Im Juli wird Bilanz gezogen, dann legen Unternehmen an den Finanzmärkten ihren Anlegerinnen und Anlegern offen, wie sie in den vergangenen Monaten gewirtschaftet haben. Gleichzeitig steckt mit Wirecard ein Dax-Konzern inmitten des größten Bilanzskandals, den die Bundesrepublik je gesehen haben dürfte. Wie fällt Betrug in den Bilanzen auf? Professor Edgar Löw ist Professor mit Schwerpunkt Bilanzierung an der Frankfurt School of Finance and Management. Er hat selbst vier Jahre als Wirtschaftsprüfer gearbeitet.
Silke Hahne: Herr Löw, was passiert, wenn einem Wirtschaftsprüfer in einer Bilanz Fehler auffallen?
Edgar Löw: Es ist zunächst mal so, dass der Wirtschaftsprüfer - das ist wichtig zu wissen - der von der Hauptversammlung, also den Aktionären, gewählt wird, den Auftrag dann vom Aufsichtsrat bekommt und dem Aufsichtsrat gegenüber dann auch verpflichtet ist. Nicht dem Vorstand. Wenn ein Wirtschaftsprüfer jetzt feststellt, dass im Rahmen der Bilanzierung - ich sage es jetzt mal allgemein - Ungereimtheiten sein könnten, dann wird er sofort zum Aufsichtsrat gehen und ihm das mitteilen. Und dann wird gemeinsam überlegt, wie an dieser Stelle weitergeforscht werden kann. Das kann sein, dass der Prüfer in seiner Eigenschaft als ganz normaler Prüfer das weiterführen kann, wenn es um Bilanzierungssachverhalte geht, wo er Unterlagen benötigt oder so etwas.
Es kann aber sein, wie jetzt im Fall Wirecard, dass der Verdacht auf Betrug kommt. Dann wird man sofort zum Aufsichtsrat gehen und den Aufsichtsrat bitten, den Auftrag zu erweitern, damit Spezialisten reingeholt werden können. Die normale Wirtschaftsprüfung ist keine Betrugsprüfung, sondern sie ist eine Prüfung über die Ordnungsmäßigkeit der Anwendung der Bilanzierungsregeln. Aber wenn Ungereimtheiten da sind, dann muss man da weiterforschen. Und wenn man dazu kommt, dass die Gefahr besteht, dass hier betrogen worden ist, tatsächlich ganz bewusst etwas falsch gemacht wurde, dann sind wir schon nah an den strafrechtlichen Vorschriften, dann wird der Aufsichtsrat sofort einbezogen und dann wird man sofort dazu übergehen, dass man eine sogenannte Fraudprüfung oder Betrugsprüfung macht, dann kommen Spezialisten rein, die auf diesem Gebiet Experten sind.
BaFin als Aktionärsschützerin
Hahne: An welchem Punkt würden dann die Behörden respektive der Verein DPR, der private, von der Wirtschaft getragene Verein zur Prüfung von Bilanzen, eingeschaltet?
Löw: Die entsprechende Stelle nennt sich Deutsche Prüfstelle für Rechnungswesen, DPR. Die DPR geht eigenständig vor, sie geht aber auch als Auftragsnehmer vor, nämlich wenn sie einen Auftrag von der BaFin bekommt. Die BaFin ist die hoheitliche Funktion.
Wenn die Prüfstelle einen Bilanzierungsfehler finden würde, dann hat die Prüfstelle keine hoheitlichen Aufgaben, muss also dann zur BaFin gehen und sagen, wir haben hier einen Fehler festgestellt. Das Unternehmen ist entweder bereit, den Fehler dann auch bekanntzugeben im Rahmen einer Ad-hoc-Mitteilung, sodass die Öffentlichkeit darüber weiß, dass ein Fehler in der Bilanzierung stattgefunden hat. Und die BaFin spricht dann den Hoheitsakt aus und sagt, das muss über eine Ad-hoc-Mitteilung dann auch wirklich veröffentlicht werden. Wenn das Unternehmen mit der Fehlerfeststellung der Prüfstelle nicht einverstanden ist, dann prüft die BaFin eigenständig noch mal. Und wenn die BaFin dann zu der Schlussfolgerung kommt, dass die Bilanzierung nicht sachgerecht gewesen ist, dann wird sie in ihrer Eigenschaft dann alleine sagen: Du musst eine Ad-hoc-Mitteilung erstellen und bekanntgeben, dass du einen Fehler festgestellt hat. Und dann steht der Gerichtsweg frei, dass in Frankfurt das Oberlandesgericht Frankfurt dann überprüft, ob die Bilanzierung richtig oder falsch ist.
