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"Wir sind sowieso immer in Bewegung"

Mehr als 100 internationale Wissenschaftler diskutierten bei der Kölner Konferenz über Gilles Deleuzes und Felix Guattaris Konzept der Identität. Gerade in Zeiten der Migration erlebt es eine Renaissance.

Von Kersten Knipp |
    "Wer sind wir", fragte der im Dezember letzten Jahres verstorbene Politologe Samuel Huntington in einem seiner letzten Werke mit sorgenvoller Miene. Er sorgte sich um den massiven Zuzug der Lateinamerikaner in die Vereinigten Staaten. Die, so fürchtete er, würden die nordamerikanische Identität auf Dauer untergraben. Die Frage ist nur: Was ist Identität? Deleuze und Guattari, so der Kölner Amerikanist Hanjo Beressem, der Leiter der Konferenz, würden den Begriff sehr vorsichtig gebrauchen - weil ihnen schon die Vorstellung einer absoluten, eindeutige definierten und feststehenden Identität problematisch erscheine.

    "Das Interessante bei Deleuze ist, dass er wirklich von Konzepten ausgeht, ein Grund des Denkens und ein Grund des Lebens von einer Multiplizität und Diversität. Es geht nicht darum, von einer Identität auszugehen, die man in irgendeinen kulturellen oder ökologischen Kontext gibt, sondern wir selber sind schon Produkte, die aus einer darunterliegenden Multiplizität und Diversität entstanden sind. Das heißt: politisch ist Deleuze gerade unendlich anwendbar, denke ich, heutzutage, weil er nicht von einer festgelegten Identität ausgeht. Deleuze und Guattari gehen davon aus, dass es ein Natur-Kultur-Kontinuum gibt, das heißt, man müsste heute gerade auch im Migrationsbereich den Begriff der Kultur öffnen zu anderen Kulturen hin. Das heißt, wir bestehen nicht nur aus menschlichen Kulturen, wir bestehen auch aus bakteriellen Kulturen, aus verschiedenen Zusammenschlüssen und Auflösungen."

    Wer sind wir? Nicht zuletzt auch unsere Bakterien, auch wenn wir das so genau gar nicht wissen wollen. Aber die Bakterien lehren uns eines: Migrationsphänomene verlaufen unter der Hand, sind oft unsichtbar, verlaufen unbemerkt. Das gilt für Kulturen und deren gegenseitige Beeinflussung, es gilt aber auch für reale Wanderbewegungen; auch wenn die reichen Länder sich gegen die Migranten aus den ärmeren, meist im Süden der Welt gelegenen Regionen, abzusondern versuchen. Ein Projekt, das nun jene weltweiten Bewegungen anzuhalten versucht, die die europäischen Länder seit der Entdeckung der beiden Amerikas und dem Zeitalter des Kolonialismus ganz wesentlich mit angestoßen haben. Wird dieses Projekt Erfolg haben? Deleuze und Guattari würden es bezweifeln, meint die an der Virgina University lehrende Kulturwissenschaftlerin Janell Watson. Und zwar aus ganz grundlegenden Erwägungen.

    "Das Konzept der kulturellen Identität ist in den letzten Jahrzehnten vielfach kritisiert worden. Denn es nimmt an, dass es fest definierte Kulturen gibt und jeder Mensch einer davon angehöre. Wir wissen aber, dass das nicht stimmt. Vor allem, weil es immer Migrationsphänomene gegeben hat, die jetzt, im Zeitalter der Globalisierung, enorm angewachsen sind. Deleuze und Guattari nehmen diese Konzepte menschlicher Beziehungen auf und entwickeln sie weiter in Richtung einer überindividuellen Konzeption des Menschen. Sie gehen den migratorischen Phänomenen des Menschen nach, den kulturellen Phänomenen zwischen Gruppen. Diese Phänomene lösen sich auf, wandern zwischen den Gruppen hin und her, verbinden und vernetzen sich neu, so dass immer etwas zerfällt und daraus etwas Neues entsteht."

    Dasselbe Schicksal wie die Identitäten erleiden die Begriffe. 'Die zivilisierte Welt' oder auch 'die zivilisierten Menschen': Das sind Vorstellungen, denen Deleuze und Guattari nur bedingt, eigentlich aber überhaupt nicht vertrauen. Ihnen zufolge, so der in Cardiff lehrende Literaturwissenschaftler Ian Buchanan, handelt es sich idealisierte Selbstbeschreibungen vor einem historisch nicht unproblematischen Hintergrund.

