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"Wir wussten gar nicht, was Krieg ist"

Friedrich Nowottny war viele Jahre Intendant des Westdeutschen Rundfunks. Natürlich kann der heute 81-Jährige aber auf eine weitaus vielfältigere Karriere zurückblicken. Im Interview spricht er über seinen langen Weg vom Vertriebenen zum Vollblutjournalisten.

Friedrich Nowottny im Gespräch mit Rainer Burchardt |
    Sprecher: Friedrich Nowottny, geboren am 16. Mai 1929 in Hindenburg, Oberschlesien. Deutscher Journalist und ehemaliger Intendant des Westdeutschen Rundfunks, WDR. Nach Flucht und Vertreibung arbeitete Friedrich Nowottny von 1946 bis 1948 bei der Britischen Besatzungsmacht. Danach zunächst freier Mitarbeiter und Lokalreporter bei der Tageszeitung "Freie Presse" in Bielefeld, dort ab 1953 Volontär. Zuvor war Nowottny in der Hauptverwaltung der Deutschen Eisenbahn-Versicherungskasse in Bielefeld beschäftigt. Nach Abschluss des Volontariats bei der "Freien Presse" wurde er als Redakteur übernommen und 1959 Ressortleiter. 1962 Wechsel zum Saarländischen Rundfunk, dort Leiter der Abteilung des Fernsehens für Wirtschaft und Soziales. Weitere Stationen des Vollblutjournalisten Nowottny: stellvertretender Studioleiter Fernsehen beim WDR Bonn 1967, das er ab dem 1. Februar 1973 leitete, Chefkorrespondent der ARD. Nowottny profilierte sich vor allem als Moderator der politischen Sendereihe "Bericht aus Bonn". Mitte 1985 stieg Friedrich Nowottny zum Intendanten des Westdeutschen Rundfunks, WDR, auf. In seiner Amtszeit, die bis 1995 dauerte, fiel auch die Ergänzung des TV-Angebots, durch die der WDR als erster deutscher Fernsehkanal bereits ab 1994 ein tägliches 24-Stunden-Programm ausstrahlte. Neben seiner WDR-Intendantur war Nowottny in den Jahren 1992 und '93 auch ARD-Vorsitzender. In dieser Funktion trieb er vor allem die Fusion der Rundfunkanstalten der neuen Bundesländer mit der ARD voran. Auch die Vereinigung des Deutschlandfunks in Köln mit dem RIAS Berlin und dem Deutschlandsender Kultur zum Deutschlandradio bereitete Nowottny vor. Am 30. Juni 1995 ging er in den Ruhestand. Friedrich Nowottny ist verheiratet, hat zwei Kinder und inzwischen drei Enkelkinder.

    Friedrich Nowottny: Ich fühlte mich einfach besiegt.

    Sprecher: Heimat in Oberschlesien, Krieg und Vertreibung.

    Rainer Burchardt: Herr Nowottny, Sie sind Jahrgang 1929, geboren am Höhepunkt der ersten Weltwirtschaftskrise, wie es so schön heißt, in Hindenburg, in Oberschlesien, und Sie sind auch Vertriebener. Wie war das in Ihrer Jugend? Wie haben Sie Ihre Jugend erlebt, zunächst die Weltwirtschaftskrise, da waren Sie ein kleines Kind, klar, danach dann die NS-Zeit und der Krieg. Fühlen Sie sich auch als Angehöriger einer, zumindest in diesem Zeitraum, betrogenen jungen Generation?

    Nowottny: Ich weiß nicht, immer wenn ich darüber nachdenke mit der betrogenen Generation, dann kann ich nur sagen, das war eine Generation, die in ungewöhnlichen Zeitläufen Deutschlands aufgewachsen ist, eine wunderbare Kindheit, sehr bescheiden, muss ich zugeben, aber für das Kind Friedrich oder Fritz, wie man mich nannte, das war ein Paradies, in dem wir lebten – trotz der unglaublichen Armut, die damals herrschte, auch in meiner Familie. Ich hab unlängst mit meiner fünf Jahre älteren Schwester darüber gesprochen, sage ich, du, waren wir im heutigen Sinne nicht unheimlich arm? Da sagte sie, du, das waren damals alle. Und sie hat recht damit. Wenn ich heute die Armutsdebatte in Deutschland verfolge, und die ist ja wieder dank der Hartz-IV-Diskussion sehr aktuell und wird sehr hoch gehandelt in den Medien, wenn ich die verfolge und wenn ich die Lebensumstände meiner Familie und der Familien um uns herum betrachte, dann muss ich sagen, verstehe ich manches nicht. Wir wären, wenn man die Maßstäbe von damals an uns heute anlegen würde, wir wären damals weit unter Hartz IV gewesen, und wir haben trotzdem überlebt.

    Burchardt: Kann es vielleicht damit zusammenhängen, dass es da vor dieser Zeit ja auch nicht gerade eine leichte Zeit in Deutschland gegeben hat, während dieses ja jetzt, 2010 ist im Nachklapp über 50 Jahre gerechnet, eines ungeheuren Aufschwungs in Europa?

    Nowottny: Genau Herr Burchardt, das ist genau der Unterschied. Die Menschen, die sich heute als arm empfinden, orientieren sich an dem, was sie an den gut verdienenden, möglicherweise in festen Jobs arbeitenden Nachbarn sehen, was sie sich leisten können und was die sich nicht leisten können. Das spielt in der Tat eine große Rolle.

    Burchardt: War der Beginn des Krieges ein Schock für Sie?

    Nowottny: Der Beginn des Krieges war für mich und für meine Freunde in der Nachbarschaft zunächst ein Abenteuerspielplatz. Wir wohnten ...

    Burchardt: Sie waren zehn Jahre alt?

    Nowottny: Wir wohnten zehn Minuten von der polnischen Grenze weg, deutsch-polnische Grenze, und wir hatten nichts anderes im Sinn, als möglichst nahe dabei zu sein, wenn es bums macht, wenn geschossen wurde.

    Burchardt: Das heißt, Sie haben es nicht richtig ernst genommen?

