Silvia Engels: Vor einigen Wochen hatten die Wahlforscher ihnen kaum Chancen eingeräumt, die Fünf-Prozent-Hürde im Berliner Abgeordnetenhaus zu überwinden. Gestern nun haben sie mit 8,9 Prozent der Wählerstimmen diese Grenze mit Leichtigkeit genommen. Die Rede ist von der Piratenpartei, einer Partei, die sich in Deutschland 2006 gegründet hat und die vor allem bislang mit dem Einsatz für ein Internet ohne Beschränkungen bekannt war. Am Telefon ist der Bundesvorsitzende der Piratenpartei, Sebastian Nerz. Guten Morgen!
Sebastian Nerz: Guten Morgen!
Engels: Transparenz und ein freies Internet, das kennen wir schon als ihr Leib- und Magenthema. Was haben die Piraten außerdem zu bieten?
Nerz: Die Piratenpartei ist primär eine Grundrechtspartei. Wir versuchen, uns um Bürgerrechte zu kümmern, weil das ein Bereich ist, der in der Politik bislang leider vernachlässigt wurde.
Engels: Das ist noch etwas wage, die Grundrechte schreiben sich ja eigentlich alle demokratischen Parteien auf die Fahne. Wo sehen Sie denn da Nachbesserungsbedarf?
Nerz: Überall! Wir haben in den letzten Jahren immer wieder neue Sicherheitsgesetze gesehen, Verschärfungen von Überwachungsregelungen gesehen, Einschränkungen von Grundrechten gesehen, die zum Teil ohne jede echte Diskussion verabschiedet wurden. Es gibt keine Diskussionen, ob bestehende Gesetze wirklich sinnvoll angewendet werden. Wir haben aktuell eine Diskussion über die Vorratsdatenspeicherung, bei der sich der größte Teil des Bundestages eigentlich einig ist, na ja, ist doch wieder eine ganz tolle Sache, aber wirklich evaluiert, ob man eine solche Maßnahme braucht, wird dabei auch nicht.
Engels: Die Idee der Piratenpartei gibt es aber auch, das Urheberrecht zumindest abzuschwächen, damit eben im Internet auch mehr Inhalte frei verfügbar sind. Das finden allerdings viele Wissenschaftler, Künstler und Autoren eine schwierige Sache. Ist das nicht auch eine Beschränkung von Grundrechten, wenn Sie den Urheberrechtsschutz einschränken wollen?
Nerz: Also die meisten Wissenschaftler, mit denen ich bisher geredet habe, die stehen Open Access eigentlich sehr, sehr aufgeschlossen gegenüber. Und wir wollen das Urheberrecht auch nicht abschaffen; wir wollen einfach dafür sorgen, dass das Urheberrecht reformiert wird. Aktuell ist das sehr einseitig aufseiten der Verwertungsgesellschaften. Weder Künstler noch Konsumenten werden da gerecht behandelt.
Engels: Das vielleicht als erste Themen, die Sie auch auf der Bundesebene in den Vordergrund rücken wollen. Dann schauen wir noch mal auf dieses doch wirklich beachtliche Wahlergebnis gestern, das ja der Berliner Landesverband erzielt hat, und der hat ja auch andere Forderungen, die nicht unbedingt im Bundesprogramm stehen, nämlich die fahrscheinlose Fahrerei im U- und S-Bahn-System in Berlin, das bedingungslose Grundeinkommen und auch die Freigabe von Cannabis-Konsum. Wie passt so was denn zur Bundesebene der Piraten?
Nerz: Das passt sehr, sehr gut. Wir haben auf Bundesebene beispielsweise den ReSET-Antrag angenommen. Das heißt, wir haben verabschiedet, dass es bedingungslos eine soziale Grundsicherung für jeden Menschen geben soll, die eine Teilhabe an der Gesellschaft haben sollen. BGE ist dafür eine mögliche Umsetzungsform, auch ein kostenloser ÖPNV. Freizügigkeit, das heißt die Möglichkeit, sich frei bewegen zu können in Deutschland, ist eigentlich ein Grundrecht, auch wenn es durch zum Beispiel relativ teuere Gebühren eingeschränkt wird. Und wenn man sich anschaut, wie viel Geld alleine für Kontrollen ausgegeben wird, hört sich ein kostenloser ÖPNV doch gar nicht so schlecht an.
Engels: Hört sich nicht schlecht an, aber klingt angesichts der hohen Schuldenlast Berlins, die ja auch nicht unbedingt immer dem Spitzenpersonal der Berliner Piraten geläufig war, reichlich realitätsfremd an.
