"Wenn man den Kampf gegen die Armut dauerhaft führen will, sind Versuch und Irrtum, Kreativität und Geduld unverzichtbar – nicht um ein Patentrezept zu finden, das es nicht gibt, sondern um eine Reihe kleiner Fortschritte zu erzielen, die schon heute das Leben der Ärmsten verbessern."
Dieser Ansatz klingt zunächst ganz pragmatisch und ergebnisoffen. Anhand mehrerer Vergleichsstudien untersucht die Entwicklungsökonomin das Verhalten der Armen exemplarisch in mehreren Ländern des globalen Südens. Vergleichende Studien, wie man sie aus der Medizin kennt, auf die Armutsforschung anzuwenden – das ist im Wesentlichen der Ansatz, den Esther Duflo in ihrem Buch "Kampf gegen die Armut" verfolgt. Nicht zuletzt diese Methode hat Duflo zu einer der meistzitierten Ökonominnen der Gegenwart gemacht. Wenn sie eingeladen wird, spricht sie vor voll besetzten Auditorien.
"Wir leben nicht mehr im Mittelalter, sondern im 21. Jahrhundert. Und schon im 20. Jahrhundert haben diese Vergleichsstudien die Medizin revolutioniert, indem sie uns ermöglicht haben, zwischen Arzneien zu unterscheiden, die wirken und jenen, die nicht wirken. Diese Studien kann man auch auf die Sozialpolitik anwenden, diese den gleichen, rigorosen wissenschaftlichen Tests unterziehen wie Arzneien. Sozialpolitik beruht dann nicht mehr auf Mutmaßungen, sondern es ist bekannt was funktioniert, was nicht funktioniert und warum das so ist."
Im Fokus der Wissenschaftlerin stehen die Bereiche Bildung, Gesundheit und Finanzdienstleistungen:
"Schutzimpfungen sind das preisgünstigste Mittel, um das Leben von Kindern zu retten. Und die Welt hat viel Geld dafür ausgegeben, die Gavi und die Bill und Melinda Gates Stiftung haben jeweils hohe Summen dafür investiert und auch die Entwicklungsländer selbst haben sich sehr angestrengt. Und doch bekommen Jahr für Jahr mindestens 25 Millionen Kinder nicht die Schutzimpfungen, die sie bekommen sollten. Das nennt man das 'Problem der letzten Meile'."
Statt dessen, schreibt Duflo, versuchten die Armen, teure Therapien zu finanzieren, wenn sie krank werden. Selbst kostenlose Impfungen nutzten die Armen nicht, weil sie keinen kurzfristigen Vorteil daraus ziehen könnten. Duflo setzt deshalb auf Disziplinierung.
"Der gesellschaftliche Nutzen der Impfung ist größer als der private. Von daher ist es notwendig, die Individuen zu einer Handlung zu ermutigen oder zu zwingen, aus der sie keinen großen Nutzen ziehen, von der aber die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit profitiert."
Das gilt nicht nur für den Bereich der Schutzimpfungen. Als innovativ betrachtet Duflo etwa auch einen Vertrag, den ein philippinisches Mikrokreditinstitut mit Rauchern abschließt. Dabei verpflichten die sich, das Rauchen aufzugeben und regelmäßig auf ein zinsloses Sparkonto den Betrag einzuzahlen, den sie sonst für Zigaretten ausgeben. Gelockt werden sie mit 50 Pesos Startguthaben – umgerechnet weniger als einem Dollar. Nach sechs Monaten wird getestet. 89 Prozent der von Duflo erfassten Teilnehmer hatten doch geraucht und verloren ihre gesamten Ersparnisse. Das riecht nach Abzocke – dennoch hält die junge Wissenschaftlerin das Programm für Erfolg versprechend, weil in der Kontrollgruppe – Raucher, die keinen Vertrag abgeschlossen hatten - statt elf nur acht Prozent aufgehört haben. Duflos Lösungsstrategien setzen auch in anderen Bereichen immer am vermeintlich individuellen Fehlverhalten der Armen an.
"Informationsmangel, Unvernunft, gesellschaftlicher Druck sind lauter Parameter, die […] zur Überschuldung führen können."