    Nowottny: Nein, wir wussten gar nicht, was Krieg ist. Wir gingen also zur Grenze, dort gab es eine Straße mit den berühmten Häusern der Zollbeamten auf der linken und der rechten Seite. Die hatten schon einmal ihre Lautsprecher ins Fenster gestellt, um die Hitlerrede aus dem Reichstag, mit dem berühmten Satz "Ab 5.45 Uhr wird zurückgeschossen!" zu übertragen, und zwar so laut zu übertragen, dass das auch die Polen auf der anderen Seite, der ..., so hieß dieser Fluss, der Grenzfluss, war, hörten. Und die schossen plötzlich auch unerwartet, und mein Freund und ich, die wir da hingegangen waren, um zu gucken, was läuft, lagen plötzlich im Wassergraben dieser Straße. Ja, das war dann der Ernst des Krieges, der uns das erste Mal am 1. September 1939 begegnet ist. Wir brachten uns in Sicherheit.

    Burchardt: Es wurde ja noch viel ernster für Sie, weil Ihr Vater im Krieg gefallen ist.

    Nowottny: Mein Vater ist 1945 im April gefallen, und ich war mit meinem Vater zusammen im Volkssturm, und wir haben, wie hieß es damals so schön, Seite an Seite gekämpft und im Schützenloch gestanden.

    Burchardt: Waren Sie in derselben Einheit?

    Nowottny: Ja, ja, wir waren in derselben Volkssturmeinheit. Die wurden ja nach Ortschaften rekrutiert, und das war ... Ich stelle fest, dass ich jetzt in fortgeschritten Jahren mich immer mehr und immer intensiver mit dieser letzten Kriegsphase auseinandersetze, die dazu geführt haben, dass ich aus dem Schlamassel an der Ostfront herauskam, mein Vater blieb, weil er an einer Offensive teilnehmen musste. Wir waren zusammen auch noch beim Ersatzbataillon, nachdem wir eingeschlossen waren und er eben gefallen war und ich es geschafft habe, mich durch die Tschechoslowakei, damals Protektorat Böhmen und Mähren, durchzuschlagen nach Bayern, dort von der Feldpolizei aufgegriffen wurde und nach Braunau am Inn geschafft wurde, wo ich ...

    Burchardt: Ausgerechnet ...

    Nowottny: ... zu einer weiteren Volkssturmeinheit geschafft wurde, die wohl dazu beitragen sollte, den Geburtsort Hitlers bis zum letzten Blutstropfen zu verteidigen. Es wurde nichts daraus – ein Glück für die jungen Leute, die dort versammelt waren und Panzerfäuste in die Hand gedrückt bekamen, ein Glück auch für die Bürger von Braunau. Es gab einen Toten, soweit ich weiß, einen Polizisten, der über den wunderschönen Stadtplatz lief und Opfer eines Beschusses von der anderen Seite wurde.

    Burchardt: Hatten Sie damals auch noch so das Gefühl, wir müssen hier gucken, dass wir Deutschland retten können, im Volkssturm, und auch Ihre Kameraden oder auch Ihr Vater?

    Nowottny: Ich fürchte bei meinem Vater, dass das auch so war, und ich fürchte, dass das auch bei uns jungen Leuten so war. Aber wie das funktionieren sollte, das wusste keiner. Ich erinnere mich, als Roosevelt starb, klebten die Nazis in Braunau am Inn Plakate, dass der erste Kriegsverbrecher zum Teufel ging und dass nunmehr die Wunderwaffen kommen würden, und wir warteten jeden Tag auf Wunderwaffen, aber das Einzige, was wir hatten, waren die Panzerfäuste, außer der anderen leichten Bewaffnung, das war es. Also als wir dann aus unseren Schützenlöchern am Inn herausgezogen wurden, und mit unseren Fahrrädern, zwei Panzerfäuste hinten drauf, ins Land fuhren und erfuhren, dass Hitler tot war, an der Spitze der kämpfenden Truppen in Berlin, wie es damals hieß, gefallen war, brach für uns natürlich eine Welt zusammen, so war das.

    Burchardt: Tatsächlich? Kein Jubel?

    Nowottny: Kein Jubel? Nein! Wir waren ja in einer Zeit groß geworden, in der das Leben mit Hitler in der Hitlerjugend, also wir waren damals Pimpfe, selbstverständlich war.

    Burchardt: Es gab ja, ist noch gar nicht so lange her, den großen Streit in Deutschland um den Begriff Befreiung. Haben Sie damals eine Art von Befreiungsgefühl oder Befreitseingefühl gehabt?

    Nowottny: Ich fühlte mich nicht befreit, als die Amerikaner über die Brücken des Inn brausten, die sie selbst rasch – in wenigen Stunden standen sie und ersetzten die gesprengten Brücken – gerollt kamen, sondern ich fühlte mich einfach besiegt, und die Amis sind ja auch nicht zärtlich mit uns umgegangen. Und da kann ich nur sagen, hat man nicht das Gefühl der Befreiung. Ich hatte Glück und danke es meinem Englischlehrer bis zum heutigen Tag, dass ich ein, wie ich fand, ganz gutes Englisch und, wie die Amerikaner fanden, ein sehr gutes Englisch sprach.

    Burchardt: Sie sind dann als Dolmetscher tätig gewesen.

    Nowottny: Das die Amis kaum verstanden, weil es ein richtiges, na wie sagt man, Hochenglisch war – es war sehr gut. Und ich war Dolmetscher dann in der Stadtkommandantur von Braunau am Inn, sehr komisch, der Stadtkommandant war Captain Corks, und ich konnte da alle möglichen nützlichen Dienste erledigen, nützlich deshalb für mich auch, weil es da immer was zu fressen gab.

    Sprecher: Friedrich Nowottny, ehemaliger Intendant des Westdeutschen Rundfunks, WDR, im "Zeitzeugen"-Gespräch.

    Nowottny: Lernen Sie doch erst mal was Anständiges! Und so lernte ich eben Versicherungswirtschaft.

    Sprecher: Mit der Familie auf Umwegen nach Bielefeld, erste Berufserfahrungen.

