also, erstens, der Mann ist, wie viele andere in der Stalin-Zeit, völlig unschuldig hochgezogen worden. Er kam in eins der sowjetischen Militärtribunale in Schwerin, am Demmlerplatz tagte das. Es hat unendlich viele Deutsche aus dem Norden verurteilt, meinen Vater zu zwei Mal 25 Jahren Zwangsarbeit, und er kam – obwohl die DDR schon existierte – nach Sibirien, in die Gegend hinter den Baikalsee, und hat dort Sklavenarbeit machen müssen bis 1955. Dann kamen diese weggefangenen Leute zurück, zusammen mit den letzten deutschen Kriegsgefangenen, die 1955 zurückgeführt wurden. Das war die Zeit, als Konrad Adenauer die diplomatischen Beziehungen aufnahm mit der Sowjetunion. Ja, und der Vater hat dann erzählt, warum er hochgezogen wurde und verurteilt wurde. Er ist zusammen mit drei anderen Seemannskollegen verhaftet worden, weil sie jemand kannten aus ihrer Gruppe, der in den Westen abgehauen war. Und der hatte versucht, Kontakte aufzunehmen und der wurde beschuldigt, mit dem Geheimdienst im Westen zusammengearbeitet zu haben und in Stalins Zeiten war es so: Hatten die Häscher erst eine Person, dann fand sich das Delikt. So muss man sich das vorstellen. Und die wurden so behandelt, dass die notfalls alles unterschrieben. Das war eben Stalinismus.

    Musikeinspielung

    Gauck: Der Tod Stalins war für uns unglaublich grotesk.

    Sprecher: DDR und Stalinismus.

    Burchardt: Wie war denn damals Ihr Lebensgefühl als Heranwachsender? Ich unterstelle mal, Sie waren 11, 12, 13 Jahre alt, das ist dann auch die pubertäre Zeit, ohne Vater aufzuwachsen, umzingelt von lauter Frauen, gut meinenden Frauen unterstelle ich ganz einfach mal, gleichzeitig sieht man: Der Stalinismus, der greift Platz, 1953 stirbt Stalin, was für ein Gefühl hat das bei Ihnen da ausgelöst?

    Gauck: Der Tod Stalins war für uns unglaublich grotesk, wir zu Hause und alle anständigen Menschen waren voller Freude, und in den Schulen und ...

    Burchardt: Durfte man das zeigen?

    Gauck: Nein, natürlich nicht. ... und in den Schulen und Betrieben der Eltern fanden groteske, überbordende – als wenn ein Papst oder was weiß ich, ein Heiland stirbt – Veranstaltungen statt, die Menschen zerflossen vor Trauer, einige heulten wirklich, und andere taten wenigstens so als ob. Die Schulkinder waren dann auch pflichtgemäß ein bisschen ergriffen, natürlich ich überhaupt nicht, und meine Freunde – wir waren eigentlich so eine Clique, die war immer dagegen – auch nicht. Es gab damals noch sehr viele Leute, die waren sehr realistisch und waren überhaupt nicht sozialistisch. Wir waren eher westlich eingestellt, hörten westliche Musik und hörten den Norddeutschen Rundfunk oder Nordwestdeutschen Rundfunk, wie er damals hieß.

    Burchardt: Hat Sie das denn überhaupt nicht interessiert, hat Sie das kalt gelassen? Oder haben Sie gesagt, das ist doch lächerlich?

    Gauck: Nein, es hat mich nicht kalt gelassen. Ich musste ja die Gedichte auswendig lernen, ich musste die Lieder, die Gedichte auswendig lernen, ich kriegte gute Zensuren, wenn ich das rote Zeug aufsagte, und schlechte, wenn ich protestierte. Ich habe beides versucht. Ich konnte beides, und es war mir nachher zu unwürdig, immer für eine Eins die Phrasen runterzuschreiben. Und ich habe dann so einen Mittelweg gesucht. Oft bin ich explodiert, weil ich die Lügen nicht aushalten konnte in der Schule. Wohlmeinende Lehrer haben dann freundliche Briefe nach Hause geschrieben und bösartige haben einen schlecht zensiert. Aber es war im Rückblick eine sehr interessante Zeit, die Brutalität einer wirklich terroristischen Staatsmacht und die kleinen Tricks der Bevölkerungsgruppen, die nun dagegen waren oder auch von Lehrern, die zum Teil total anständig waren, aber irgendwie sich ja verhalten mussten.

