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"Wir starten eine Schmerzoffensive"

Medizinstudenten lernen zu wenig über Schmerztherapie, sagt Gerhard Müller-Schwefe. "Jeder versteht etwas von Akutschmerz, aber keiner von chronischem Schmerz." Der Arzt fordert, die Schmerzmedizin müsse in der Ausbildung eine größere Rolle spielen.

Friedbert Meurer sprach mit Gerhard Müller-Schwefe |
    Friedbert Meurer: Auch wenn die Schätzungen im Ungefähren liegen, klar ist: es ist ein Millionenproblem. Ungefähr 15 Millionen Menschen in Deutschland leiden unter Schmerzen, regelmäßig, wiederkehrend oder sogar chronisch. Trotzdem klagen Experten, die Schmerztherapie sei in Deutschland immer noch ein Randgebiet der Medizin, und das, obwohl Deutschland über ein hoch entwickeltes Gesundheitssystem verfügt. Thema das alles heute auf dem Deutschen Schmerz- und Palliativtag, zu dem die Deutsche Gesellschaft für Schmerztherapie nach Frankfurt am Main geladen hat. Präsident ist der Palliativmediziner Gerhard Müller-Schwefe, den haben wir in Frankfurt vor Beginn des Kongresses erreicht. Guten Morgen, Herr Müller-Schwefe.

    Gerhard Müller-Schwefe: Guten Morgen, Herr Meurer.

    Meurer: Die Natur hat ja den Schmerz sozusagen erfunden, ihn als ein Alarmsignal entwickelt. Aber jemand kann auch Schmerzen empfinden, obwohl bei ihm körperlich alles in Ordnung ist, und diese Fälle scheinen sich zu mehren. Wie ist so etwas möglich?

    Müller-Schwefe: Unser Nervensystem ist eine sehr komplexe Struktur, die nicht einfach Informationen von verletztem Gewebe zum Gehirn transportiert und sagt, da ist was gestört. Das gibt es auch, das ist dieser akute hilfreiche Schmerz. Aber dieses Nervensystem ist ein System, das mit der Information umgeht, sie verarbeitet und seine Steuerung durch die Erfahrung, die es macht, verändert. Das sind Lernprozesse, die Sie sich etwa so vorstellen können wie das Lernen des kleinen Einmaleins. Wenn Sie die Zahlen oft wiederholen, dann kommen sie ins Gedächtnis und dann springt das Gedächtnis sofort an, wenn Sie die Frage drei mal drei hören. Der Schmerz ist ähnlich. Die Steuerung verändert sich durch das Wiederholen bei den Zahlen genauso wie bei dem Schmerz, und wenn Sie immer wieder Schmerzen haben, dann lernen diese Zellen was, die Schmerzspur brennt sich ein, die Zellen reagieren völlig anders, sie explodieren auf geringe Reize und das System reagiert völlig anders.

    Meurer: Wenn jemand gesund ist, trotzdem Schmerzen empfindet, weil er sich das so angelernt hat, wie stellen Sie eigentlich fest, dass er nicht simuliert?

    Müller-Schwefe: Zunächst mal gilt: Das, was der Patient schildert, ist richtig. Ich muss dem Patienten glauben, denn das ist seine Wahrnehmung. Nun kann ich mich fragen, woran liegt es denn, und es gibt natürlich viele Ursachen. Es kann das Schmerzgedächtnis sein, es kann auch die gestörte Schmerzkontrolle sein. Die körpereigene Kontrolle, die wir von Geburt an haben, kann massiv gestört werden. Und wir benutzen Fragebogeninstrumente – Fragebogeninstrumente, die Schmerzintensität abfragen, die abfragen, wo wäre es denn erträglich, die nach Angst und Depressivität fragen, also nicht so direkt, sondern mit verklausulierten Fragen natürlich.

    Meurer: Und die Antworten vermitteln Ihnen den plausiblen Eindruck, dieser Mensch, dieser Patient hat wirklich Schmerzen?

    Müller-Schwefe: Das muss stimmig sein und in aller Regel gibt es auch in der Vorgeschichte Anhaltspunkte dafür, dass der Patient recht hat und sich das nicht einbildet.

    Meurer: Sie leiten ein Schmerzzentrum in Göppingen, nicht allzu weit weg von Stuttgart. Wie behandeln Sie dort Ihre Schmerzpatienten?

