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"Wir sind nicht wirklich unabhängig“

Vor der Europameisterschaft wurde lange über Menschenrechte und Julia Timoschenko diskutiert. Die Rechte von Journalisten standen kaum im Fokus. Dabei liegt die Ukraine bei der Pressefreiheit auf Platz 116 von insgesamt 179 Staaten der Negativ-Liste von "Reporter ohne Grenzen". Doch wie äußert sich das im Arbeitsalltag?

Von Ronny Blaschke |
    Der ukrainische Fußballjournalisten Artem Frankow.
    Der ukrainische Fußballjournalisten Artem Frankow. (Ronny Blaschke)
    Eine ehemalige Lackierfabrik in Podil, im Norden von Kiew. Das Büro mit der Nummer 206 sieht nicht aus wie eine politische Schaltzentrale. An grauen Wänden hängen Fußballplakate und Wimpel. Acht Journalisten arbeiten an der aktuellen Ausgabe von Futbol. Zwei tragen das gelbblaue Trikot des ukrainischen Nationalteams und diskutieren über Schlagzeilen. Artem Frankow greift sich einen Stapel Manuskripte und schaut seinen Kollegen über die Schultern. Der ehemalige Luftwaffenoffizier ist Chefredakteur von Futbol, des vielleicht wichtigsten ukrainischen Fußballmagazins.

    "’In der Ukraine wird Fußball von Oligarchen beherrscht. Wer über Tore berichtet, berichtet immer auch über Politik. Wir Sportjournalisten versuchen, die Politik aus dem Fenster zu stoßen, doch im nächsten Moment klopft sie wieder an die Tür. Leider sind wir nicht wirklich unabhängig.’"

    Zwei rivalisierende Clans prägen den Fußball: In Kiew Grigori Surkis, Präsident des nationalen Verbandes. In Donezk Rinat Achmetow, der wohl reichste Mann des Landes. Achmetow besitzt den Klub Schachtjor, gilt als Förderer des Präsidenten Janukowitsch. Beide Oligarchen, Achmetow und Surkis, mischen in Medienunternehmen an der Spitze mit, ihre Verflechtungen zwischen Fernsehsendern, Radiostationen und Zeitungen sind kaum durchschaubar. Die Medien dienen dem Machterhalt ihrer Eigentümer, schreibt der Osteuropa-Experte Olaf Sundermeyer in seinem Buch Tor zum Osten. Laut Sundermeyer habe Achmetow in derselben Zeit, in der die Pressefreiheit abgenommen hat, sein Vermögen verdreifachen können. Der Journalist Artem Frankow muss genau abwägen, wie viele seiner 48 Magazinseiten er welchem Verein und welchem Oligarchen widmet.

    "’Unser Magazin gehört zur United Media Holding, dem größten Medienkonzern des Landes. Für mich ist das ein Problem, denn zu den Investoren des Unternehmens gehört auch Grigori Surkis. Viele Leute sagen, ich werde direkt von Surkis bezahlt. Leider ist das nicht ganz falsch, aber was bleibt mir anderes übrig? Wir müssen uns arrangieren. Ich habe ein gutes Verhältnis zu Grigori Surkis und seiner Familie. Unsere Ehefrauen haben den gleichen Vornamen.’"

    Artem Frankow ist ein freundlicher Mann von mächtiger Statur, mit Brille und Denkerstirn. Er weiß, wie seine Sätze auf einen deutschen Journalisten wirken müssen: unkritisch, anbiedernd. Doch in der Ukraine müssen Journalisten an manchen Stellen Nähe suchen, um an anderen Stellen Distanz wahren zu können. Artem Frankow gehört zu den wenigen Sportreportern, die Hintergründe recherchieren, über Korruption der Funktionäre, über Rassismus in den Fankurven. Als Grigori Surkis noch Präsident des Klubs Dynamo Kiew war, meldete er seine Spieler als Mitglieder bei den Sozialdemokraten an, in der Partei, die Surkis selbst führte. Er buhlte auch um Unterstützung des Nationaltrainers Oleg Blochin und seines wichtigsten Spielers Andrej Schewtschenko.

    "’Wie soll ich in diesen Situationen reagieren? Auch jetzt während der Europameisterschaft gibt es Streit zwischen Oligarchen, Medien und Fans. Hätte die ukrainische Mannschaft mehr Spieler aus Donezk gebraucht? Hätte sie ihre Vorrundenspiele ausschließlich in Kiew bestreiten sollen? Politik ist ein dreckiges Geschäft. Wir versuchen, sie aus den Spielberichten herauszuhalten, aber das ist fast unmöglich.’"

    Die regionalen Medien fernab der Ballungszentren Kiew oder Lemberg werden meist von Investoren oder Behörden getragen, einen öffentlich-rechtlichen Rundfunk gibt es nicht. Zwar soll das Internet frei sein von Zensur, doch noch hat die Hälfte der Ukrainer keinen geregelten Zugang zum Netz. Das Netzwerk Reporter ohne Grenzen dokumentiert Einschüchterung und Verfolgung. Immer wieder entziehen Behörden kritischen Sendern die Lizenz, werden Reporter vor die Tür gesetzt und mit Schikanen überzogen. Im November 2000 wurde die enthauptete Leiche von Georgi Gongadse in einem Wald gefunden. Hatte der damalige Präsident Leonid Kutschma einen regimekritischen Reporter zum Schweigen bringen wollen? Der Fall ist ungeklärt.

    "’Es gibt eine Selbstzensur in den Redaktionen. Wir haben die Grenzen ausgelotet, in denen wir uns journalistisch bewegen können. Ich habe noch keine Drohungen erhalten, höchstens empörte Anrufe von Boris Kolesnikow. Aber mit ihm kann ich über alles diskutieren.’"

    Boris Kolesnikow ist stellvertretender Ministerpräsident und Besitzer des Eishockeyklubs HC Donbass in Donezk. Viele Politiker mischen im Sport mit, auch in Medien - so verschmilzt ein Amt mit dem anderen. Artem Frankow erinnert an einen ehemaligen Fußballer, der mit einem Nacktfoto gegen eine Schnellimbisskette protestiert hatte. Frankow wurde von seinem Vorgesetzten gebeten, auf einen Bericht darüber zu verzichten. Sie hätten einen wichtigen Anzeigenkunden verloren. Doch dabei wäre es nicht geblieben, glaubt Frankow. Denn die Mächtigen halten gegen die Kleinen zusammen.