    Burchardt: Man musste sich arrangieren wahrscheinlich.

    Gauck: Ja.

    Gauck: Wir haben natürlich am Westrundfunk gehangen, Tag und Nacht, was passiert.

    Proteste im Osten.

    Burchardt: Herr Gauck, Anfang März starb Stalin, zweieinhalb Monate später, Mitte Juno, waren die Arbeiter auf der Straße in der DDR, vor allen Dingen in Berlin. War das die unmittelbare Auswirkung davon oder war das der, ja, vielleicht dann auch noch mal letzte Versuch, ein Stück Freiheit zurückzuerkämpfen?

    Gauck: Na ja, es war eigentlich eine wunderbare, kämpferische Bewegung und sie kamen aus der Arbeiterklasse, das hat ja die Kommunisten so verunsichert. Deshalb hat man alles versucht eben, Westberliner Provokateure zu finden, die das nun gemacht hätten, und einige unserer Dichter und Denker sind auf diesen Zug aufgesprungen. Peinlich, peinlich, was wir von einigen der Großdichter da gehört haben. Aber es war eine Bewegung aus der Mitte des Volkes, und sie hat in 700 Orten stattgefunden, nicht nur in der DDR, und die Arbeiter in Rostock auf der Werft haben gestreikt, in Stralsund, überall, ganz besonders in Mitteldeutschland, wo es eine große Streikbewegung gegeben hat, in Halle, Bitterfeld.

    Burchardt: Haben Sie damals überlegt, Mensch, wenn jetzt mein Vater da wäre ...?

    Gauck: Ja, nein, ich habe überlegt: wenn ich älter wäre ... ich wurde natürlich ... ich war 13 und die Mutter hat natürlich alles getan, dass ich da nicht in die Stadt lief. Es kam auch gleich Ausnahmezustand, große Plakate, die sehe ich noch wie heute, Befehl Nummer eins, du durftest dich nicht mehr mit anderen zusammenrotten. Und wir haben natürlich am Westrundfunk gehangen, Tag und Nacht, was passiert, und wären natürlich ganz glücklich gewesen, wären die Amerikaner uns nun zur Hilfe gekommen, wie wir das immer geträumt haben, auch 1961, später, als die Mauer gebaut wurde, oder 56, als die Ungarn schon gewonnen hatten und dann niedergewalzt wurden von den Sowjettanks. Also, man hat immer gehofft und ein bisschen hat Adenauer uns auch immer eingeredet, wir sollten mal schön hoffen, die Einheit würde schon kommen. Das haben viele ja auch geglaubt. Tatsächlich war er sehr früh der Ansicht, dass man Westdeutschland sehr eng an den Westen binden müsse, und hat die Einheitsoption eher für eine romantische gehalten.

    Burchardt: Wenn wir da noch mal kurz zurück ... in '52 gab es die sogenannte Stalin-Note, die lief auf ein neutrales Gesamtdeutschland hinaus. Sie müssen es wahrscheinlich eher von heutiger Sicht beurteilen oder haben Sie damals dazu auch schon eine Meinung gehabt?

    Gauck: Nein, daran kann ich mich nicht erinnern. Natürlich habe ich mich intensiv damit auseinandergesetzt, mehrheitlich ist man ja heute in Zeitgeschichtsforschung der Ansicht, dass das kein realistisches Angebot gewesen ist. Stalin war ein Machtpolitiker, wie ihn Europa ja selten gehabt hat und, na ja, er war vielleicht nicht nur Europäer, sondern auch ein bisschen asiatisch, aber es war eben eine sehr brutale Machtstrategie, die sich eigentlich vor nichts scheute.

    Burchardt: Sind denn Nachrichten über die Säuberung in der Sowjetunion in die DDR rübergekommen?

    Gauck: Ja, über den Westrundfunk. Wir haben zum Teil ja auch bei Besuchen im Westen Westzeitungen gelesen und das heißt, es ist wieder, wie es eigentlich immer ist: Es gibt zu jeder Zeit eingeweihte Milieus. Man weiß nicht alles, aber genug, um eigentlich widerstehen zu müssen oder zu können. Ein Teil der Tragik des Lebens in der Diktatur besteht darin, dass sich sehr viele Menschen eben einbilden: Da sie nichts machen können, müssen sie auch nicht besonders viel wissen und müssen sich auch keine Mühe geben beim Leben. Tatsächlich aber zeigt die Besichtigung der Feinstrukturen in der Diktatur, dass man sogar im Krieg oftmals Handlungsalternativen hatte, dass nicht jeder alles gemacht hat, und wie viel mehr in Zeiten, wo kein Krieg ist.