Hahne: Das heißt, da fungiert die BaFin sozusagen als Aktionärsschützerin?
Löw: Genauso ist es. Sie ist die Aktionärsschützerin und zwar in dem Sinne, dass sie Informationen, die die Aktionäre berechtigterweise über die Bilanzierung erwarten dürfen, auch erfüllt werden.
Ernst and Young hätten Hinweisen "stark nachgehen müssen"
Hahne: Schauen wir uns die Rolle dieses Regelwerks, nach dem bei Börsenunternehmen bilanziert wird, noch mal genauer an. IFRS heißen diese Regeln, International Financial Reporting Standard. Schauen wir noch auf den konkreten Fall Wirecard, die natürlich als Börsenunternehmen auch nach IFRS bilanziert haben und Berichte über unsaubere lokale Bilanzen in Singapur auch unter Verweis auf diese IFRS-Regeln zurückgewiesen haben. Da gab es dann Veröffentlichungen von Wirecard, wo es hieß, die IFRS-Bilanzierung sei maßgeblich und schließlich auch von EY-Wirtschaftsprüfern testiert. Kann es sein oder kann es passieren, dass durch dieses internationale Raster manchmal Dinge durchrutschen, die in lokalen Bilanzierungsregeln auftauchen, aber IFRS überdeckt diese Missstände dann?
Löw: Das kann eigentlich in der Form nicht passieren. Im Falle von Wirecard geht es ja hier nicht um die sachgerechte Abbildung von irgendwelchen Geschäftsvorfällen, sondern es geht ja hier wahrscheinlich zumindest darum, dass bestimmte Geschäftsvorfälle fingiert waren und dann unter Vorgabe von Geschäftsvorfällen, die sie nicht gehabt haben, Bilanzierung vorzunehmen. Und da kann kein Bilanzierungssystem der Welt etwas gegen tun, im Gegenteil: Wenn im Unternehmen irgendetwas passiert ist, was nicht in Ordnung ist, dann muss die Bilanzierung, wenn es erkannt wird, muss dem Folge tragen, das heißt also, der Sachverhalt muss so abgebildet werden, wie er in der Wirklichkeit gewesen ist, und nicht, wie er fingiert dargestellt worden ist durch das betreffende Unternehmen.
Hahne: Hätte denn EY in dem Fall stutzig werden müssen, als die Behörden in Singapur gesagt haben, uns fehlen hier Unterlagen, das passt so nicht?
Löw: Da bin ich der gleichen Auffassung. Man hätte als Wirtschaftsprüfer den Hinweisen stark nachgehen müssen. Wenn von außen relativ konkrete Hinweise vorliegen, dass Sachverhalte unregelmäßig gewesen sein könnten, dann habe ich als Prüfer die Verpflichtung - es gibt hier nationale und internationale Prüfungsstandards, denen die Wirtschaftsprüfer verpflichtet sind - dann muss ich dem nachgehen. Und dann auch, möglicherweise ist es dann der Prüfer vor Ort, der sich unsicher ist, dafür hat er einen Manager oder einen Partner. Dann muss er zum Partner gehen. Und wenn der Partner unsicher ist, wenn der Partner vielleicht das Gefühl hat, das ist unangenehm, weil möglicherweise ein Vorstand in diese Betrugsfälle mit einbezogen ist - das ist psychologisch schwierig aufzulösen - dann muss er im Grunde genommen den Vorstand mit einschalten, also seinen eigenen Vorstand mit einschalten. Und dann muss beraten werden, wie weiter vorgegangen wird. Aber man kann nicht einfach Prüfungshandlungen unterlassen, weil man Sorgen hat, man könnte etwas finden. Das wäre falsch, aber das wissen wir nicht, und das werden die Gerichte ja noch zu klären haben, inwieweit Ernst & Young hier ihren eigentlichen Aufgaben zutreffend oder unzutreffend nachgekommen sind.