    Burchardt: Sie sind dann nach Bielefeld gegangen – wie kommt man von Braunau nach Bielefeld?

    Nowottny: Die Sache war ganz einfach. Die Österreicher sagten also, die Reichsdeutschen müssten raus, und ich war inzwischen durch glückliche Umstände in die Nähe meiner Familie gekommen, meiner Mutter und meiner Schwester, die dorthin evakuiert waren. Und die haben gesagt, du, wir müssen jetzt hier raus, sieh doch zu, dass du da bei den Amis wegkommst und dass du mitkommst. Ich war 16 Jahre alt und dachte dann, ja, das müsste eigentlich gelingen, und habe dann mit den Amerikanern so einen Arrangement getroffen, dass sie nicht große Suchaktionen nach einem Kind anstellen würden, denn die waren immer im Zweifel, ob ein 16-Jähriger soldatenähnliche Funktionen ausübt, das muss ich den Amerikanern zugestehen. Auch wenn ich einmal in einer kritischen Situation war, weil irgendein hinterhältiger Mensch gesagt hat, dieser Nowottny war bei den Werwölfen, und das war für die Amerikaner lebensbedrohend. Also da habe ich peinliche Befragungen über mich ergehen lassen müssen. Na ja, der langen Rede kurzer Sinn, es gab dann im Oktober '45 einen Ausreisetermin für meine Mutter und meine Schwester, dem ich mich einfach anschloss. Wir stiegen in Viehwagen, zusammen mit anderen Leuten, die nach Westen fuhren. Ziel war Köln, und wir haben gesagt, gut wir fahren in diese Richtung und müssen wahrscheinlich über Bielefeld fahren, und dort hatten wir Verwandte, vielleicht können wir da Unterschlupf finden. Das war unsere Idee und unser Gedanke.

    Burchardt: Wer Sie kennt, und dem Fernsehpublikum sind Sie ja nun wirklich sehr gut bekannt, auch heute noch, der wird sehr erstaunt sein zu hören, dass Sie dann bei einer Versicherungsgesellschaft der Eisenbahn sozusagen Kassenfunktionär gewesen sind, Sie waren ja auch sehr jung, Teen würde man heute sagen, Sie sind damals 17, 18 Jahre alt gewesen, was hat Sie auf diese Schiene gesetzt?

    Nowottny: Also ich war schon älter, denn ich war ja zunächst einmal, als wir auf Umwegen sehr umständlich nach Bielefeld gekommen waren – dort kassierten mich nun die Engländer und machten mich zu einem Dienstverpflichteten, der also, nun sprach er auch noch englisch, als Dienstverpflichteter in einem Pionierdepot arbeiten musste. Dort gab es aber immer was zu essen, was nicht schlecht war und wichtig war damals. Dort blieb ich, glaube ich, ein, zwei Jahre, dann habe ich bei der Post gearbeitet als Fremdsprachendolmetscher mit Prüfung und einer Sprachenzulage. Unglaublich, was man damals verdiente, da machte eine Sprachenzulage von 15 oder 20 Reichsmark eine Menge aus. Das war eine tolle Sache. Zwischendurch habe ich als Schlagzeuger gearbeitet in einer Spelunke und habe da für fünf englische Zigaretten am Abend meine Zeit totgeschlagen, elf Uhr war curfew, also Sperrstunde. Also, ich kam dann zu dieser Versicherung, weil ich inzwischen angefangen hatte, als freier Mitarbeiter Meldungen für die "Freie Presse", damals vier Seiten ...

    Burchardt: In Bielefeld?

    Nowottny: ... Militärregierung-zensiert, heranzuschaffen für den lokalen Teil. Da habe ich gesagt, das wäre doch was, Journalist, und da haben die mich ausgelacht, haben gesagt, lernen Sie erst mal was Vernünftiges, und dann können wir ja noch mal drüber reden. Dann habe ich mich da noch mal beworben und kriegte diesen berühmten Brief, den heute viele bekommen: Sie sind der 486. oder 36. Bewerber um eine Volontärstelle. War nichts, der Chefredakteur hat mir noch mal väterlich zugeredet: Lernen Sie doch erst mal was Anständiges. Und so lernte ich eben Versicherungswirtschaft, Deutsche Reichsbahnsterbekasse, eine Sozialeinrichtung der Deutschen Bundesbahn ...

    Burchardt: Ja!

    Nowottny: ... oder der Deutschen Reichsbahn, heute Deutsche Eisenbahn-Versicherungskasse, ein honoriges Unternehmen hier in Köln, das vor vielen Jahren in den 100. Geburtstag gefeiert hat.

    Burchardt: Dann müssten Sie doch eigentlich noch ein paar Euro Ehrenrente bekommen von da?

    Nowottny: Nichts, nein! Das war damals nicht vorgesehen.

    Burchardt: Aha!

    Nowottny: Ich war ja nicht so lange da. Ich machte auch da das, was ich am liebsten machte, ich arbeitete zunächst in der Werbeabteilung, in der Rechtsabteilung und landete dann beim Vorstandsvorsitzenden und erledigte für ihn sein persönliches Büro. Das war sehr wichtig, denn ich verwaltete auch damit den Dauerfahrschein auf allen Strecken der Reichsbahn erste Klasse, in Deutschland.

    Burchardt: Sind Sie viel rumgekommen?

    Nowottny: Eine wunderbare Sache! Ich bin damals viel rumgekommen und schmuggelte, sondierte und disponierte die Karte so, dass ich auch in Urlaub fahren konnte. Das war schon eine tolle Sache.

    Sprecher: Friedrich Nowottny im "Zeitzeugen"-Gespräch des Deutschlandfunks.

    Nowottny: Na ja, also ich fand den Weg nach Saarbrücken und hab gedacht, das wird nie was hier – das wird nichts, das wird nichts, das wird nichts. Überraschenderweise wurde das doch etwas.

    Sprecher: Die Medienlandschaft im Wandel und die Station Saarländischer Rundfunk.