    Gauck: Und wer sich nicht anpassen wollte, ja, der war dumm.

    Sprecher: Der Alltag im Sozialismus.

    Burchardt: Eine der Handlungsalternativen, die Sie ja dann auch weidlich ausgenutzt haben, auch gerade wie andere Ihres Jahrgangs auch, Jugendliche, das war der damals vor 1961 noch freie Zugang nach Westberlin, in Ihrer Berliner Zeit, als Sie dort studierten. War das nicht für Sie dann auch eine Verlockung, zu sagen: Ich bleibe jetzt hier?

    Gauck: Also, ich habe in Rostock studiert und bin aber als Student öfter am Wochenende rübergefahren, das war das Reizvolle. Die Studierenden aus allen Unis hatten es ja nicht allzu weit. Das Land war nicht groß und man konnte schon mal am Wochenende in Berlin sein und hat dieses glückhafte Gefühl gehabt: Oh, jetzt kannst du laut sprechen, was du denkst, wenn du in Westberlin warst. Oder du hast dann Verwandte oder andere Studenten getroffen, konntest dich über Bücher unterhalten, die es bei uns nicht gab, dann gab es auch immer kirchliche und sonstige Einrichtungen, die einem auch mal ein Buch gegeben haben. Ins Kino konnte man gehen, mit Ostgeld zahlen. Es war also immer so ein Stück Aufatmen. Und so war die DDR auch zu ertragen. Sie war auch irgendwie dann trotz Stalinismus sogar zu ertragen, weil du hattest immer das Gefühl: Wenn es zu hart kommt, bist du weg. Und ich erinnere mich und beschreibe das auch in meinem Buch, dass ich mein ganzes Leben lang begleitet worden bin von Abschieden, Klassenkameraden, Freunden, Verwandten, und schließlich, ganz spät sogar, sehr dicht bei mir, meine eigenen Kinder, aber das war später, nach der Mauer. Vor der Mauer war das irgendwie so ein gespaltenes Leben, und man hatte immer noch die Option, na ja, wenn sie es zu doll treiben, biste weg.

    Burchardt: Was wäre zu doll gewesen?

    Gauck: Also, es gab Leute, die sind geflüchtet, weil man sie in die SED gepresst hat. Bauern sind geflüchtet, weil sie nicht mehr Einzelbauern sein konnten, sondern weil sie in die LBG gepresst wurden. Handwerker sind geflüchtet, weil man auf ihren Betrieb scharf war, weil man sie mit künstlichen Delikten konfrontiert hat, Steuerhinterziehung oder Schwarzhandel oder weiß der Kuckuck, dann haben sie versucht, weg, weg, weg. Oberschüler sind geflüchtet, weil sie ideologisch nicht richtig tickten, weil sie dieses ganze Lügenzeug nicht schreiben oder aufsagen wollten und haben dann gesagt, nein, da machen wir lieber Abi nach im Westen, das halten wir nicht aus. Es sind Menschen geflüchtet, die wollten gerne Rechtsanwalt werden, selbstständig sein.

    Burchardt: Konnten Sie die alle nicht halten?

    Gauck: Nein.

    Burchardt: Weil ich gehe auch mal davon aus, dass viele auch in Ihrer Gemeinde gewesen sind ...

    Gauck: Später, ja.

    Burchardt: ... und Sie, wenn ich das so sagen darf, waren ja vielleicht dann so etwas – wenngleich dieser Begriff sehr strittig ist – wie gewissermaßen ein politischer oder ein sozialpolitischer Theologe, also nicht nur der spirituelle.

    Gauck: Richtig.

    Burchardt: Ist das nicht dann auch eine message für Sie gewesen, zu sagen, meine Gemeinde, die geht mir verloren, was soll ich machen?

