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Wirken von NS-Gedankengut im Rechtswesen muss ergründet werden

Die Kommission, die sich um die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit im Justizwesen kümmert, untersucht gegenwärtig Dokumente von 200 Beschäftigten. Wichtig ist aber auch, wie NS-belastete Juristen möglicherweise die Gesetzgebung der Bundesrepublik mitgeprägt haben.

Von Stanislaus Kossakowski | 07.02.2013
    "Wir sind aus der organisatorischen und administrativen Arbeit heraus - jetzt beginnt die eigentliche Forschungsarbeit". Diese Botschaft verbreiten die beiden Leiter der "Unabhängigen Wissenschaftlichen Kommission beim Bundesministerium der Justiz zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit" gleich zu Beginn ihres zweiten Symposiums. Auch Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, die die Kommission im Januar 2012 ins Leben gerufen hat, zeigt sich zuversichtlich.

    "Der besondere Wert der Kommission liegt darin, dass diese Kommission sich mit Unterlagen, Dokumenten - sprich auch Personalakten - befasst, die bisher nicht unbedingt so zugänglich waren. Die einen Blick werfen darauf, wie gerade auch im Bundesjustizministerium in der jüngeren Nachkriegsgeschichte NS-Vorbelastete eingestellt wurden, sie in wichtige Funktionen kamen."

    Es sind vor allem die 1950er- und 60er-Jahre, die im Fokus der Kommission stehen. Die Zeit, in der die meisten Justizbeschäftigten mit NS-Vergangenheit vermutet werden. Der bislang prominenteste Fall ist der Jurist Eduard Dreher. Im Nazi-Regime ein gefürchteter Staatsanwalt, der sich schon bei kleineren Delikten schnell für die Todesstrafe entschied. Die Akte über ihn in der Kommission ist einen Meter hoch, und damit die Umfangreichste, die ihm vorliegt, sagt der Marburger Strafrechtsprofessor Christoph Safferling:

    "Es gibt die Geschichte, dass er sich als Rechtsanwalt zulassen wollte beim Landgericht Stuttgart. Und die Rechtsanwaltskammer Württemberg hat das abgelehnt - und zwar auch mit Verweis auf seine NS-Vergangenheit. Und schließlich hat der Landgerichtspräsident verfügt, dass er zugelassen werden muss als Anwalt. Dort hatte er immer wieder interveniert."

    Der Vorsitzende der Rechtsanwaltskammer habe daraufhin dem Stuttgarter Gerichtspräsidenten einen bösen Brief geschrieben. Jedoch ohne Wirkung, berichtet Kommissionsleiter Christoph Safferling. Die Akten würden außerdem belegen, dass das Bundesjustizministerium auf der Rosenburg bei Bonn über mehrere konkrete Fälle von Drehers Mittäterschaft im NS-Regime wusste. Konsequenzen aber blieben aus. Christoph Safferling:

    "Im Bundesjustizministerium wurden diese Dinge bekannt und sie wurden auch untersucht. Es gab dann interne Memoranden und Gutachten, ob das Verhalten Drehers falsch war oder nicht. Und es wurde an jeder Stelle immer wieder auf höchster Ebene entschieden, dass es keine Maßnahmen gibt, die gegen ihren Mitarbeiter zu veranlassen sind."

    Dreher schaffte es zum einflussreichen Juristen im Bundesjustizministerium. Unter seiner Verantwortung war es 1968 zum sogenannten "Einführungsgesetz zum Ordnungswidrigkeitsgesetz" gekommen. Das Gesetz schrieb die Verjährung der Mordgehilfenschaft in der Nazi-Zeit fest. Also eine Amnestie für NS-Täter. Die naheliegende Frage "Hat Dreher gedreht?" treibt Rechtshistoriker schon seit Jahrzehnten um - doch auch Christoph Safferling von der Forschungskommission kann sie bislang nicht beantworten:

    "Also ich kann noch keine definitive Antwort geben. Es fehlt der absolut schlüssige Beweis. Was ich aber jetzt stärker betonen kann, ist: In letzter Konsequenz gab es sogar eine Strafanzeige gegen ihn. Von der Staatsanwaltschaft Bonn wurde eine Akte angelegt gegen ihn. Und genau zu diesem Zeitpunkt tritt dann eben das Einführungsgesetz zum Ordnungswidrigkeitsgesetz in Kraft, was eben dazu führt, dass eben auch seine Tat verjährt ist. Insofern kann ich nur sagen: Er hat persönlich davon profitiert."