Die makroökonomischen Rahmenbedingungen und damit die strukturellen Ursachen der Armut sind bei Duflo hingegen kein Gegenstand der Analyse. Etwa dass Regierungen Nahrungsmittelsubventionen, Bildungs- und Gesundheitsetats zusammenstreichen oder massiv Beschäftigte aus dem öffentlichen Dienst entlassen, um ihren Schuldendienst an Banken abzuleisten. So will Duflo hohe Fehlzeiten von Lehrern in Kenia, die wegen ihrer schlechten Bezahlung nebenher in anderen Jobs arbeiten müssen, nicht etwa durch eine Lohnerhöhung bekämpfen. Vielmehr setzt sie auf befristete Arbeitsverträge, um die Motivation der Lehrer zu steigern.
"Wenn wir nicht wissen, ob wir tatsächlich etwas Gutes tun, sind wir nicht besser als die Ärzte im Mittelalter: Manchmal ging es dem Patienten besser, manchmal starb er."
Die ideologischen Wurzeln der vermeintlichen Pragmatikerin lassen sich schon zwischen den Zeilen des Einführungskapitels finden: Geschickt verbindet sie dort die Ziele des UN-Index’ für menschliche Entwicklung mit dem Konzept des sogenannten Humankapitals aus der neoklassischen Chicagoer Schule: Investitionen in Bildung und Gesundheit müssen Rendite generieren.
"Die [..] Lösung besteht darin, jede dieser Politiken gründlich zu testen und dabei sowohl den Preis als auch die Wirkung zu vergleichen."
Bildung und Gesundheit betrachtet Duflo als, so wörtlich, "Motor eines ununterbrochenen Wachstums". In beiden Sektoren setzt sie "auf die Dynamik der freien Marktkräfte", die von Fall zu Fall mit staatlichen Mitteln subventioniert werden sollen und öffentlichen Einrichtungen in der Regel vorzuziehen seien. Nie gab es so viel Reichtum auf der Welt, und niemals so viele Arme, die nicht daran teilhaben können. Doch Duflo, so scheint es, will nicht die gesellschaftlichen Ressourcen zugunsten der Armen umverteilen, sondern diese als Humankapital möglichst – Zitat – "kosteneffizient" verwerten. Es ist nichts dagegen einzuwenden, die Wirksamkeit der Armutsbekämpfung genauer zu untersuchen. Das kann aber nur zielführend sein, wenn auch die strukturellen Ursachen der Armut ins Visier genommen werden. Und genau dies leistet das Buch von Esther Duflo nicht.
Esther Duflo:"Kampf gegen die Armut", Suhrkamp, 182 Seiten, 16 Euro.
Dieser Ansatz klingt zunächst ganz pragmatisch und ergebnisoffen. Anhand mehrerer Vergleichsstudien untersucht die Entwicklungsökonomin das Verhalten der Armen exemplarisch in mehreren Ländern des globalen Südens. Vergleichende Studien, wie man sie aus der Medizin kennt, auf die Armutsforschung anzuwenden – das ist im Wesentlichen der Ansatz, den Esther Duflo in ihrem Buch "Kampf gegen die Armut" verfolgt. Nicht zuletzt diese Methode hat Duflo zu einer der meistzitierten Ökonominnen der Gegenwart gemacht. Wenn sie eingeladen wird, spricht sie vor voll besetzten Auditorien.
"Wir leben nicht mehr im Mittelalter, sondern im 21. Jahrhundert. Und schon im 20. Jahrhundert haben diese Vergleichsstudien die Medizin revolutioniert, indem sie uns ermöglicht haben, zwischen Arzneien zu unterscheiden, die wirken und jenen, die nicht wirken. Diese Studien kann man auch auf die Sozialpolitik anwenden, diese den gleichen, rigorosen wissenschaftlichen Tests unterziehen wie Arzneien. Sozialpolitik beruht dann nicht mehr auf Mutmaßungen, sondern es ist bekannt was funktioniert, was nicht funktioniert und warum das so ist."
Im Fokus der Wissenschaftlerin stehen die Bereiche Bildung, Gesundheit und Finanzdienstleistungen:
"Schutzimpfungen sind das preisgünstigste Mittel, um das Leben von Kindern zu retten. Und die Welt hat viel Geld dafür ausgegeben, die Gavi und die Bill und Melinda Gates Stiftung haben jeweils hohe Summen dafür investiert und auch die Entwicklungsländer selbst haben sich sehr angestrengt. Und doch bekommen Jahr für Jahr mindestens 25 Millionen Kinder nicht die Schutzimpfungen, die sie bekommen sollten. Das nennt man das 'Problem der letzten Meile'."