    Burchardt: Es kommen ja immer Reminiszenzen, Sie sagen jetzt auf eine Volontärstelle über 400 Bewerber, das ist ja heute nicht viel anders, vielleicht sind es 600 oder so, und es gibt ja eine Generation – das schoss mir jetzt durch den Kopf, bei Ihrer Schilderung, wie Sie in den Journalismus gekommen sind, damals war ja noch der sogenannte freie Zugang sehr viel eher möglich –, fühlen Sie sich auch dieser Generation, irgendwas mit Medien, verbunden, die ja heute durch die Schlagzeilen geht?

    Nowottny: Ja, ich bin da sehr skeptisch, weil hinter diesem Satz, ich möchte irgendwas mit Medien machen, viel Ungewissheit steckt. Die wissen zumeist nicht, was Medien sind. Schauen Sie mal, ich habe als freier Mitarbeiter, wie viele freie Mitarbeiter heute übrigens auch, für acht Pfennig die Zeile gearbeitet und habe da mühsam die Zeilen gezählt und dann immer auf die Honorarabrechnung geguckt, ob das auch alles so stimmt, denn das Geld war knapp, und ich habe Fotos für den Sportteil gemacht. Ich habe für meine Versicherungswirtschaft eine Hauszeitung gegründet, das nach wie vor, hoffe ich, noch existiert, das Blatt, "Mein Betrieb" hieß das. Ich habe versucht mich zu schulen, da gab es so Sonderlehrgänge für Dings. Ich war aber, als ich dann doch eine Volontärstelle kriegte, war ich zunächst einmal Volontär, ich fing also ein neues Berufsleben noch einmal an. Also ich war damals schon eine flexible Figur.

    Burchardt: Beste Voraussetzung.

    Nowottny: Das ist die Voraussetzung auch heute noch. Heute, wenn ich mit meinem Enkel spreche, der 20 Jahre ist, ein vorzügliches Abitur hingelegt hat, und für den war immer klar, ich werde wie Opa Journalist. Ich habe ihm immer gesagt, überlege es dir genau, was für ein Journalist du werden willst, und wir sprachen dann über die Vielfalt des Journalismus heute. Damals gab es eine Radiowelle in Nordrhein Westfalen, inzwischen gegründet, das war eine Welle, die aus Hamburg mit einem Funkhaus in Köln betrieben wurde vom Nordwestdeutschen Rundfunk.

    Burchardt: NWDR, ja.

    Nowottny: Erst '56 gab es den eigenständigen Westdeutschen Rundfunk, 1956. Es gab zunächst einmal nur die Lizenzzeitung, dann die früheren klassischen alten Zeitungen, hinzu die bürgerlichen Blätter, die nicht parteigebunden waren und die sich selbst ihr Profil gaben und sich durchsetzen mussten, und das war es. Schauen Sie sich mal die Vielfalt all dessen an, Internet eingeschlossen, was es heute gibt. Das ist ungeheuerlich, da muss man – als junger Mensch muss man sich schon Gewissheit verschaffen, ob man mobil genug ist, um die verschiedenen Möglichkeiten auszuloten, um herauszufinden, was das Richtige wäre, und man muss dann, wenn man meint, das Richtige zu haben, immer noch einmal zu einem raschen Wechsel bereit sein.

    Burchardt: Sie sind dann nach Saarbrücken gegangen, das war 1957, war auch eine unruhige Zeit, zwei Jahre vorher war das Saarland wieder an die Bundesrepublik angegliedert worden, per Volksabstimmung, was hat Sie nach Saarbrücken gebracht?

    Nowottny: Ich hatte mein Volontariat bei der "Freien Presse" in Bielefeld beendet, bin dann durch alle Lokalredaktionen, die hatten 19 Ausgaben, gescheucht worden, was mir sehr gut getan hat, das war harte Knochenarbeit. Und wenn ich an meine Zeit in Bohmte denke, mein Gott, mit dem Fahrrad, mit dem Dienstfahrrad, das ich immer waschen ließ auf Kosten des Verlages, fuhr ich durch die Gegend und ärgerte mich krumm und blau, es passierte nichts, ich musste zehn Blatt, zehn Seiten abliefern jeden Tag, 14 Uhr in den Karton packen und mit dem Expresszug nach Bielefeld schicken. Das war eine Knochenarbeit, eine Schule fürs Leben, sage ich.

    Burchardt: Zehn Manuskriptseiten, muss man dazusagen.

    Nowottny: Zehn Manuskriptseiten. Ich, mit meinem Hintergrund als Versicherungsexperte, wurde eines Tages plötzlich und unerwartet der Chef Wirtschaft frei. Und dann haben die gesagt, Mensch, dieser Nowottny, der hat doch da Wirtschaft. Ja, haben die gesagt, ob der das macht und ob der das kann? Ich brannte darauf, es zu werden, und ich wurde es und machte eine Wirtschaftsseite, die in überregionalen Fachzeitschriften, also zum Beispiel "Der Volkswirt", gerühmt wurde, als: Das ist es, was die Menschen brauchen, damit sie endlich was von Wirtschaft verstehen.

    Burchardt: Aber Sie haben Wirtschaft nie studiert?

    Nowottny: Ich habe Wirtschaft nie studiert. Ich habe das, was ich über Wirtschaft wusste, die Tatsache, dass ich Bilanzen lesen konnte, analysieren konnte, das habe ich bei meiner Versicherung gelernt, und der Rest war mein glühendes Interesse für dieses Thema. Ich machte vorzügliche, wie andere Leute gesagt haben, Wirtschaftsseiten. Es gelang mir auch, mich in Wirtschaftsprozesse als Redaktion einzuklinken, die normalerweise für so eine Provinzzeitung nicht zugänglich gewesen wären. Ich war eines Tages, im Laufe dieser Privatisierungsgeschichte, ständiger Gast bei Nordhoff zum Beispiel.

    Burchardt: VW?