    Gauck: Also, als diese Absetzbewegung richtig im Gange war, vor der Berliner Mauer, war ich noch nicht im Amt, sondern ich war im Studium auf der Oberschule und bin aufgewachsen mit diesem Braindrain, mit diesem Weggehen der, oft gerade der gut ausgebildeten Leute, der freiheitlich denkenden Leute. Und irgendwie ... mein Vater ist zurückgekommen und hat gesagt: Wir bleiben hier, ich habe nichts verbrochen, warum soll ich gehen? Seine Mutter lebte an der Ostsee und er war einziger Sohn und wir haben gedacht, ach, der zeigt es uns, wir können auch hierbleiben.

    Burchardt: Obwohl er als Allererster Grund gehabt hätte, zu gehen.

    Gauck: Er hätte einen Grund gehabt, logisch. Aber er war zu Unrecht verurteilt worden, er stand irgendwie kerzengerade da, und wenn die kamen, wollten ihn in die Partei locken, dann hat er zu denen gesagt: Und, wollen wir uns ein bisschen über den Kommunismus unterhalten? Und das hat er mit so einem Blick verbunden, dass keiner mit ihm über den Kommunismus reden wollte. Das war irgendwo auch ein Vorbild an Geradheit dann und das hat uns gezeigt: Ja, man kann auch hier eine Alternative leben. Das war immer schwieriger, je älter die DDR wurde, und es zeigte sich, das Anpassung eigentlich das Erfolgsmodell ist. Und wer sich nicht anpassen wollte, ja, der war entweder dumm oder ...

    Burchardt: War so gesehen der Mauerbau aus Sicht der Machthaber in der DDR – Ulbricht, der ja immer noch sagte, niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen –, war das da nicht logisch?

    Gauck: Für ihre Denke war es logisch, ja. Und wir hätten eigentlich, wenn wir realistisch genug gewesen wären, hätten wir das antizipieren können und ich sage Ihnen wieder etwas, was ich vorhin schon ein bisschen angedeutet habe: Oft ist derjenige, der, sagen wir mal, weniger studiert hat und der die Analyse weniger ideologisch vornimmt, mit einer schärferen Auffassungsgabe und Analysefähigkeit gesegnet als ein Spitzenakademiker. Es sind oft die Leute, die aus der Bauernschicht kamen, die Handwerker waren, also lebenserfahrene Menschen, die auch die Machtattitüde dieser Leute vielleicht nicht von der Ideologie her entschuldigt haben, sondern die einfach die Fakten haben sprechen lassen. Ich denke, dass die sehr oft dichter an der Wirklichkeit waren.

    Burchardt: Wie ist denn die Zeit, ich würde mal sagen, zwischen Mauerbau und Mauerfall für Sie subjektiv abgelaufen? Sie waren etabliert in Rostock als Pfarrer, Sie haben dort eine Gemeinde gehabt, Sie haben auch Kontakte zur Westkirche gehabt. Sie haben sicher auch erleben müssen, wie ambivalent Stasikontakte gewesen sind in der damaligen Zeit, der Fall Stolpe vielleicht als Pars pro Toto, der immer gesagt hat: Ich musste ja Kontakte haben, damit es meinen Schäfchen besser geht. Will ich jetzt nicht ausdiskutieren, aber die Frage ist: Schwebte nicht über Sie da immer so dieses sozialistisch-theologische Damoklesschwert, dass man da irgendwann sagt, irgendwann fällt es?

    Gauck: Ja, wir müssen diese Stasidebatte von der ideologischen Debatte trennen. Die Stasi war für uns auch nicht ambivalent, sondern das war völlig eindeutig.

    Burchardt: In jedem Fall?

    Gauck: In jedem Fall. Mit denen agierte man nicht. Und wenn Manfred Stolpe zur DDR-Zeit mit seinen Bischöfen, seinen Synoden oder seinen Amtsbrüdern darüber gesprochen hätte, dass er regelmäßig mit der Stasi spricht, wäre das nicht gegangen, sondern das hat er insgeheim gemacht. Und deshalb ist es unrichtig, zu sagen, dass der Kontakt mit der Stasi ein gebotener Verhandlungsweg war. Gerade Spitzenkräfte wie er konnten mit den Chefs der Stasi sprechen, mit der Partei. Er hatte Möglichkeiten, mit dem Zentralkomitee und den Bezirksleitungen zu sprechen und hat dies auch getan.

    Burchardt: Hat man auch versucht, Sie einzubeziehen?

