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"Wir verstehen Demoskopie als angewandte Demokratie"

Für Emnid-Chef Klaus-Peter Schöppner beeinflussen Umfragen auch kurz vor der Wahl grundsätzlich nicht die Entscheidung der Wähler. Doch der Meinungsforscher gibt zu: Wenn es um die Fünfprozenthürde geht, könne die Demoskopie bei der Stimmabgabe ausschlaggebend sein.

Klaus-Peter Schöppner im Gespräch mit Martin Zagatta |
    Martin Zagatta: Morgen um diese Zeit haben die Wahllokale schon geöffnet, und es wird spannend bei dieser Bundestagswahl, darauf deuten die letzten Meinungsumfragen hin. Umfragen, die jetzt allerdings selbst etwas umstritten sind. Das ZDF etwa hat in dieser Woche das ungeschriebene Gesetz des öffentlich-rechtlichen Fernsehens gebrochen und erstmals wenige Tage vor der Wahl noch Zahlen veröffentlicht. Nicht die einzige Umfrage ganz kurz vor der Wahl, was die Frage aufwirft, ob damit eine unzulässige Einflussnahme ausgeübt wird. Dieser Meinung jedenfalls ist auch Bundestagspräsident Norbert Lammert, der von einer "subtilen Steuerung des Wählerwissens" spricht. Was etwa die "Bild am Sonntag" vorhat, eine Umfrage noch am Wahltagmorgen zu veröffentlichen, sollte sich, so Lammert, von selbst verbieten. Erstellt hat diese Umfrage das renommierte Meinungsforschungsinstitut Emnid. Dessen Geschäftsführer ist nun am Telefon – guten Morgen, Klaus-Peter Schöppner!

    Klaus-Peter Schöppner: Guten Morgen, Herr Zagatta!

    Zagatta: Herr Schöppner, haben Sie da jetzt ein schlechtes Gewissen?

    Schöppner: Nein. Das ist ja nicht ganz richtig, was Sie sagen. Die Ergebnisse, die am Sonntag in der "Bild am Sonntag" veröffentlicht werden, sind seit gestern Abend publik, und insofern hat das nur etwas mit dem Erscheinungsdatum, aber nicht mit dem Herstellungsdatum zu tun. Ihre Kritik in Ehren, aber da wird eines vergessen: Die Meinungsforschungsinstitute verfügen ja über überhaupt kein Medium. Also wir haben ja gar nicht die Möglichkeit, selbst was zu veröffentlichen, wir handeln immer im Auftrag entweder der ARD, des ZDF, Medien wie zum Beispiel des Springer-Verlages, und diese stellen sozusagen die Veröffentlichung her. Und noch etwas: Ich glaube, dass die Politiker dort einen großen Fehler machen, wenn sie darauf hinwirken, möglicherweise Meinungsforschungsergebnisse in der Woche vor der Wahl zu verbieten. Denn wir verstehen Demoskopie als angewandte Demokratie. Was passiert denn jetzt in dieser Zeit? Die Kommentare werden schärfer, die Politikeraussagen ebenfalls. Also von Objektivität im Wahlkampf kann man natürlich gerade jetzt überhaupt nicht reden, und da könnte man schon der Ansicht sein, dass demoskopische Ergebnisse, immer unter der Voraussetzung, dass sie richtig und objektiv erhoben worden sind, durchaus ein objektives Korrektiv darstellen.

    Zagatta: Gehen Sie denn davon aus, dass Sie mit Ihren Ergebnissen die Wähler tatsächlich beeinflussen? Hat das Auswirkungen? Üben Sie damit Macht über die Wähler auch aus oder nicht?