Nerz: Natürlich kostet ein kostenloser ÖPNV im ersten Moment relativ viel Geld. Wenn man sich anschaut, wie viel Geld aber auch staatlicherseits in den Individualverkehr fließt, zum Beispiel in den Ausbau von Straßen, und wenn man sich anschaut, dass es jetzt schon so ist, dass eigentlich die Bürger den ÖPNV zahlen – ob sie das jetzt über Tickets tun, oder ob man das über Steuern tut -, sehe ich das gar nicht so realitätsfern.
Engels: Viele Parteien, die aus dem Protest kamen, Herr Nerz, die haben in der Realität dann enttäuscht. Wie wappnen Sie sich dagegen?
Nerz: Wir versuchen einfach, genauso weiterzumachen, wie wir das bisher getan haben. Wir versuchen, unsere Strukturen transparent und offen zu gestalten, mit den Menschen zu reden, innerparteilich sehr, sehr viel darüber zu reden, was wir tun. Wir versuchen nicht, jetzt abzuheben. Und ich denke, wenn uns das gelingt, dann werden wir auch mit dem Erfolg jetzt keine Probleme haben.
Engels: Nun wollen Sie so weiter machen wie bisher, sagen Sie. Nun gab es bei Ihnen in der Piratenpartei in den letzten Jahren allerdings auch schon sehr viel interne Streitereien, chaotische Parteitage, einen Führungswechsel. Ist das dann auch das, was den Piraten in den nächsten Jahren noch bevorsteht?
Nerz: Führungswechsel sind in der Piratenpartei gar nichts Dramatisches. Bei uns legt der Bundesvorstand oder auch die Landesvorstände ja nicht die inhaltlichen Richtlinien fest, anders als es in anderen Parteien ist, sondern diese werden auf Parteitagen festgezurrt. Daher sind Wechsel in den Vorständen eigentlich nur eine rein organisatorische Sache und nichts wirklich Relevantes.
Und Streit in Parteien? – Ich denke, wenn eine Partei wirklich demokratisch aufgebaut ist, wenn die Menschen die Möglichkeit haben, sich dort inhaltlich einzubringen, wenn man über Inhalte diskutieren kann, dann ist es völlig normal, dass es auch mal Streit gibt.
Engels: Da klingen Sie ähnlich wie die Grünen. Sie haben den Wahlerfolg gestern auch mit dem Wahlerfolg der Grünen vor 30 Jahren verglichen. Auch die Grünen sind damals sehr basisdemokratisch gestartet, damals ähnlich wie bei Ihnen: Delegierte sollen offen und frei diskutieren. Das hat aber auch dazu geführt, dass man Jahre und Jahrzehnte gebraucht hat, bis man als Grüne im Bund regierungsfähig war. Schreckt Sie das ab?
Nerz: Nein. Wenn man versucht, ein politisches System grundlegend zu verändern – und wir wollen ja nicht nur politische Themen durchsetzen; wir wollen die Art und Weise verändern, wie Politik in Deutschland gemacht wird -, dann muss man sich im Klaren darüber sein, dass das sehr, sehr viel Zeit in Anspruch nehmen wird, und das wissen wir.
Engels: Das wissen Sie. Auf der anderen Seite haben die Flügelkämpfe die Grünen fast zerrissen.
Nerz: Das ist das Risiko dabei. Wir haben bei uns bisher aber noch keine Trennung in Realos und Fundis oder andere Flügel. Es gibt bei uns sehr intensiv gelebte inhaltliche Diskussionen, aber wir wissen alle, dass wir jenseits einzelner inhaltlicher Diskrepanzen große Gemeinsamkeiten haben. Das hält uns zusammen und ich denke, das ist auch ein Punkt, der uns von den Grünen da unterscheidet.
Engels: Gestern waren ja Stimmen aus der Piratenpartei zu hören, man strebe nun den Sprung in den Bundestag an. Unterschätzen sie, dass Berlin nun wirklich nicht ganz Deutschland ist?
Nerz: Berlin ist natürlich nicht ganz Deutschland und wir wissen auch, dass wenn morgen Bundestagswahlen wären wir da vermutlich keine 8,9 Prozent hätten. Es ist aber so, dass uns häufig vorgeworfen wurde, wir würden ja sowieso nicht den Sprung über fünf Prozent schaffen, und wir konnten gestern sehr eindrucksvoll beweisen, dass wir diesen Sprung eben schaffen können. Wir können jetzt zeigen, dass wir in der Lage sind, eine seriöse, eine ernsthafte und eine langfristige Politik auch in den Parlamenten zu machen, dass wir also vertrauenswürdig sind, und wenn wir das zeigen, dann, denke ich, werden wir auch im Bundestag die fünf Prozent schaffen.