    Gauck: In Stasi eher nicht, also, ich habe mich zwei Mal mit Stasileuten getroffen, einmal, um sie zu beschimpfen, weil sie Jugendliche angeworben hatten. Da habe ich eine Beschwerde vorgetragen bei dem zuständigen Staatsorgan, das war ein Mitarbeiter im Rathaus, der zuständig war für die Kirchensachen, und dem habe ich gesagt, das würde ich Stasileuten auch selber sagen. Die kamen dann, zu zweit, ich hatte einen Vikar dabei, wir haben uns zwei Stunden beschimpft, das war unsinnig, das zu machen, aber für das Gefühl war es ganz schön.

    Burchardt: Ist schon Satire, so was.

    Gauck: Ja, das ist ... Ich will das hier nicht nachzeichnen, das kann man ???. Dann kam aber einer mal zu mir, nach einem Kirchentag in Rostock, bei dem dankenswerter Weise Helmut Schmidt eine großartige Rede gehalten hat, es gab große, heftige Debatten um die Einreise von Helmut Schmidt und ein Teil der kirchenleitenden Herrn, die mit der Stasi redeten – diesmal meine ich nicht Herrn Stolpe –, haben dann versucht, uns das innerkirchlich auszureden. Und dann hat aber der Landesbischof von Mecklenburg, Christoph Stier, und ich, ich war Kirchentagshäuptling da, wir haben gesagt: Nein.

    Burchardt: Und so kam es auch zu diesem Foto, Helmut Schmidt auf der Kanzel?

    Gauck: Ja, genau, und wir haben ihn eingeladen. Wenn der Staat ihn nicht haben will, dann soll er ihn ausladen, aber wir doch nicht. Und so ist es dann auch gekommen. Er kam. Wissen Sie, diese ganze Zeit ist ... man muss wirklich sehr genau hinschauen, man kann kirchenleitenden Damen und Herren nicht verbieten, Kompromisse zu schließen. In einer Diktatur ist eben nicht alles möglich an Freiheit, und gerade in einem System, das atheistisch ist, ist es außerordentlich schwierig, für die Kirche einen Weg zu finden, bei dem sie sich nicht selber verliert. Und der Begriff Kirche im Sozialismus, der damals aufkam und von dem Berliner Bischof Schönherr und auch von Manfred Stolpe sehr stark vertreten wurde, hat für viele vielleicht bedeutet: eine Option für den Sozialismus, aber für die allermeisten war es einfach eine Ortsbeschreibung. So habe ich den Begriff benutzt. Wir sind nun halt hier und es nennt sich Sozialismus, also sind wir Kirche im Sozialismus, während andere nun meinten, nein, das sozialistische Modell sei doch irgendwie dem Evangelium näher als das kapitalistische. Man hat den Westen unter dem Rubrum Kapitalismus gefasst, und Kapitalismus hat man gefasst als Ellbogen-Kapitalismus, und dann verglichen mit christlichen Werten sieht er immer alt aus. Wenn du ihn beschreibst als parlamentarische Demokratie, dann ist der Satz, dass der Sozialismus der Bibel näher ist, purer Unfug. Er ist aber vor allen Dingen ein schwerer politischer Irrtum. Aber damals hat sich das so hingeguckt und hingeschaukelt, und diejenigen, die es bequem haben wollten, die haben sich ideologisch dann auch hier ein bisschen verortet, und so entstanden dann auch etliche Debatten innerhalb der Kirche.

    Gauck: Wir haben große Hoffnungen auf ihn gesetzt.

    Sprecher: Glasnost und Perestroika.

    Burchardt: Wir sind jetzt schon in den 80er-Jahren, und 1985 kam in Moskau Gorbatschow an die Macht. Empfanden Sie das damals schon aus Ihrer Sicht als Hoffnungsträger, dass da einer kommt, der so was – mit Glasnost und Perestroika – wie ein politischer Erlöser sein könnte?