    Schöppner: Also grundsätzlich nein, mit einer Ausnahme: Wir machen Sonntagsfragen das ganze Jahr über. Zum Beispiel im Rahmen der "Bild am Sonntag" sind das immer Wochenkumulationen. Da werden also die Ergebnisse einer Woche zusammengefasst und das Ergebnis, was dort veröffentlicht wird, stammt zum Beispiel innerhalb des Zeitraums vom letzten Samstag bis vergangenen Donnerstag, also im Prinzip drei, vier Tage vor der Wahl war der Schwerpunkt. Ich glaube nicht, dass die Beeinflussung groß ist, allerdings, und das muss man schon einschränkend sagen, bei den Fragen, wo es um die Fünf-Prozent-Marge geht – nehmen Sie jetzt das Beispiel FDP oder AfD –, da könnten demoskopische Ergebnisse schon ein Richtwert sein, halt eben im Sinne: Lohnt es sich, meine Stimme abzugeben? Kann ich damit Wirkung erzielen oder ist das eine verlorene Stimme?

    Zagatta: Aber welche Auswirkungen hätte das dann in der Praxis. Wenn die Umfragen – die meisten deuten ja jetzt darauf hin, wenn man so einen Querschnitt nimmt, die FDP vielleicht knapp drin, die AfD knapp unter der Fünf-Prozent-Hürde – welche Auswirkungen hätte das? Was sagt jemand, der jetzt hört, AfD zum Beispiel bei vier Prozent. Da sagt er sich, da brauche ich sie ja nicht wählen, sie kommen nicht rein. Oder sagt der sich, ja, dann wähle ich sie erst recht, damit sie drüber kommen?

    Schöppner: Es gibt natürlich beide Möglichkeiten.

    Zagatta: Da gleicht es sich wieder aus.
    Schöppner: Und das Gleiche gilt natürlich für die FDP. Und letztendlich zählt der Saldo. Also die Umfragen haben ja nur dann einen Einfluss, wenn die eine Gruppe deutlich größer ist als die andere. Wir stellen fest, dass wir ein paar Tage vor der Wahl etwa neun Prozent taktische Wähler haben, die allermeist noch nicht ganz entschieden sind. Die verlassen sich auf den letzten Eindruck der Parteien, möglicherweise auch als Strategen stellen sie sich diese Frage, ob die Stimme verloren ist oder ob es sich jetzt erst recht lohnt. So, aber das ist eine durchaus demokratische Entscheidung eines jeden Einzelnen, und da sollten wir eigentlich Informationen zur Verfügung stellen. Eingreifen tun wir ja nun überhaupt nicht in diese Entscheidung.

    Zagatta: Herr Schöppner, gehen Sie denn davon aus, dass die Umfragen der Meinungsforschungsinstitute diesmal, dass die korrekter sind als in der Vergangenheit, wo sie jetzt eben so kurz vor der Wahl noch gemacht wurden? Sind die denn vielleicht genauer als beispielsweise vor der Niedersachsenwahl, wo die Meinungsforscher ja ziemlich daneben gelegen haben, weil man es relativ früh erhoben hat?

    Schöppner: Ja, ich glaube, da machen die Journalisten und die breite Öffentlichkeit einen Denkfehler. Was wir machen, sind ja Diagnosen. Also wir stellen zum Beispiel fest, wie ist die Einstellung bezüglich der Sonntagsfrage zwischen letztem Samstag und letztem Donnerstag gewesen. Das ist eine Diagnose, das ist der Sachstand in diesem Zeitraum, und eine Prognose stellen wir überhaupt nicht. Wir sagen ja nicht, das heißt, dass am Sonntag die Wahl so oder so ausgehen wird. Zu Ihrer Frage zurück: Die Instrumente sind die gleichen, die Instrumente sind nicht genauer, aber auch nicht ungenauer, und was Niedersachsen anbelangt, da hatten die Institute schon zum Beispiel das rechtsliberale Lager richtig eingeschätzt. Bloß, die letzten Bewegungen innerhalb – und das wird auch jetzt noch eine entscheidende Frage sein – zum Beispiel innerhalb der Regierungskoalition – wähle ich die Union oder gebe ich doch der FDP meine Leihstimme – das sind halt eben diese Last-minute-Entscheidungen. Die können und die wollen wir auch gar nicht in den Griff bekommen. Und das wird eine der spannenden Fragen sein, wie gerade die taktischen Wähler sich innerhalb von Parteienverbünden entscheiden.