Statt dessen, schreibt Duflo, versuchten die Armen, teure Therapien zu finanzieren, wenn sie krank werden. Selbst kostenlose Impfungen nutzten die Armen nicht, weil sie keinen kurzfristigen Vorteil daraus ziehen könnten. Duflo setzt deshalb auf Disziplinierung.
"Der gesellschaftliche Nutzen der Impfung ist größer als der private. Von daher ist es notwendig, die Individuen zu einer Handlung zu ermutigen oder zu zwingen, aus der sie keinen großen Nutzen ziehen, von der aber die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit profitiert."
Das gilt nicht nur für den Bereich der Schutzimpfungen. Als innovativ betrachtet Duflo etwa auch einen Vertrag, den ein philippinisches Mikrokreditinstitut mit Rauchern abschließt. Dabei verpflichten die sich, das Rauchen aufzugeben und regelmäßig auf ein zinsloses Sparkonto den Betrag einzuzahlen, den sie sonst für Zigaretten ausgeben. Gelockt werden sie mit 50 Pesos Startguthaben – umgerechnet weniger als einem Dollar. Nach sechs Monaten wird getestet. 89 Prozent der von Duflo erfassten Teilnehmer hatten doch geraucht und verloren ihre gesamten Ersparnisse. Das riecht nach Abzocke – dennoch hält die junge Wissenschaftlerin das Programm für Erfolg versprechend, weil in der Kontrollgruppe – Raucher, die keinen Vertrag abgeschlossen hatten - statt elf nur acht Prozent aufgehört haben. Duflos Lösungsstrategien setzen auch in anderen Bereichen immer am vermeintlich individuellen Fehlverhalten der Armen an.
"Informationsmangel, Unvernunft, gesellschaftlicher Druck sind lauter Parameter, die […] zur Überschuldung führen können."
Die makroökonomischen Rahmenbedingungen und damit die strukturellen Ursachen der Armut sind bei Duflo hingegen kein Gegenstand der Analyse. Etwa dass Regierungen Nahrungsmittelsubventionen, Bildungs- und Gesundheitsetats zusammenstreichen oder massiv Beschäftigte aus dem öffentlichen Dienst entlassen, um ihren Schuldendienst an Banken abzuleisten. So will Duflo hohe Fehlzeiten von Lehrern in Kenia, die wegen ihrer schlechten Bezahlung nebenher in anderen Jobs arbeiten müssen, nicht etwa durch eine Lohnerhöhung bekämpfen. Vielmehr setzt sie auf befristete Arbeitsverträge, um die Motivation der Lehrer zu steigern.
"Wenn wir nicht wissen, ob wir tatsächlich etwas Gutes tun, sind wir nicht besser als die Ärzte im Mittelalter: Manchmal ging es dem Patienten besser, manchmal starb er."
Die ideologischen Wurzeln der vermeintlichen Pragmatikerin lassen sich schon zwischen den Zeilen des Einführungskapitels finden: Geschickt verbindet sie dort die Ziele des UN-Index’ für menschliche Entwicklung mit dem Konzept des sogenannten Humankapitals aus der neoklassischen Chicagoer Schule: Investitionen in Bildung und Gesundheit müssen Rendite generieren.
"Die [..] Lösung besteht darin, jede dieser Politiken gründlich zu testen und dabei sowohl den Preis als auch die Wirkung zu vergleichen."
Bildung und Gesundheit betrachtet Duflo als, so wörtlich, "Motor eines ununterbrochenen Wachstums". In beiden Sektoren setzt sie "auf die Dynamik der freien Marktkräfte", die von Fall zu Fall mit staatlichen Mitteln subventioniert werden sollen und öffentlichen Einrichtungen in der Regel vorzuziehen seien. Nie gab es so viel Reichtum auf der Welt, und niemals so viele Arme, die nicht daran teilhaben können. Doch Duflo, so scheint es, will nicht die gesellschaftlichen Ressourcen zugunsten der Armen umverteilen, sondern diese als Humankapital möglichst – Zitat – "kosteneffizient" verwerten. Es ist nichts dagegen einzuwenden, die Wirksamkeit der Armutsbekämpfung genauer zu untersuchen. Das kann aber nur zielführend sein, wenn auch die strukturellen Ursachen der Armut ins Visier genommen werden. Und genau dies leistet das Buch von Esther Duflo nicht.
Esther Duflo:"Kampf gegen die Armut", Suhrkamp, 182 Seiten, 16 Euro.