    Gauck: Als diese Begriffe bekannt wurden, da wurde es für uns wirklich interessant, und wir haben in diesen Jahren angefangen, der Staatsführung einen Slogan um die Ohren zu hauen, den sie selber uns jahrelang vorgebetet hat, nämlich: Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen. Und plötzlich verboten sie den Sputnik, das war also das sowjetische Readers Digest, wo so dann Artikel natürlich in dieser Gorbatschow-Phase über größere Offenheit, über Debatten, eine gewisse Demokratisierung so ein bisschen andiskutiert wurden und plötzlich war diese Publikation verboten. Da wurde sie natürlich total heiß für alle Leute. In der Partei war das so problematisch, weil für uns draußen war klar, wofür die Partei stand, aber für die Genossen war das so, so unsäglich, dass plötzlich eine Publikation, die mit Wissen und Wollen der KPdSU erscheint, dass die von der SED verboten wird. Das gab heiße Debatten innerhalb der Partei. Und das hat uns dann natürlich wieder erreicht, draußen, und wir haben große Hoffnungen auf ihn gesetzt, ja, das stimmt, und wir haben ja auch noch nicht daran gedacht, dass sich das System mal wirklich auflösen könnte, sondern es schien doch für die Ewigkeit gemacht.

    Burchardt: Aber war das nicht evident, wenn man auch jetzt nachträglich ... nachträglich weiß man ja immer alles besser, aber auch damals schon gab es ja durchaus auch Beobachter, politische Beobachter, die anlässlich dieser 40-Jahr-Feier sahen, mit welch einer Miene Gorbatschow das alles zur Kenntnis genommen hat. Und wenn man weiß, was für Gespräche intern stattgefunden haben – es wurde ihm ja auch der Satz in den Mund gelegt, er hat es ja nie so wörtlich gesagt, wer zu spät kommt, den bestraft das Leben –, da hätten doch Honecker, Krenz und Genossen früher wach werden müssen?

    Gauck: Ja, da war es evident, dass es nicht mehr lange gut gehen würde. Aber Sie haben mich vorhin angesprochen auf die 80er-Jahre: Noch '86 hätte man nicht prognostiziert, dass es zu einem baldigen Ende kommt. Das, wissen Sie, das war ein Imperium, das war ... das herrschte in Moskau seit 1917 und in Deutschland-Ost seit 1945. Und ich gehörte zu den Menschen – von denen gab es sicher eine ganze Menge –, die gedacht haben, das geht zu Ende, aber ich war nicht sicher, ob zu meiner Lebzeit. Ich habe gedacht: Meine Kinder erleben das, dass das System bricht. Es war zu viel Lüge drin, es war ideologisch hohl und es war wirtschaftlich ineffizient. Das andere war, dass an der Peripherie in der Bevölkerung, und zwar in Polen, so viel Power inzwischen war, dass wir gemerkt haben: Trotz Kriegsrecht und trotz aller möglichen Tricks der herrschenden Kommunisten dort war es nicht möglich, eine Volksbewegung wirklich auszulöschen. Es war anders als in den 50er- und 60er-Jahren und wir spürten plötzlich ...

    Burchardt: Und es kamen keine sowjetischen Panzer.

    Gauck: Nein, wir spürten plötzlich: Es ist eine Kraft auch im Wachsen. Und anders als viele im Westen, die immer nur mit den Zentralen sprachen – das ist ja auch ein Jammer, dass der ... etwa ich nenne mal eine Figur, die sehr viel für das Zusammenwachsen Europas getan hat, Egon Bahr, der eben mit der ersten Phase der Ostpolitik den Weg nach Helsinki ebnet, aber in der zweiten Phase begreifen Leute wie er überhaupt nicht, was das Auftreten von Solidarnosc bedeutet: Man will weiter mit der Oberschicht verhandeln und man meint, den Status quo zu sichern, hieße, den Frieden zu sichern.

    Burchardt: Spielen Sie jetzt auch an auf das SPD-SED-Papier?

    Gauck: Auch darauf. Ja, das ist im Grunde der Versuch, das diktatorische Gegenüber zu zivilisieren. Ich unterstelle überhaupt keine bösen Absichten, ich kenne Erhard Eppler und weiß, dass man da mit edlen Motiven herangegangen ist, nicht mit der Absicht, wir wollen jetzt hier die weiße Fahne hissen, sondern es war auch ideologiegeschichtlich – in der Kirche würde man sagen, dogmengeschichtlich – interessant, weil es gelungen ist, der SED abzuringen, dass sie nicht im Besitz der absoluten Wahrheit ist. Aber was für die Intellektuellen und für uns als Studenten oder für die Studenten damals, für ihre ideologischen Debatten interessant war, war doch eher falsch. Ich denke, dass es nicht vernünftig war zu dieser Zeit, sich auf eine Ebene mit dieser Art von Partei zu stellen und sie dadurch irgendwie zu adeln. Ich erkenne die Absicht, sie im Grunde zu zivilisieren, sie auf die westliche Seite zu holen, aber ich denke, das war der falsche Weg nach dem Auftreten von Solidarnosc, und nachdem das Movens, das bewegende Element in der Politik, an die Peripherie geht, muss man nicht mehr die Zentren stabilisieren.