    Nowottny: VW. Das war der erste wundersame Generaldirektor von VW, ein bemerkenswerter Mann. Na ja, also der langen Rede kurzer Sinn, ich war Wirtschaftsredakteur und arbeitete auch für Radiostationen, lernte den Wirtschaftsredakteur des Saarländischen Rundfunks kennen, und er sagte, wenn Sie wollen, Sie können da für uns und ich suche da immer mal jemanden. Da habe ich gesagt, schon bin ich dabei, und schon war ich dabei. Ja, und so kam es, dass ich mich da etabliert hatte als freier Mitarbeiter des Saarländischen Rundfunks und las dann eines Tages in den überregionalen Blättern, dass wir einen Wirtschaftsredakteur suchen. Aufgeregt rief ich meinen Partner da an und sagte, sagen Sie mal ... Ach, sagt er, ich wollte Sie schon anrufen, ich gehe weg und suche einen Nachfolger, Sie können sich ja bewerben. Nun, das habe ich getan.

    Burchardt: Und wurden genommen.

    Nowottny: Und, ja, nach langem Hin und Her. Ich weiß noch, ich bin das erste Mal da hingefahren, um mich vorzustellen und habe mich verfahren und fuhr mit meinem VW aus Versehen auf den Hinterhof irgendeiner Hütte. Wissen Sie, wie das ist, wenn Sie als Mensch, der von Hütten eigentlich nur fern eine Ahnung hat, auf so ein Hüttengelände fahren? Es ist so erschreckend, dass Sie sofort umdrehen und nach Hause fahren wollten. Na ja, also ich fand den Weg nach Saarbrücken und habe gedacht, das wird nie was hier – das wird nichts, das wird nichts, das wird nichts. Überraschenderweise wurde das doch etwas. Und es waren fünf wunderbare Jahre.

    Sprecher: Deutschlandfunk-Zeitzeuge Friedrich Nowottny.

    Nowottny: Da ist einer, der kann Wirtschaft erklären.

    Sprecher: Fernsehen aus der Bundeshauptstadt und die Bonner Umbruchjahre.

    Burchardt: Und nach diesen fünf Jahren hat Sie dann das Fernsehen gerufen, oder haben Sie sich ins Fernsehen begeben?

    Nowottny: Ja, nein, also ich war ja ...

    Burchardt: Ich meine, wie gehen solche wundersamen Wege in der damaligen Zeit?

    Nowottny: Herr Burchardt, auch das war damals ein reiner Glücksfall. Mein Chefredakteur, der war ein unglaublich guter Mann, der Fernsehchefredakteur muss man sagen, der sagte eines Tages, Mensch, Sie machen doch eine Radiosendung, jeden Tag, das wäre doch eventuell für Wirtschaft im Fernsehen. Können Sie da nicht mal ein Konzept entwickeln? Also entwickelte ich ein Konzept. Da sagte er: Ich gehe damit zur ARD. Sage ich: Sie werden als kleinste Anstalt bei der ARD ausgelacht. Sagte er: Ich suche Verbündete. Dieser Chefredakteur fand im Hessischen Rundfunk und im Saarländischen Rundfunk in der Tat Verbündete, und das waren zwei starke Sender, und die boxten in der ARD gegen die Großen, die an Wirtschaft überhaupt nicht dachten, außer in München – da war Rudolf Mühlfenzl der König –, da boxten sie eine Wirtschaftssendung durch, die hieß "Der Markt – Wirtschaft für jedermann", die machte ich. Und diese Sendung sah die Frau des Studioleiters der ARD in Bonn, Günter Müggenburg, am Sonnabendnachmittag. Und die sagte zu ihrem Mann, sagt sie: Du musst ihn dir mal angucken, jetzt ist doch die Zeit der mittelfristigen Finanzplanung gekommen. Das war '66, Anfang Große Koalition, '67. Da ist einer, der kann Wirtschaft erklären.

    Burchardt: Zumal es da auch eine kleine Rezession gab.

    Nowottny: Ja, natürlich. Keiner wusste ... das Ergebnis war ja die Große Koalition, und Schiller und Strauß waren die Könige dieser Zeit, Schiller als Wirtschaftsminister und Strauß als Finanzminister.

    Burchardt: Haben Sie Plisch und Plum erfunden?

    Nowottny: Plisch und Plum? Ich weiß nicht, ob ich das war.

    Burchardt: Ja, bei Ihnen hörte man das öfter.

    Nowottny: Es war damals jedenfalls gang und gäbe, die so zu nennen, und der Günter Müggenburg hörte sich das, rief mich an und sagte: Können Sie nicht mal vorbeikommen? Sagte ich: Ich bin übermorgen sowieso in Bonn. Sagt er: Hier mein Stellvertreter geht weg, können Sie nicht darüber nachdenken, ob Sie mein Stellvertreter werden wollen und sich um Wirtschaft, Soziales und so was kümmern? Sage ich: Darüber denke ich schon mal auf dem Rückweg nach. Ich mit meiner Frau gesprochen, die inzwischen die Renovierungsarbeiten von irgendwelchen unbewohnbaren Wohnungen leid war, und sagte: Du, wenn du meinst, mach das. Ich meinte und sagte zu, und ich wurde es und hatte diese wunderbare Zeit der Großen Koalition von '67 bis '69 mit Plisch und Plum und Kiesinger als Bundeskanzler und all diesen wundersamen Ereignissen.

    Burchardt: Das war doch journalistisch eine unglaublich spannende Zeit, auf die Entwicklung dann hin zur sozialliberalen Koalition.

    Nowottny: Unvorstellbar!

    Burchardt: Wie haben Sie das selber empfunden? Haben Sie auch schon gespürt – ich meine, Sie hatten die Leute dann ja auch sozusagen vor der Haustür in Bonn, ob das jetzt Brandt, Scheel oder wer auch immer war – war da schon im Vorfeld etwas zu spüren, oder ist das wirklich diese sagenumwogene Nacht, wo dann Willy Brandt und Scheel das Ganze ausgeguckt haben und Kiesinger eigentlich nichts mehr verstanden hat?