Engels: Sebastian Nerz, er ist der Bundesvorsitzende der Piratenpartei, also der Überraschungspartei, die gestern bei den Berliner Abgeordnetenhauswahlen mit 8,9 Prozent in den Landtag eingezogen ist. Vielen Dank für das Gespräch.
Nerz: Ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Sebastian Nerz: Guten Morgen!
Engels: Transparenz und ein freies Internet, das kennen wir schon als ihr Leib- und Magenthema. Was haben die Piraten außerdem zu bieten?
Nerz: Die Piratenpartei ist primär eine Grundrechtspartei. Wir versuchen, uns um Bürgerrechte zu kümmern, weil das ein Bereich ist, der in der Politik bislang leider vernachlässigt wurde.
Engels: Das ist noch etwas wage, die Grundrechte schreiben sich ja eigentlich alle demokratischen Parteien auf die Fahne. Wo sehen Sie denn da Nachbesserungsbedarf?
Nerz: Überall! Wir haben in den letzten Jahren immer wieder neue Sicherheitsgesetze gesehen, Verschärfungen von Überwachungsregelungen gesehen, Einschränkungen von Grundrechten gesehen, die zum Teil ohne jede echte Diskussion verabschiedet wurden. Es gibt keine Diskussionen, ob bestehende Gesetze wirklich sinnvoll angewendet werden. Wir haben aktuell eine Diskussion über die Vorratsdatenspeicherung, bei der sich der größte Teil des Bundestages eigentlich einig ist, na ja, ist doch wieder eine ganz tolle Sache, aber wirklich evaluiert, ob man eine solche Maßnahme braucht, wird dabei auch nicht.
Engels: Die Idee der Piratenpartei gibt es aber auch, das Urheberrecht zumindest abzuschwächen, damit eben im Internet auch mehr Inhalte frei verfügbar sind. Das finden allerdings viele Wissenschaftler, Künstler und Autoren eine schwierige Sache. Ist das nicht auch eine Beschränkung von Grundrechten, wenn Sie den Urheberrechtsschutz einschränken wollen?
Nerz: Also die meisten Wissenschaftler, mit denen ich bisher geredet habe, die stehen Open Access eigentlich sehr, sehr aufgeschlossen gegenüber. Und wir wollen das Urheberrecht auch nicht abschaffen; wir wollen einfach dafür sorgen, dass das Urheberrecht reformiert wird. Aktuell ist das sehr einseitig aufseiten der Verwertungsgesellschaften. Weder Künstler noch Konsumenten werden da gerecht behandelt.
Engels: Das vielleicht als erste Themen, die Sie auch auf der Bundesebene in den Vordergrund rücken wollen. Dann schauen wir noch mal auf dieses doch wirklich beachtliche Wahlergebnis gestern, das ja der Berliner Landesverband erzielt hat, und der hat ja auch andere Forderungen, die nicht unbedingt im Bundesprogramm stehen, nämlich die fahrscheinlose Fahrerei im U- und S-Bahn-System in Berlin, das bedingungslose Grundeinkommen und auch die Freigabe von Cannabis-Konsum. Wie passt so was denn zur Bundesebene der Piraten?
Nerz: Das passt sehr, sehr gut. Wir haben auf Bundesebene beispielsweise den ReSET-Antrag angenommen. Das heißt, wir haben verabschiedet, dass es bedingungslos eine soziale Grundsicherung für jeden Menschen geben soll, die eine Teilhabe an der Gesellschaft haben sollen. BGE ist dafür eine mögliche Umsetzungsform, auch ein kostenloser ÖPNV. Freizügigkeit, das heißt die Möglichkeit, sich frei bewegen zu können in Deutschland, ist eigentlich ein Grundrecht, auch wenn es durch zum Beispiel relativ teuere Gebühren eingeschränkt wird. Und wenn man sich anschaut, wie viel Geld alleine für Kontrollen ausgegeben wird, hört sich ein kostenloser ÖPNV doch gar nicht so schlecht an.
Engels: Hört sich nicht schlecht an, aber klingt angesichts der hohen Schuldenlast Berlins, die ja auch nicht unbedingt immer dem Spitzenpersonal der Berliner Piraten geläufig war, reichlich realitätsfremd an.
Nerz: Natürlich kostet ein kostenloser ÖPNV im ersten Moment relativ viel Geld. Wenn man sich anschaut, wie viel Geld aber auch staatlicherseits in den Individualverkehr fließt, zum Beispiel in den Ausbau von Straßen, und wenn man sich anschaut, dass es jetzt schon so ist, dass eigentlich die Bürger den ÖPNV zahlen – ob sie das jetzt über Tickets tun, oder ob man das über Steuern tut -, sehe ich das gar nicht so realitätsfern.
