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"Wir warten seit zehn Jahren gebannt auf diese Pandemie"

Jede Epoche sucht sich seine Krankheit aus, sagt Jochen Hörisch, Literaturwissenschaftler, anlässlich des Ausbruchs der Schweinegrippe. Für die Literatur sei dies von großer Bedeutung: Denn solche Ereignisse sind Stoff für unzählige Romane - und nehmen so die menschliche Erwartung des Unheils auf.

Jochen Hörisch im Gespräch mit Doris Schäfer-Noske | 27.04.2009
    Doris Schäfer-Noske: Zunächst aber zum Thema Schweinegrippe. Beunruhigende Bilder haben uns aus Mexiko erreicht. Auf den Titelseiten aller deutschen Tageszeitungen sind heute ähnliche Fotos zu sehen, Menschen mit Mundschutz. Das öffentliche Leben in Mexiko sei durch den Ausbruch der Schweinegrippe zum Erliegen gekommen, heißt es, nur wenige trauten sich noch aus dem Haus, öffentliche Veranstaltungen seien abgesagt, Schulen geschlossen. Inzwischen hat die Krankheit Europa erreicht. In Deutschland gibt es drei Verdachtsfälle und Begriffe wie "Seuchenangst" oder gar "Pandemiegefahr" beherrschen die Schlagzeilen. Trotz enormer medizinischer Fortschritte schlummert auch in den Menschen von heute eine große Angst vor Seuchen. Der Literatur- und Medienwissenschaftler Jochen Hörisch hat ein Buch herausgegeben, das sich mit dem Wechselspiel zwischen Krankheiten und der Literatur auseinandersetzt. Frage, Herr Hörisch: In der Literatur und Kunst spielte die Pest eine große Rolle. Welche Krankheiten haben denn welche Epochen der Literatur beherrscht?

    Jochen Hörisch: Jede Epoche sucht sich gewissermaßen eine Krankheit aus, die zu ihr passt, und das Spannende ist ja, dass die Literatur dann gar nicht so sehr zählt - zynisch gesprochen -, wie viele Tote es gibt, sondern welche Krankheit charakteristisch ist für eine Epoche. Nehmen wir etwa die Wandervogelbewegung, die Zeit, in der man singt: "Brüder, zur Sonne, zur Freiheit", da ist Tuberkulose die ganz große Krankheit, die literaturfähig ist, denken wir etwa an den "Zauberberg". Oder die Zeit des exponentiellen Wachstums, da haben wir lauter Krebs-Romane, Krebs-Stationen, alles wächst, also wächst das Negative auch. Oder wir haben eben Aufmerksamkeitsdefizitsyndrome genau in dem Augenblick, wo wir ein Überangebot an Informationen haben. Die These wäre also: Literatur verfügt über so was wie eine implizite These, jede Epoche hat ihre Krankheit, die Literatur beobachtet das sehr, sehr aufmerksam.

    Schäfer-Noske: In Deutschland gab es ja in den vergangenen Jahren immer wieder Panikszenarien in den Massenmedien, etwa im Zusammenhang mit der Vogelgrippe oder mit Noro-Viren. Werden denn Viruserkrankungen in der Literatur bald die Themen Krebs und Aids ablösen?

    Hörisch: Da spricht einiges dafür, denn die Angst ist ja sehr verbreitet, eigentümliche Umstände - genuin-literarisches Thema. Wir warten ja eigentlich seit zehn Jahren gebannt auf diese Pandemie, auf die große Vogelgrippe, auf eine neue, Spanische Grippe, die zig Millionen Tote bringen, und man kann ja als Laie - und ich bin medizinischer Laie - da nun nicht sagen, was dran ist oder was nicht ist. Aber wenn eine Öffentlichkeit, eine Weltöffentlichkeit eigentlich Jahr für Jahr damit rechnet, dann ist das ja eine literarische Erwartung des Unheils, die natürlich auch irgendwann literarisch gestaltet sein wird. Diese Krankheit kommt ja nicht so unerwartet, wie etwa Aids als Epidemie, als Pandemie, über uns gekommen ist, und man kann dann sehr stark mit dem Schema arbeiten: Erwartete Katastrophe, berechenbare Katastrophe oder überfallartig über uns kommende Katastrophe.

    Schäfer-Noske: Was ist denn gefährlicher, die Schweinegrippe oder die Paranoia, die ihr jetzt vorauseilt?

    Hörisch: Das ist natürlich eine Frage, die zwischen Satan und Beelzebub entscheiden will. Beides gehört, glaube ich, ganz unbedingbar zusammen. Die Angst, dass diese Epidemie kommt, könnte selbst Bestandteil der Krankheit sein, die damit verbunden ist, bis dahin, dass die Leute, die geängstigt sind, gerade auch in dem Maße - wir haben ja auch auf dem Bankensektor etwa eine Pandemie, eine Bank steckt die andere an -, dass wir sozusagen überhaupt die Paranoia entwickeln, die ganze Welt ist viral verseucht, die Zeichenwelt des Geldes ebenso wie jetzt die somatische Welt der Körper, also dass da noch eine Gemengelage hinzukommt, wo zu den somatischen, zu den Bankenkrisen, eine große weltweite Psychose kommt. Das ist leider, leider nicht auszuschließen. Aber das ist der Stoff, aus dem die Literatur ist.

    Schäfer-Noske: Namen wie Werther, Emma Bovary, Dorian Gray oder auch Gustav von Aschenbach gelten ja als Synonyme, wenn man so will, für Epochenkrankheiten. Kann man die denn vergleichen mit Susan Sontag oder mit Christoph Schlingensief auch, die sich in Literatur und ihren Werken mit ihrer Krebserkrankung auseinandergesetzt haben?

    Hörisch: Ja, es ist ja doch bemerkenswert, wie stark die Art und Weise, wie Schlingensief seine individuelle Krankheit jetzt symptomatisiert und sagt, ich habe die genau zu dem Augenblick gekriegt, als ich in Bayreuth den "Parzival" inszeniert habe, aus einem von - man darf es wiederum zynisch sagen - vielen Millionen Krebsschicksalen, eine typische Erkrankung macht, die alle Aufmerksamkeit verdient. Und die Frage ist eben vor allen Dingen die: Wie fokussiert die Literatur die Aufmerksamkeit auf diese Zusammenhänge, die individuelle Leidensgeschichte, die individuelle Biografie auf der einen Seite und die Statistik, die Strukturgeschichte auf der anderen Seite? Die können einen ganz interessanten Cocktail abgeben.

    Schäfer-Noske: Es gibt ja daneben auch die historischen Romane, zum Beispiel "Der Medicus" von Noah Gordon, da geht es ja auch um Pest und Pocken und die Behandlungsmethoden im Mittelalter. Steht das ebenfalls für einen Trend?

    Hörisch: Ja, wir haben dann natürlich wiederum die Selbstbestätigung, was wir alles hinter uns haben. Die Pest scheint ja eine besiegte Krankheit zu sein. Wir sind dann aber einigermaßen entsetzt, wenn eine Krankheit, die auch als besiegelt galt wie die Tuberkulose, wiederkommt und zwar so wiederkommt, dass diese Krankheit eben nicht mehr behandelt werden kann. Warum? Weil die Erreger resistent geworden sind. Uns gefällt also dieser historische Rückblick, weil wir dann das Gefühl haben, wir sind noch einmal davongekommen - umso unheimlicher, wenn wir merken, dass dem nicht so ist.

    Schäfer-Noske: Das war der Literatur- und Medienwissenschaftler Jochen Hörisch über Krankheiten in der Literatur anlässlich der Schweinegrippe.