    Gauck: Wenn die Bürgerbewegung auf die Handlungsebene kommt, dann muss sie sich klarer definieren.

    Sprecher: Positionskämpfe im Einigungsprozess.

    Burchardt: Wir haben anfangs ja schon sehr intensiv über die Zeit vor und nach dem Mauerfall gesprochen, gleichwohl müssen wir, denke ich, trotzdem noch mal darauf zurückkommen, insbesondere vor dem Hintergrund Ihrer persönlichen Involvierung. Sie haben sich ja mal als liberal-sozialen Konservativen bezeichnet, da ist eigentlich jetzt alles drin. Ist das auch Ausdruck der damaligen Ratlosigkeit oder der nicht klaren Positionierung?

    Gauck: Ich habe ein Bonmot von Leszek Kolakowski aufgenommen mit dieser Formulierung, der sich auch mal gefragt hat, ob er ein linker, liberaler Konservativer sei, und ich fand das sehr interessant, weil ich kenne viele Leute, die so sind, die links sind, wenn es um menschenrechtliche Themen geht, um Bürgerrechte, die konservativ sind, weil sie Werte lieben und Werten verpflichtet sind und die liberal sind, weil sie die Freiheit lieben. Und so ist das bei mir. Und deshalb bin ich auch nicht fähig gewesen, jetzt im reiferen Alter mich einer Partei zuzuordnen. Ja, ich lebe damit ganz gut, ob das nun für politische Karrieren in hohen Ämtern nützlich ist, das stellen wir mal dahin, aber ich ...

    Burchardt: Verschafft Ihnen ... oder hat Ihnen das auch damals die Freiheit verschafft, Herr Gauck, zu Teilen zumindest etwa des Neuen Forums oder der Bewegung Demokratie jetzt ... Sie haben auch mit Herrn Schnur ja da ... mit dem sind Sie ja auch ziemlich ins Gericht gegangen, und die Zerrissenheit von Ibrahim Böhme angesprochen – ist das für Sie dann auch ein Stück sozusagen Legitimation dafür, zu wissen, nach allen Seiten auch die eigene Position klarzumachen?

    Gauck: Also, ich habe das seinerzeit noch nicht so formuliert, meinen politischen Standort und das wird ja auch nicht jedem gefallen. Aber ich denke, dass meine Handlungsoptionen trotzdem immer zu erkennen gewesen sind und das heißt auch, dass man dann Konflikte mit den unterschiedlichen Richtungen akzeptieren muss.

    Burchardt: Aber wie war es denn damals mit diesen Eifersüchteleien? Sind das Profilneurotiker, die da dort tätig waren, oder naive ... also, Bärbel Bohley haben Sie ja angesprochen.

    Gauck: Wir haben zum Teil im Neuen Forum auch ideologische Debatten gehabt, es ging auch um Richtungen. Das sind Richtungsdebatten, das sind weniger Profilneurosen als, sagen wir mal im klassischen, westdeutschen Jargon, Fundi-Realo-Konflikte. Das sind ... Wissen Sie, wenn man auf der einen Seite hört, ja, wir sind für einen dritten Weg oder wir können mit der Einheit nichts anfangen, dann möchte man dafür politische Begründungen hören. Ich habe das in Basisversammlungen des Neuen Forums in Rostock erlebt, als ich noch im Jahr 89 eine Mehrheit für die Einheitsoptionen geschaffen habe. Dann war das erste Treffen des Neuen Forum in Berlin und es ging da heiß her, die unterschiedlichsten Richtungen prallten aufeinander, denn das Neue Forum war eine breite Bürgerbewegung. Es gab Liberale, es gab Linke, es gab Grüne, es gab Sozialdemokraten, es gab alles, Konservative, und ich habe dann da den Einheitsgedanken reingebracht, die Zweistaatlichkeit sollte aus dem Programm gestrichen werden – ja, sofort gab es große Mehrheiten dafür. Ja, und dann waren natürlich die eher Linken ein bisschen sauer. Und das sind im Grunde normale Ausdifferenzierungen. Also: Wenn die Bürgerbewegung auf die Handlungsebene kommt, dann muss sie sich klarer definieren. Und da begann dann ihre Schwäche. Wir wussten alle, wogegen wir waren, aber wir waren unterschiedlicher Ansicht, was der Weg war. Und dann gingen viele in die klassischen Parteien, in die SPD, in die CDU, bei den Liberalen, und einige blieben beim Bündnis 90, hatten alternative Politikkonzepte. Dann war wieder im Bündnis 90 ... die westlinken Grünen waren uns zu links, die konnten mit der Einheit zunächst gar nichts anfangen und das war uns wieder zu ideologisch, dann gab es wieder innerhalb von Bündnis 90 solche Fundi-Realo-Debatten, also, das war eine sehr lebendige Zeit. Aber mit der Eintracht war es dann vorbei. Man kann einen runden Tisch nicht konservieren.