    Müller-Schwefe: Das Zauberwort heute heißt "Multimodal". Multimodal heißt, dass man die verschiedenen Aspekte der Schmerzen und Schmerzerkrankung komplex behandelt, mit verschiedenen Methoden gleichzeitig. Man behandelt also auf der einen Seite die Schmerzwahrnehmung, die Schmerzleitung, aber man verstärkt auch die Schmerzkontrolle durch zum Beispiel psychologische Verfahren, durch Achtsamkeitstraining, durch Tiefenentspannung, durch Bio-Feedback.

    Meurer: Das ist was, Bio-Feedback?

    Müller-Schwefe: Bio-Feedback heißt, man greift körperliche Signale, die man sonst nicht wahrnimmt, ab, macht sie für den Patienten sichtbar und hörbar und er lernt, wie er das einmal wahrnimmt und dann aber auch beeinflussen kann. Also Muskelspannung oder Gefäßdurchblutung bei Migränepatienten zum Beispiel, das kann man steuern lernen.

    Meurer: Bio-Feedback ist etwas, was der Patient sich bewusst machen soll?

    Müller-Schwefe: Er lernt das und kann das dann anwenden, wenn er es trainiert hat.

    Meurer: Nennen Sie ein Beispiel.

    Müller-Schwefe: Patienten mit Migräne lernen zum Beispiel, wie ihre Gehirngefäße sich befinden. Man greift die Schläfen-Arterie ab, gibt das als Bild wieder auf einem Computer, vor einem Kreis, der enger oder weiter werden kann, und die Patienten lernen nun, wie sie mit welchen Gedanken oder mit welcher Atmung oder Haltung sie diese Gefäße eng stellen können. Das sehen sie direkt im Computer, üben das und im Migräneanfall behandeln sie ihren Anfall ohne Medikamente mit dieser Methode.

    Meurer: Die setzen sich dann vor einen Bildschirm, um ihre Schmerzen zu behandeln?

    Müller-Schwefe: Zum Lernen ja, das machen sie ein paar Mal und dann können sie es auch ohne Bildschirm. Das wirkt wie ein Lernprogramm. Das ganze Prinzip ist, die Patienten müssen Methoden lernen, sich selber zu helfen. Das Ziel ist nicht, dass die ein Leben lang zum Arzt müssen, sondern sie müssen lernen, sich selber zu helfen. Und Sie haben nach den Methoden gefragt. Salopp gesagt macht man alles bis auf Exorzismus. Da gehört Akupunktur, Reizstrom dazu, da gehören Übungsbehandlungen, auch Medikamente, auch Nervenblockaden, wir implantieren auch Pumpen mit Morphin, die das Medikament an das Rückenmark abgeben, oder mit anderen Substanzen. Also es ist eine sehr komplexe Therapie. Aber immer steht im Vordergrund, der Patient muss in die Lage versetzt werden, sich selber wieder zu helfen.

    Meurer: Herr Müller-Schwefe, Sie sagen, Multimodal ist das Zauberwort. Ist ein Baustein auch noch das Schmerzmittel?

    Müller-Schwefe: Das Schmerzmittel ist der Baustein, der oft die Voraussetzung dafür schafft, dass der Patient überhaupt wieder etwas machen kann. Der Schmerz ist bei vielen dieser Menschen so laut und übermächtig, dass die sich gar nicht mehr trauen, was zu machen, weil sie immer die Erfahrung machen, es geht mir dann schlechter. Diese Erfahrung muss man ihnen nehmen. Sie müssen lernen, es geht, ich kann es wieder, und das Aktive bringt dann auch eine Verbesserung der Gesamtsituation und damit werden auf lange Sicht oft Schmerzmittel auch wieder überflüssig.

    Meurer: Welche Heilungschancen hat jemand, der sich an Sie wendet und Ihr Schmerzzentrum in Göppingen besucht, oder eines der anderen in Deutschland?

    Müller-Schwefe: Schmerz heilen können wir nie, aber wir können ihn so erträglich machen, dass das Leben wieder Sinn macht, dass die Menschen wieder Freude am Leben haben und aktiv sein können. Das kann man immer erreichen und das Ziel bestimmt der Patient. Auf der anderen Seite: Es gibt Probleme wie Rückenschmerzen, da leistet die normale Schulmedizin so etwa eine Rückkehr zum Arbeitsplatz von 30 Prozent mit den normalen Methoden, wir schaffen immerhin 86 Prozent und die bleiben auch bei der Arbeit.