    Sehr viel Neues hat die Kommission bis jetzt noch nicht zutage gefördert. Vor allem jenseits des prominenten Falls Dreher. Doch geben sich die beiden Leiter des Teams, dem neben ihnen ein hauptamtlicher Geschäftsführer und fünf teilzeitbeschäftigte Wissenschaftliche Mitarbeiter angehören, angesichts des jetzt beginnenden umfassenden Aktenstudiums optimistisch. Co-Kommissionschef Manfred Görtemaker kündigt an: Es würden nun Dokumente und Unterlagen von 200 ausgewählten Justizbeschäftigten untersucht:

    "Wir haben die Möglichkeit, zum einen im Archiv des Bundesjustizministeriums selbst zu arbeiten. Dort liegen im Wesentlichen Personalakten seit 1949. Und wir gehen natürlich zum Zweiten dann in das Bundesarchiv. Und zwar sowohl in das Archiv in Koblenz als auch in das Archiv in Berlin-Lichterfelde. In Lichterfelde liegen die Akten des Reichsjustizministeriums; in Koblenz die Akten des Bundesministeriums der Justiz."

    Darüber hinaus plant die Forschungskommission auch Gespräche mit Zeitzeugen. Vornehmlich mit ehemaligen Mitarbeitern des Bundesjustizministeriums. Doch darf man das nicht überstürzen, warnt Geschichtsprofessor Görtemaker von der Universität Potsdam. Schließlich seien Zeitzeugen nicht ganz unkritisch zu betrachtende Quellen:

    "Wir haben natürlich aber eine erste Liste von Namen schon, die wir dann abarbeiten werden. Wichtig ist allerdings, dass man bevor man diese Interviews führt, zunächst einmal in die Akten gesehen haben muss. Im Prinzip ist es so: Man muss als Interviewer, als Historiker mehr wissen als der Interviewte selbst. Man muss ihn also auf ganz konkret Situationen ansprechen können, sonst wird er sich nicht erinnern."

    Dass viele Zeitzeugen längst nicht mehr am Leben sind, ist ein Problem, über das sich die Kommission nicht aufregen will. Freilich sei man spät dran mit der Aufklärung, räumt Manfred Görtemaker ein. Geschichtsprofessor Hans-Ulrich Thamer von der Universität Münster merkt verteidigend an: Eine späte Aufklärungsarbeit von Staatsverbrechen sei auch im internationalen Vergleich nicht ungewöhnlich. Allerdings hält Thamer eine vollständige Aufklärung durch die Kommissionsarbeit gerade wegen der jahrzehntelangen Verzögerung für unwahrscheinlich.

    "Die sind in den 1950er- und 1960er-Jahren auch - das zeigt eben dieser Fall Dreher auch - ja nun nicht dumm gewesen. Und haben das sehr geschickt gemacht. Und wir tappen da bis heute im Dunkeln. Also da muss man die Erwartungen immer so ein bisschen zurückschrauben, denn die Akten bringen das auch nicht immer."

    Der Blick auf persönliche Schuld und Verantwortung ist das eine, macht die Bundesjustizministerin im Symposium am historischen Ort der "Nürnberger Prozesse" von 1945 und 1946 deutlich. Es geht aber auch darum, sagt Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, dass aufgedeckt wird, inwiefern bei den Gesetzesreformen der Bundesrepublik womöglich ideologisch-nationalsozialistisches Gedankengut fortwirkt.

    "Wir wollen ja daraus - und das ist ja noch die Aufgabe der Kommission - auch Aufschlüsse bekommen, wie diese NS-belasteten Juristen unsere Gesetzgebung mitgeprägt haben: Familienrecht, besonders politisches Strafrecht und andere Gebiete."

    Die Ministerin will vor diesem Hintergrund spätere Gesetzesänderungen nicht ausschließen - seien diese auch nur symbolischer Natur. Zunächst aber wartet man auf weitere Fortschritte der wissenschaftlichen Kommission. Nach der aktuellen Planung soll die Kommission ihre Arbeit im Herbst 2015 mit einem Abschlussbericht beenden.