    Burchardt: Sie wurden dann ja der Bundesbeauftragte zur Aufklärung der Stasiunterlagen. Was hat Sie motiviert, diesen Job anzunehmen, der ja nicht so unbedingt nur populär ist? Sie haben das zehn Jahre lang gemacht, die Behörde wurde seinerzeit nach Ihnen benannt.

    Gauck: Ja, nicht von mir natürlich, aber von Ihren Journalistenkollegen. In die Politik eingestiegen bin ich nicht, um dies zu werden, sondern das hat sich so ergeben. Ich bin aus meiner Pastorentätigkeit, weil ich oppositionell war, Teil der Bürgerbewegung gewesen, weil ich dann Sprecher des Neuen Forums war und da eine führende Rolle in meiner Heimat gespielt habe, bin ich ins Parlament gewählt worden für Bündnis 90. Im Parlament kam ich über den Innenausschuss in einen Sonderausschuss zur Kontrolle der Auflösung des MfS und dessen Vorsitzender wurde ich. So, und da beginnt meine Spezialbefassung mit diesem Thema, vorher nicht. Mir war die ganze Breite des Aufgabenfeldes gar nicht bewusst und ich habe dann selber erst einen intensiven Einstieg gehabt, als der Innenminister Diestel und der Ministerpräsident de Maizière einen sehr restriktiven Gesetzentwurf in die Volkskammer einbrachten, wo nach Rücksprache mit der Bundesregierung doch all das, was wir wollten, eher zurückgefahren wurde – allgemeiner Zugang zu den Akten und Nutzung, offene Nutzung. Das erschien vielen damals zu gefährlich. Und meine politische Tat bestand damals darin, dass ich nun als Oppositionsabgeordneter eine Koalition der Vernunft für dieses Thema geschaffen habe. Wir haben dann immer einvernehmlich, über alle Fraktionen hinweg, ein Gesetz geschaffen, das die Öffnung der Stasiakten für die juristische, historische und politische Aufarbeitung vorsah. So, und als ich so weit war, dann war es klar: Wenn es dann einen Beauftragten geben würde, der würde dann wohl Gauck heißen.

    Burchardt: Das war eine erfolgreiche Zeit, insbesondere was die Aufklärung angeht, auch Ihre Nachfolgerin, Frau Birthle, hat in dem Sinne ja weitergewirkt, aktuell gibt es die Diskussion, ob man nicht endlich mal den Blick zurück beenden sollte, die Akten schließen und den Blick nach vorne wagen soll. Was ist Ihre persönliche Meinung dazu?

    Gauck: Meine persönliche wie politische Meinung ist, dass das Unfug ist, denn mit dem Schlussstrich haben wir es in Deutschland schon mal versucht, und zwar nach dem Kriege. Das ist gründlich misslungen und spätestens die Achtundsechziger haben der Nation dann gezeigt, ja, Schlussstrich kannst du lange planen, aber ob das machbar ist, das ist eine andere Geschichte. Nein, wir in Deutschland haben aus Fehlern gelernt und sind deshalb sehr früh mit dieser offenen Form der Aufarbeitung, mit offenen Akten, offenen Augen und bei einigen auch mit offenen Seelen gestartet, und das ist für die Gesundung einer Nation nur gut. Und die Debatten, die dann entstanden sind über Schuld, auch über Versagen und Verantwortung, die schaffen zwar einen gewissen Unfrieden, aber nach diesen Debatten ist ein dann entstehender Friede glaubwürdiger als eine Friedhofsruhe, die über kein Problem von früher spricht.