Engels: Viele Parteien, die aus dem Protest kamen, Herr Nerz, die haben in der Realität dann enttäuscht. Wie wappnen Sie sich dagegen?
Nerz: Wir versuchen einfach, genauso weiterzumachen, wie wir das bisher getan haben. Wir versuchen, unsere Strukturen transparent und offen zu gestalten, mit den Menschen zu reden, innerparteilich sehr, sehr viel darüber zu reden, was wir tun. Wir versuchen nicht, jetzt abzuheben. Und ich denke, wenn uns das gelingt, dann werden wir auch mit dem Erfolg jetzt keine Probleme haben.
Engels: Nun wollen Sie so weiter machen wie bisher, sagen Sie. Nun gab es bei Ihnen in der Piratenpartei in den letzten Jahren allerdings auch schon sehr viel interne Streitereien, chaotische Parteitage, einen Führungswechsel. Ist das dann auch das, was den Piraten in den nächsten Jahren noch bevorsteht?
Nerz: Führungswechsel sind in der Piratenpartei gar nichts Dramatisches. Bei uns legt der Bundesvorstand oder auch die Landesvorstände ja nicht die inhaltlichen Richtlinien fest, anders als es in anderen Parteien ist, sondern diese werden auf Parteitagen festgezurrt. Daher sind Wechsel in den Vorständen eigentlich nur eine rein organisatorische Sache und nichts wirklich Relevantes.
Und Streit in Parteien? – Ich denke, wenn eine Partei wirklich demokratisch aufgebaut ist, wenn die Menschen die Möglichkeit haben, sich dort inhaltlich einzubringen, wenn man über Inhalte diskutieren kann, dann ist es völlig normal, dass es auch mal Streit gibt.
Engels: Da klingen Sie ähnlich wie die Grünen. Sie haben den Wahlerfolg gestern auch mit dem Wahlerfolg der Grünen vor 30 Jahren verglichen. Auch die Grünen sind damals sehr basisdemokratisch gestartet, damals ähnlich wie bei Ihnen: Delegierte sollen offen und frei diskutieren. Das hat aber auch dazu geführt, dass man Jahre und Jahrzehnte gebraucht hat, bis man als Grüne im Bund regierungsfähig war. Schreckt Sie das ab?
Nerz: Nein. Wenn man versucht, ein politisches System grundlegend zu verändern – und wir wollen ja nicht nur politische Themen durchsetzen; wir wollen die Art und Weise verändern, wie Politik in Deutschland gemacht wird -, dann muss man sich im Klaren darüber sein, dass das sehr, sehr viel Zeit in Anspruch nehmen wird, und das wissen wir.
Engels: Das wissen Sie. Auf der anderen Seite haben die Flügelkämpfe die Grünen fast zerrissen.
Nerz: Das ist das Risiko dabei. Wir haben bei uns bisher aber noch keine Trennung in Realos und Fundis oder andere Flügel. Es gibt bei uns sehr intensiv gelebte inhaltliche Diskussionen, aber wir wissen alle, dass wir jenseits einzelner inhaltlicher Diskrepanzen große Gemeinsamkeiten haben. Das hält uns zusammen und ich denke, das ist auch ein Punkt, der uns von den Grünen da unterscheidet.
Engels: Gestern waren ja Stimmen aus der Piratenpartei zu hören, man strebe nun den Sprung in den Bundestag an. Unterschätzen sie, dass Berlin nun wirklich nicht ganz Deutschland ist?
Nerz: Berlin ist natürlich nicht ganz Deutschland und wir wissen auch, dass wenn morgen Bundestagswahlen wären wir da vermutlich keine 8,9 Prozent hätten. Es ist aber so, dass uns häufig vorgeworfen wurde, wir würden ja sowieso nicht den Sprung über fünf Prozent schaffen, und wir konnten gestern sehr eindrucksvoll beweisen, dass wir diesen Sprung eben schaffen können. Wir können jetzt zeigen, dass wir in der Lage sind, eine seriöse, eine ernsthafte und eine langfristige Politik auch in den Parlamenten zu machen, dass wir also vertrauenswürdig sind, und wenn wir das zeigen, dann, denke ich, werden wir auch im Bundestag die fünf Prozent schaffen.
Engels: Sebastian Nerz, er ist der Bundesvorsitzende der Piratenpartei, also der Überraschungspartei, die gestern bei den Berliner Abgeordnetenhauswahlen mit 8,9 Prozent in den Landtag eingezogen ist. Vielen Dank für das Gespräch.
Nerz: Ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.