    Nowottny: Apropos diese Nacht, Sie wissen, Herr Burchardt, wie diese Nacht der Koalition ging? Ich weiß das von einem Augenzeugen und Ohrenzeugen. Walter Scheel saß völlig deprimiert ob dieses 5,8-, glaube ich, Ergebnisses seiner FDP bei der Wahl 69 oben am Venusberg in seinem Privathaus, umgeben von einigen unermüdlichen Parteifreunden. Da ging das Telefon, und da war Willy Brandt dran, und er sagte zu ihm: Herr Scheel, ich habe vor, vor die Fernsehkameras zu gehen, um mitzuteilen, dass ich versuchen werde, eine Koalition mit Ihrer Partei zu bilden. Wären Sie damit einverstanden, dass ich das mache? Worauf Scheel mit einem einzigen Wort antwortete: Ja! Damit war das Gespräch beendet und der Grundstein gelegt für die erste sozialliberale Koalition.

    Burchardt: Sind denn diese sogenannten Vorsondierungen, die man auch bei Arnulf Baring zum Beispiel im Buch der Machtwechsel nachlesen kann, sind die Hirngespinste?

    Nowottny: Nein, das sind keine Hirngespinste, es gab ja Entwicklung. Die FDP war auf dem Wege, tief enttäuscht von der Union übrigens, die Union hat die FDP auch wahnsinnig schlecht behandelt in all den Jahrzehnten, in denen sie mit ihnen zusammen regiert hatte.

    Burchardt: Bei Adenauer vor allen Dingen.

    Nowottny: Konrad Adenauer war da, um sein Lieblingswort zu gebrauchen, nicht pingelig im Umgang mit den Liberalen, und auch all die anderen nicht. Erhard hielt sich selbst für den größten Liberalen, und in der Großen Koalition waren sie einsam auf weitem Feld, Walter Scheel, Oppositionsführer, mein Gott, wie mühsam war es für ihn, und man merkte schon, alte Zöpfe abschneiden war damals die Devise der FDP. Natürlich waren Annäherungsversuche und Annäherung im Gange, die ja auch im Gange waren, als die Annäherung zwischen Kohl und Genscher stattgefunden hat. Das sind immer Strömungen, denen Parteien und Parteiführer ausgesetzt sind.

    Burchardt: In dieser Zeit, Herr Nowottny, erlebte das Fernsehen ja einen ungeheuren Aufschwung, auch durch die Einführung des Farbfernsehens – welche Rolle hat aus Ihrer Sicht dieses neue, muss man dann ja doch noch sagen, neue, damals neue Massenmedium gerade in der Politik gespielt, und Sie saßen sozusagen wie die Spinne im Netz in Bonn in der Zentrale?

    Nowottny: Ich glaube, in der Koalition, in der Großen Koalition, also CDU/CSU/SPD, wurde die Wirkung des Fernsehens sichtbar. Obwohl man sagen muss, dass Konrad Adenauer derjenige war, der sich über die Wirkung dieses damals neuen Mediums als erster Politiker unwahrscheinlich klar war und versucht hat, einen zweiten privaten Kanal zu gründen, wie man weiß. Es scheiterte dann – was für ein Schicksal – durch eine Klage seiner Parteifreunde aus den Ländern in Karlsruhe.

    Burchardt: Das berühmte Fernsehurteil des Bundesverfassungsgerichts von '62. Da war ja schon ein bisschen – und das ZDF gab es seit '63 ja schon, also den zweiten bundesweiten Kanal hatten wir, aber natürlich nicht als Monopol einer Regierung.

    Nowottny: Das hat Konrad Adenauer sehr klarsichtig gedacht, gesehen und versucht, und diese Zeit der Großen Koalition voller Spannung, beträgt durch die Krise, hat dazu geführt, dass Männer wie Strauß und Schiller oder Schiller und Strauß und gelegentlich Brandt und Kiesinger immer wieder das Medium versucht haben für ihre Zwecke zu nutzen. Das war eine unglaublich spannende Zeit.

    Burchardt: Gab es auch persönlichen Druck dann schon, die weltberühmten Anrufe mal so eben, entweder beim Intendanten oder beim ... Sie waren ja nicht von vornherein Studioleiter in Bonn?

    Nowottny: Nein, ich war zweiter Mann. Ich war zweiter Mann, mich hat niemand versucht zu beeindrucken, sondern die Ereignisse waren so beeindruckend. Schauen Sie einmal, was Plisch und Plum, also Schiller und Strauß gemacht haben. Ah ja, zunächst einmal die Sanierung des Bundeshaushaltes.

    Burchardt: Konzertierte Aktion.

    Nowottny: Das war die konzertierte Aktion, die da eingeführt wurde. Das war der immer wieder stattfindende Austausch der Sozialpartner in dieser konzertierten Aktion. Ich habe über 25 konzertierte Aktionen berichtet, über Weltwährungskonferenzen, die stattgefunden haben, in Bonn.

    Burchardt: Wie wichtig haben Sie sich für die res publica, für die Politik, selbst gefühlt? Haben Sie gesagt, hier kann ich mitreden als Journalist?

    Nowottny: Nein, ich wollte nicht an der Politik mitreden, ich wollte den Menschen zwei Dinge klarmachen: Erstens, wenn du willst, verstehst du alles. Zweitens, die Menschen, die das hier alles veranstalten in dieser wunderbaren Stadt Bonn, sind alles Menschen wie du und ich, und sie tragen wie du und ich gelegentlich immer wieder Kaisers neue Kleider, stell sie dir so vor. Und das habe ich versucht rüberzubringen, auch in meinen Interviews, in denen ich versucht habe, Fragen zu stellen, die in ihrer Schlichtheit die Leute verblüfft haben, aber die eben stimmten.

    Burchardt: Da Sie das Stichwort Interview sagen, das war ein Steilpass, Herr Nowottny. Legendär ist ihr Interview mit Willy Brandt, wo Sie ihn offensichtlich auf Zeitknappheit hingewiesen haben und gebeten haben, kurze Antworten zu geben, und Sie haben verzweifelt gefragt, und er hat eigentlich immer nur höchst amüsieret mit Ja und Nein geantwortet. Was war das?

    Nowottny: Herr Burchardt, ich muss sagen, musste das sein? Mussten Sie mich an dieses schreckliche Interview erinnern?

    Burchardt: Ja!