    "Wenn Deleuze und Guattari von 'zivilisierten Menschen' sprechen, meinen sie das ironisch. Denn 'Zivilisation', so sehen sie es, bedeutet immer Kapitalismus. Sie interessieren sich für die Frage, warum die Gesellschaft sich dafür entschieden hat, kapitalistisch zu werden. Die ersten Regungen dazu finden sie in den sogenannten primitiven Gesellschaften. Diese, schreiben Deleuze und Guattari, hätten gegen die Idee des Staates einige Vorbehalte gehabt, da er die Freiheit des einzelnen einschränke. Eine solche Vorstellung ist natürlich einigermaßen problematisch, weshalb sie sie unter dem Zeichen der Ironie zitieren."
    Mehr als historisch korrekte Beschreibungen ist der Begriff vom "zivilisierten Menschen" Deleuze und Guattari zufolge ein politischer Begriff, der dazu dient, eine bestimmte Weltsicht und ihr entspringende Verhaltens- und Wirtschaftsformen zu legitimieren. Das Beispiel zeigt, wie sich Begriffe einsetzen lassen, um eine bestimmte Ordnung zu zementieren. Viele Menschen sehnen sich nach einer festen Ordnung. Und darum, so Hanjo Beressem, betreiben Deleuze und Guattari auch keine leichtfertige Begriffskritik, wollen darum auch den Multikulturalismus nicht euphorisch feiern.

    "Dieses dynamische Agieren, glaube ich, ist, um Migration zu verstehen, und auch positiv zu verstehen, nicht im Sinne von 'Wir müssen uns jetzt bewegen', sondern 'Wir sind sowieso immer in Bewegung'. Und Kulturen sind nur Verlangsamungen von Bewegungen, das heißt, die Bewegung kommt erst, Kulturen sind Verlangsamungen, 'solidifications', also Verhärtungen von Bewegungen, die uns aber im Endeffekt ausmachen. Und gerade die Migration erlaubt es natürlich, diese Verlangsamungen wieder aufzubrechen, um wieder dynamischer zu werden. Und das in einem nicht falsch verstandenem Affirmativen, dass man sagt, das ist ja toll, wenn man jetzt seine Heimat verlassen muss - so geht es nicht, sondern es geht darum, wie kann ich Heimaten irgendwo anders wieder mit anderen komplexen Zusammenhängen aufbauen. Und wie finde ich mich in diesen anderen Heimaten, die wiederum nicht nur kulturelle Heimaten sind, sondern Heimaten, die ökologisch gesehen auch Heimaten sind."

    Die Skepsis, die Deleuze und Guattari auch ihrer eigenen Kritik gegenüber haben, ist darin begründet, dass sie eben nicht sofort eingängig ist. Das zeigt gerade ihr Identitätskonzept. Identität ist zwar in Bewegung, neigt aber zur Verharrung. Das zeigt derzeit etwa das Problem gesellschaftlicher Minderheiten, die, ganz gleich welcher Couleur, leicht zur Abgrenzung neigen; und eine bestimmte historisch Phase ihrer Identität damit erstarren lassen. Dem, erläutert Janell Watson, setzen Deleuze und Guattari eine ganz andere Vorstellung von Identitätspolitik entgegen.

    "Deleuze und Guattari entwickeln die Vorstellung des Menschen im Minderheitenstatus. Es kann sich um andere Minderheiten, etwa kulturelle oder politische, handeln. Und diese Minderheiten tendieren immer dazu, geschlossene Gesellschaften zu bilden, die in eigenen, oft relativ rigiden, Regeln leben. Und Deleuze und Guattari hingegen ermutigen Minoritäten, das, was sie von der Mehrheitsgesellschaft unterscheidet, aktiv anzunehmen und es als kreative Dynamik einzusetzen und etwas Neues aus ihr zu entwickeln; etwas, das im Gegensatz zu den Traditionen steht, zumindest aber zu deren allzu konservativen Strömungen. Auf diese Weise können Minderheiten ein neues Verständnis ihrer selbst und damit ein neues Verhältnis zur Mehrheit entwickeln."