"Menschliches Versagen an verschiedenen Stellen"
Hahne: Aktuell wird ja auf der politischen Bühne der schwarze Peter gerne hin- und hergeschoben. Mal wird die BaFin beschuldigt, mal die DPR, mal die Wirtschaftsprüfer von EY. Haben alle diese Stellen versagt oder gibt es einfach in Deutschland kein System, nach dem Betrug wirklich auffällt?
Löw: Wir sollten die Reihenfolge in der Betrachtung aus meiner Sicht unbedingt einhalten. Zuerst ist der Vorstand verantwortlich für die Führung des Unternehmens. Wenn also Betrug in dem Unternehmen stattfindet, trägt zunächst einmal der Vorstand die Verantwortung dafür. Das Zweite ist der Aufsichtsrat. Der Aufsichtsrat kontrolliert den Vorstand, das ist seine Aufgabe, das ist die einzige Aufgabe, die der Aufsichtsrat wahrzunehmen hat. Dann kommt der Wirtschaftsprüfer, der einen Ausschnitt betrachtet des Unternehmens, das ist die Darstellung der Geschäftsaktivität in der Bilanzierung. Das ist also die dritte Stufe, wenn Sie so wollen, in der gesamten Kette.
Hier haben wir gerade überlegt, dass möglicherweise Anlass gegeben war, auf Betrug näher zu untersuchen. Es war ja hier jetzt anders als in anderen Fällen. Die Besonderheit hier ist ja, dass von außen relativ konkrete Hinweise gegeben waren. Insofern konnte man diesen Hinweisen auch sehr gezielt nachgehen. Dann kommt die BaFin im Grunde, die BaFin als Wertpapieraufsicht, also als Aufsicht über die Unternehmen, die an der Börse notiert sind und wo es freie Aktionäre gibt, nämlich zum Schutz dieser Aktionäre tätig zu werden. Die BaFin ist ja im Grunde genommen auch tätig geworden, die Frage ist nur, ob sie in die richtige Richtung tätig geworden ist, schließlich hat die BaFin dann Leerverkäufe verboten. Sie ist ja nicht untätig gewesen, aber sie hat Vorwürfe in eine ganz andere Richtung erhoben. Und dem wird man nachzugehen haben. Die BaFin kann jetzt dann eigenständig tätig werden, sie kann aber, was sie hier wohl auch gemacht hat, diese Deutsche Prüfstelle für Rechnungsführung einschalten.
Dann ist die Prüfstelle im Grunde genommen die nächste Instanz, die sich das anguckt, die aber wiederum eher die Bilanzierung ansieht. Auch dort muss man sagen, na ja, es gab ja bestimmte Anhaltspunkte und es gab einen konkreten Auftrag durch die BaFin. Wenn ihr als DPR hier nicht weiterkommt, weil euch das Personal dazu fehlt, dann müsst ihr zurückgehen zur BaFin und sagen, das ist nicht unser Aufgabengebiet, das übersteigt unsere Kapazitäten und unsere Personalausstattung. Und dann muss die BaFin gegebenenfalls tätig werden und die Staatsanwaltschaft einschalten. Also, hier gibt es schon Verfahren, die haben nur an mehreren Stellen nicht funktioniert. Ich kann nicht verstehen von außen, dass die BaFin einen Auftrag gibt an die DPR und dann heute in der Presse sagt, ja, so nach über einem Jahr haben da keine Ergebnisse bekommen. Da muss ich mir doch die Frage stellen, ob ich nicht als BaFin verpflichtet bin, die DPR früher zu fragen, wie weit seid ihr, geht es hier möglicherweise um Betrug, dann müsst ihr schnell sein, ihr müsst uns da einen Hinweis geben. Da kann ich doch nicht über ein Jahr warten, bis möglicherweise die DPR sich rührt. Da hat die BaFin schon auch eine Verpflichtung, auf die DPR eigenständig zuzugehen. Insofern kann es sein, dass hier – ich will das mal vorsichtig formulieren – menschliches Versagen an verschiedenen Stellen stattgefunden hat.
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