    Nowottny: Ich habe so schöne Interviews mit Willy Brandt. Kein Mensch spricht darüber, aber dieses schreckliche Ding ist eben aus Zeitgründen, als ich Conrad Ahlers sagte: Herr Staatssekretär, da kommt der Kanzler, gehen Sie schnell hin und sagen Sie ihm, 1,30 Minute haben wir für die "Tagesschau", drei Fragen, drei Antworten. Erste deutsch-französische Konsultation Pompidou entschwand gerade dem wunderschönen Part des Kanzleramtes, und alles läuft auf ihn zu und sagt: Herr Bundeskanzler oder Willy, das und das, 1,30-Treffer. Da merkte ich schon, die Kinnlade fiel herunter und Brandt gab dieses berühmte Ja-Nein-, Ja-Nein-, Ja-Nein-Interview, was ich schrecklich fand.

    Burchardt: Waren Sie sauer?

    Nowottny: Na, sauer ist gar kein Ausdruck, aber man konnte nicht lange überlegen, denn ich musste den Film entwickeln, den Ton umspielen, es war damals viel, viel komplizierter als heute in der elektronischen Zeit. Ja, ich dachte, die Hamburger Kollegen der "Tagesschau" würden das Ding nie senden, und siehe da, sie haben es gesendet, unter der Rubrik ...

    Burchardt: Das war legendär.

    Nowottny: Schaut euch diesen Knaben da an.

    Burchardt: Es wird heute im Willy-Brandt-Haus in Lübeck vorgespielt, jedem Besuch.

    Nowottny: Unter der Rubrik: Komisches im Leben von Willy Brandt.

    Burchardt: Haben Sie es ihm übel genommen?

    Nowottny: Ach nein, wissen Sie, mit Willy Brandt hatte ich auch so viel Pech. Da gab es einmal ein großes Interview, das ich für die "Tagesschau" führen sollte aus Anlass des EU-Gipfels, des ersten EU-Gipfels in Den Haag. Es war auch damals alles zeitknapp, und ich habe versucht, Willy Brandt über seinen Regierungssprecher zu bekommen, und er sagte mir: Der muss zur Königin. Sage ich, da soll er vorher doch in das Studio kommen, das ist dort und dort. Willy Brandt kam im Smoking. Habe ich gesagt: Herr Brandt, Sie können nicht so im Smoking hier vor dem staunenden deutschen Publikum ... Und sein Sicherheitsbeamter hieß Bauhaus, der hatte seine Statur, der hatte dieses preiswerte C&A-Jackett an, das zog sich Willy Brandt mit dieser schwarzen Fliege da sitzend – es war Schwarz-Weiß-Fernsehen – über, und wir machten ein wunderbares Interview, live für die "Tagesschau", die hatten alles weggeschmissen, 15 Minuten, stellen Sie sich das mal vor.

    Nowottny: Ich bin der Überzeugung, dass Qualität nach wie vor sein Publikum hat.

    Sprecher: Intendant des Westdeutschen Rundfunks, Gedanken zur Rolle von Quoten.

    Burchardt: Es ist ja so, dass sie 1000 "Berichte aus Bonn" gemacht haben insgesamt.

    Nowottny: 564, glaube ich – aber gut, ich widerspreche den 1000 nicht mehr, das führt nur in die Ferne und ...

    Burchardt: War das damals eine der wesentlichen Aufgaben, auch zu sagen, wir müssen den Leuten das Funktionieren der Demokratie intensiver nahebringen?

    Nowottny: Das war sicher ein Auftrag. Es war – es war ein unausgesprochener Auftrag, der sich aus der Tatsache ergab, dass die Spielarten der Demokratie in Deutschland nur mühsam eingeübt werden konnten. Sie dürfen ja eins nicht vergessen, das erste Kabinett Adenauers waren alles Menschen aus dem 19. Jahrhundert. Konrad Adenauer hat 1896 die zweite Staatsprüfung gemacht, da lebte Bismarck noch. Also dieses Eingewöhnen, diese Generationswechsel zwischen den alten Herren des ersten Kabinetts, der Frontgeneration, der 68er, des Auftauchens der Grünen, des Wegschmelzens der Rechten und der Linken, die Fünf-Prozent-Klausel, das waren alles ungeheure Vorgänge, die da stattgefunden haben – die er erklärt seinen Leuten im Laufe der Zeit, erst im Radio und dann im Radio und im Fernsehen – und bei den Zeitungen nicht zu vergessen.

    Burchardt: Sie wurden dann Intendant des Westdeutschen Rundfunks, hat Sie das selbst sehr erstaunt, dass man Sie aus Bonn weggeholt hat und sagt, so jetzt führst du diesen größten Sender Europas?

    Nowottny: Ich muss Ihnen eingestehen, dass ich seit Jahren schon, in den 80er-Jahren, das Gefühl hatte, jetzt wird es Zeit, dass du hier verschwindest.

    Burchardt: Weg von der Front?

    Nowottny: Das ZDF machte mir schöne Angebote, die aber alle mit meinen Bonner Themen zu tun hatten. Und da habe ich mir gedacht, lass das lieber, es gab nur noch das ZDF damals. Und ich saß da in Bonn und machte meinen Job, mühsam oft – wenn Sie den 15. Haushalt des Bundes auseinandernehmen und zum 37. Mal über eine Gesundheitsreform berichten, dann hängt Ihnen das zu den Ohren heraus.

    Burchardt: Ja, klar.

    Nowottny: Und, na ja, und irgendwie kam dann, ich glaube, die CDU auf die Idee, mich zu fragen, ob ich denn ihr Kandidat werden würde? Das habe ich lange überlegt, und ich habe denen gesagt: Ich werde nur Ihr Kandidat, wenn Sie das nicht mit irgendwelchen politischen Auflagen verbinden. Da haben sie gesagt: Ja, wie kommen Sie darauf, machen wir natürlich nicht. Und ich habe gesagt: Sie müssen eine Mehrheit beschaffen. Die gab es nicht, auch für die CDU nicht, sie brauchten die FDP. Ich weiß noch, wie ein Riesengespräch, ich glaube vier Stunden, mit Willi Weyer in der Landesvertretung, der nun vor der Gewissensfrage stand, wählen wir den oder wählen wir den nicht?

    Burchardt: Der war damals in NRW der FDP-Chef.