    Meurer: Sind die besonders häufig bei Ihnen anzutreffen, die Patienten mit Rückenschmerzen?

    Müller-Schwefe: Die sind bundesweit besonders häufig anzutreffen. Das sind die teuersten Patienten unseres Systems, die kosten so etwa 48,5 Milliarden jedes Jahr und 70 Prozent davon für Frühberentung und Arbeitsunfähigkeit. Wir müssen dieses System viel effizienter machen, dann sparen wir viel Leid, aber auch viel Geld.

    Meurer: Ich lese über Sie, dass Sie schon 60 Prozesse vor Sozialgerichten geführt haben, gegen Krankenkassen, damit bestimmte Methoden anerkannt werden. Müssen Sie jetzt immer noch Prozesse führen?

    Müller-Schwefe: Im Moment sieht es nicht so aus, aber wenn es sein muss, mache ich das auch wieder. Unser Problem ist, dass Schmerzmedizin in Deutschland nicht in der Versorgung angekommen ist. Jeder versteht was von Akutschmerz, aber keiner von chronischem Schmerz. Medizinstudenten müssen nichts darüber lernen, die machen das Staatsexamen ohne Kenntnisse über dieses Thema.

    Meurer: Wie kann das sein, dass die nichts über Schmerzen lernen, Medizinstudenten?

    Müller-Schwefe: Wissen Sie, ich kenne inzwischen zwölf Gesundheitsminister und Ministerinnen, die immer jünger werden, und alle sagen sie, das ist wichtig, aber die Approbationsordnung, das Pflicht-Kompendium für die Ärzte im Studium zu ändern, das hat bisher keiner wirklich angegriffen. Und das geht weiter in der Facharzt-Fortbildung, das geht in der Versorgung so, dass der Schmerz überall so ein bisschen vorkommt, aber nirgends richtig – ein bisschen bei der Neurologie, bei der Orthopädie, bei der inneren Medizin, bei der Psychiatrie. Aber das sind komplexe Menschen, die nicht von einem Fachgebiet zum anderen tingeln und überall ein bisschen haben; das sind Menschen mit komplexen Problemen, die wir komplex und gemeinsam angehen müssen. Deshalb bin ich fest überzeugt, die Schmerzmedizin ist ein Fachgebiet, das diese Patienten brauchen. Die brauchen Versorgung nach ihren Bedürfnissen und nicht nach den Fachgebietsgrenzen der Ärzte.

    Meurer: Werden das Ihre Forderungen sein bei dem Schmerz- und Palliativtag, mehr Einbeziehen von Schmerztherapie in das Medizinstudium und mehr Schmerzzentren in Deutschland?

    Müller-Schwefe: Wir starten eine Schmerzoffensive, und das bedeutet, wir wollen, dass in Deutschland Patienten mit chronischen Schmerzen als diejenigen wahrgenommen werden, die sie sind: Menschen mit einem eigenständigen Krankheitsbild, das eine umfassende Therapie bedarf, die auch möglich ist. Wir haben die wissenschaftlichen Grundlagen, aber wir müssen sie auch zur Verfügung stellen.

    Meurer: Wenn jemand von Pontius zu Pilatus schon gelaufen ist, welchen Rat geben Sie ihm, um seine Schmerzen los zu werden oder zu erleichtern und zu mildern?

    Müller-Schwefe: Das Wichtigste ist, dass er sich nicht einreden lässt, er habe nichts oder Schmerzen gehören zum Altern. Das ist kompletter Blödsinn. Es gibt immer eine Anlaufstelle und die kann zum Beispiel die Deutsche Schmerzliga sein, die Selbsthilfeorganisation der chronisch Schmerzkranken. Die hat ein Infotelefon mit einer zentralen Rufnummer, da kann man nach Adressen fragen. Das ist: 0700 – 375 375 375. Da gibt es Adressen.

    Meurer: Okay. Wiederholen wir noch mal die Nummer: 0700 – 375 375 375.

    Müller-Schwefe: Genau so war es.

    Meurer: Gut! Dann wünsche ich Ihnen einen erfolgreichen Verlauf des Schmerz- und Palliativtages. – Das war der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Schmerztherapie, Gerhard Müller-Schwefe, bei uns im Deutschlandfunk. Besten Dank und auf Wiederhören!

    Müller-Schwefe: Danke schön!

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