    Zagatta: Und auch, wenn das spannend wird, Herr Schöppner – wenn man genau hinschaut, wenn man ausschließt, dass es eine rot-rot-grüne Koalition gibt – die SPD hat ja ein solches Bündnis mit der Linkspartei definitiv ausgeschlossen – also wenn es dieses rot-rot-grüne Bündnis nicht gibt, kann man dann heute schon sagen, dann bleibt Frau Merkel Kanzlerin?

    Schöppner: Nein, das kann man überhaupt nicht sagen. Die beiden Lager sind gleichauf, und dann gibt es da noch ein Zünglein an der Waage, und das ist die AfD. Die ist besonders schwer zu messen, weil man nicht feststellen kann, in was für einem Stimmungsumfeld sie sich befindet. Wir haben keine Erfahrungen mit den Ergebnissen, weil es sie vor vier Jahren ja noch nicht gegeben hat. Also: Diese Partei hat im Prinzip zweieinhalb Prozent Überzeugungswähler, die sind antieuropäisch eingestellt und die wählen die AfD auch unter der Maßgabe, dass sie nicht irgendwo in den Bundestag kommt. Aber es gibt etwa in Deutschland fünf bis sechs Prozent Protestwähler. Protestwähler sind ausgesprochen volatil, die sind überhaupt nicht ideologisch festgelegt. Die haben vor vier Jahren vornehmlich die Linkspartei gewählt, die haben in der Zwischenzeit die Piraten gewählt. Und wenn nur die Hälfte hiervon diesmal die AfD wählt, dann können sie schon an die Fünfprozentmarge kommen. So, und dann haben wir natürlich eine völlig neue Situation, was die Koalitionsbildung anbelangt.

    Zagatta: Klingt spannend. Wie ist denn das, wie sehen Sie das, ob es nun stimmt oder nicht, in der Öffentlichkeit und auch in vielen Medien wird ja seit Wochen beklagt, das sei ein ganz, ganz langweiliger Wahlkampf. Ist das für Sie nachzuvollziehen oder ist das aus Sicht eines Meinungsforschers, was Sie uns gerade gesagt haben, ist das vielleicht sogar das Gegenteil? Das klingt ja spannend.

    Schöppner: Nein, es fing in der Tat sehr langweilig und langatmig an. Der Wahlkampf hat einen Drive bekommen, als die Wahl im Prinzip auch das Thema Merkel gegen Steinbrück bekam, also nach dem Kanzlerduell. Er hat noch jetzt an Fahrt gewonnen dadurch, dass die Lager etwa gleich stark sind und dass es natürlich einen Richtungsentscheid hier gibt. Ob diese Regierung weiterhin ihre Arbeit fortsetzen kann oder nicht. Und das ist letztendlich etwas, was wir feststellen können, dass das Interesse am Wahlkampf und an politischen Entscheidungen in den letzten 14 Tagen massiv zugenommen hat. Und ich möchte fast sagen, dass das Interesse jetzt stärker ist als vor vier Jahren.

    Zagatta: Das deutet dann auch auf eine gute Wahlbeteiligung hin?

    Schöppner: Es deutet auf zumindest eine etwas bessere Wahlbeteiligung als vor vier Jahren hin, und der Anteil der Briefwähler, wenn ich da richtig informiert bin, zeigt ja auch im Prinzip, dass das Interesse derzeit ziemlich ist.

    Zagatta: Klaus-Peter Schöppner, der Geschäftsführer des Meinungsforschungsinstituts Emnid. Herr Schöppner, ganz herzlichen Dank für das Gespräch!

    Schöppner: Ich bedanke mich bei Ihnen! Alles Gute!

    Zagatta: Ihnen auch!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.