    Nowottny: Ja, ich habe ihm gesagt: Wissen Sie, Herr Minister, Sie müssen mich nicht wählen, ich werde auch in meinem Beruf glücklich bleiben, Sie müssen sich durch nichts gezwungen fühlen, schon gar nicht durch einen eventuellen Koalitionspartner. Na ja, der langen Rede kurzer Sinn, ich wurde es mit einer Stimme Mehrheit.

    Burchardt: Wie sehen Sie die Positionierung des Öffentlich-Rechtlichen in der Konkurrenz mit den Privaten?

    Nowottny: Na ja, schwierig, ich habe das ja miterlebt, wie sich plötzlich die Marktanteile reduzierten, wie plötzlich die Werbung kaum noch da war. Der Westdeutsche Rundfunk hat früher aus der Fernsehwerbung 20 Prozent seiner Einnahmen finanziert. Ich weiß nicht, ob es heute noch fünf Prozent sind, die waren es damals.

    Burchardt: Aber das macht sie unabhängiger von der Werbung?

    Nowottny: Das macht sie unabhängig, und trotzdem geht es immer noch um einen Milliardenbetrag, wenn man die Werbung ganz abschaffen würde. Dass es natürlich merkwürdige Entwicklungen gab in den Abendprogrammen, darüber muss man reden und darüber wird man entscheiden müssen, denn die Differenzierung kann nicht nur im Programm stattfinden, und da gibt es ja überlappende Qualitätsbegriffe bei den Öffentlich-Rechtlichen und bei den Privaten, und da ist man in Grenzbereichen tätig.

    Burchardt: Ist denn eigentlich dieser Antagonismus zwischen Qualität und Quote zugunsten der Quote entschieden?

    Nowottny: Ich bin der Überzeugung, dass Qualität nach wie vor sein Publikum hat. Schauen Sie sich einmal die Quoten für anspruchsvolle Sendungen an, Sie werden feststellen, das Publikum bleibt dabei.

    Burchardt: Aber sehr oft zu sehr später Stunde.

    Nowottny: Und diese Tatsache, dass zu so später Stunde so wichtige Beiträge gesendet werden, das, finde ich, ist unangemessen, das sollte sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk wirklich einmal überlegen. Ich finde es selbst für mich, der ich ein interessierter Fernsehzuschauer bin, eine Zumutung, herausragende Hintergrundstücke um 22:45 Uhr zu senden. Ich finde, das ist etwas, was sich auch die Zuschauer nicht gefallen lassen sollten und was sich die Damen und Herren in den Rundfunkräten nicht gefallen lassen sollten. Ja, mein Gott noch mal, wozu sitzen die denn da?

    Sprecher: Im "Zeitzeugen"-Gespräch des Deutschlandfunks: Friedrich Nowottny.

    Nowottny: Es wird Reduzierungen im einzelnen Feld geben, bei den Zeitungen ebenso wie beim Fernsehen.

    Sprecher: Blicke in die Zukunft, Medienreichweiten und das Internet.

    Burchardt: Wie stellen Sie sich die elektronische Medienlandschaft, sagen wir mal, im Jahre 2025 vor?

    Nowottny: Haben Sie keine leichtere Frage? Also, die Zeitungen werden überleben, trotz der Tatsache, dass sie von dem Schwund der älteren Zeitungslesergenerationen betroffen sind. Zweitens: Das Radio wird, wie in der Vergangenheit auch, Wellenbewegungen ausgesetzt sein, mal mehr, mal weniger, all business is local spielt eine gewisse Rolle immer noch, aber nicht mehr die, die das Lokalradio gespielt hat, als es eingeführt wurde. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen und das private Fernsehen werden nach wie vor in einer harten Konkurrenz miteinander und mit dem flüchtigen Medium Internet stehen.

    Burchardt: Gibt es einen Fusionszwang der öffentlich-rechtlichen Landesrundfunkanstalten, faktisch, aus finanziellen Gründen?

    Nowottny: Es gibt immer mal Zwänge für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk im Radio und im Fernsehen, über die Wirtschaftlichkeit nachzudenken. Diese Frage ergibt sich aus der Tatsache, welche Finanzen zur Verfügung stehen. Und da die Politiker den Ehrgeiz haben, dauernd irgendwelche Wohltaten zu verbreiten, will man natürlich die Werbung völlig abschaffen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, da wird man Ersatz schaffen müssen. Also, das ist ein weites Feld, das können wir bis 2025 nicht vorausempfinden, je nachdem welche Gruppierungen dann sind. Es wird Reduzierungen im einzelnen Feld geben, bei den Zeitungen ebenso wie beim Fernsehen. Ich muss Ihnen allerdings eines sagen: Wenn das Fernsehen, das öffentlich-rechtliche, nach wie vor bei herausragenden Nachrichtensendungen, Hintergrundsendungen immer wieder den Hinweis platziert, dass jeder, der mehr wissen will, gefälligst ins Internet gehen sollte, soll sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk nicht wundern, wenn immer mehr der Meinung sind, dass die flüchtige Darstellung im Internet genügt, um die noch flüchtigere im Fernsehen sich ersparen zu können. Das geht zulasten des öffentlich-rechtlichen Fernsehens. Und ich weiß nicht, ob es nicht schon den Menschen gibt, der über eine Klage nachdenkt, der Gebühren zahlt, die Gebühren, die ja auch die Internetbemühungen des Fernsehens beinhalten, aber nicht zum zentralen Punkt, wo Nachrichtensendungen .... Wenn Sie mehr wissen wollen über das Hochwasser in Schlesien, über die Hungersnot in aller Welt, wenn Sie mehr wissen wollen über das Drama, was weiß ich wo, in Pakistan oder in Russland, gehen Sie ins Internet. Ja, dann sollen Sie doch das sagen: gehen Sie doch von vornherein ins Internet, wir können Ihnen ohnehin nur einen Flash, einen kurzen Augenblick bringen. Ich finde, das ist keine gute Entwicklung.

    Sprecher: In unserer Reihe "Zeitzeugen" hörten Sie Rainer Burchardt im Gespräch mit Friedrich Nowottny.