"Ein Leitspruch unserer Arbeit ist: 'Aus Insekten lernen, heißt siegen lernen'."
Andreas Vilcinskas ist Entomologe, also Insektenforscher. Vor ein paar Jahren hat er an der Universität Gießen begonnen, systematisch in Insekten nach Wirkstoffen zu suchen, die dem Menschen helfen könnten. Dabei nimmt er sich vor allem Sechsbeiner vor, die seltsame Vorlieben haben oder an Orten wohnen, um die Menschen gern einen großen Bogen machen. Schmeißfliegenlarven, zum Beispiel, die sich von abgestorbenem Gewebe ernähren. Oder so genannte Mistbienen, die - wie der Name vermuten lässt - ihre Eier in Dung ablegen.
"Das hat aus evolutionsbiologischer Sicht Vorteile: Wenn ich dort lebe in Gülle und Jauche, frisst mir niemand was weg, ich muss mich nicht mit Nahrungskonkurrenten herum kloppen, dort werde ich nicht gejagt, ist ja niemand anderes da, und ich muss mich nicht mit Parasiten herumschlagen. Das heißt, ich spare sehr viele Fitnesskosten. Ich muss aber, wenn ich diese Nahrung aufnehme, ein extrem gutes Immunsystem haben, weil sie extrem belastet ist mit Bakterien. Und da haben wir eben das Immunsystem untersucht und haben eine ganze Reihe neuer antimikrobiell wirksamer Peptide gefunden."
Wirkstoffe zur Konservierung von Lebensmitteln
Insekten, die wie die Mistbienen extreme Lebensräume erobert haben, müssen sich aber nicht nur mit Krankheitserregern herumplagen. Die Nahrung, auf die manche von ihnen sich spezialisiert haben, ist sehr schwer zu verdauen: Pelz, Federn oder Leder beispielsweise. Mit diesen tierischen Überresten hat es auch der Totengräberkäfer zu tun: Er verbuddelt Kadaver, konserviert sie chemisch und verdaut das Aas für sich und seine Brut mit Sekreten vor:
"Und das hat uns fasziniert. Wie kann ein Käfer vor seinem Maul einen Kadaver verdauen, der hundertmal größer ist als er? Das ist eine Giga-Leistung. Das ist so, als würde ich Sie anspucken und sie lösen sich vor mir auf! Wie geht so was?"
In der Totengräber-Spucke haben Vilcinskas und seine Kollegen viele interessante Wirkstoffe entdeckt, mit denen auch der Mensch Lebensmittel haltbar machen oder Bakterien abtöten könnte. In anderen Insekten fanden die Forscher Substanzen, die in Zellkulturen gegen Malariaerreger oder Tuberkulose-Bakterien wirksam waren. Bei manchen ist es ihnen auch schon gelungen, die Struktur der Wirkstoffe zu entschlüsseln, sodass die Forscher größere Mengen im Labor nachbauen können. Erst dann ist es möglich, diese Substanzen in klinischen Versuchen zu testen. Die Wissenschaftler haben es aber nicht nur auf die Wirkstoffe der Insekten abgesehen: Sie wollen die Zellen der Sechsbeiner auch als Mini-Fabriken nutzen, um bestimmte Eiweiße in größeren Mengen herzustellen. Denn viele interessante Wirkstoffe sind Enzyme, also Eiweiße, bei denen die klassischen Methoden der "weißen Biotechnologie" an ihre Grenzen stoßen.
"Hefen und Bakterien können nicht alles herstellen, was ein Insekt kann. Manche Enzyme sind ganz kompliziert gefaltet und das können Hefen nicht leisten. Vor diesem Hintergrund nutzen wir auch Insektenzellen als Expressionssysteme. Das heißt, wir nutzen Insektenzellen, die Sie wie Hefen vermehren können in einem Fermenter, bauen sie genetisch so um, dass sie das machen, was wir wollen und können das dann in großem Maßstab darstellen."
Das Leben vieler Labormäuse retten
Außerdem haben Andreas Vilcinskas und sein Team die Idee, Insekten als Versuchstiere einzusetzen. Denn auch bei den Sechsbeinern kann es durch bestimmte Medikamenten-Wirkstoffe zu Schädigungen kommen, die sich erst in der nachfolgenden Generation zeigen.
In der Klimakammer des Instituts züchten die Forscher Tribolium-Käfer, winzige Insekten, die sich als Getreideschädlinge einen Ruf gemacht haben. Im Labor krabbeln sie zu Tausenden in großen Gläsern umher:
"Dieser Käfer, den man hier sieht, der heißt auf deutsch rot-brauner Reismehlkäfer. Und wir versuchen hier mithilfe solcher Käfer Mäuse zu ersetzen in der präklinischen Forschung. Und hier versuchen wir, Verfahren zu entwickeln, wie ich mithilfe von Insekten herausfinden kann, ob die Gefahr besteht, dass eine bestimmte Substanz in der nächsten oder übernächsten Generation Nebenwirkungen erzeigen kann. Zum Beispiel bei dem Tribolium-Käfer, der legt 1.000 Eier und wir geben winzige Mengen drauf und die legen in der nächsten Generation nur noch 800 Eier. Dann haben Sie einen Hinweis darauf, dass es die Reproduktion beeinträchtigt. Und dann müssen sie gucken, ob das auch im Wirbeltiermodell der Fall ist."
Auf diese Weise könnten die Forscher das Leben vieler Labormäuse retten. Vilcinskas und sein Team arbeiten eng mit Pharmaunternehmen zusammen, die die Arbeit der Forscher mit viel Geld unterstützen. Es dürfte deshalb nur eine Frage der Zeit sein, bis die ersten aus Insekten gewonnenen Wirkstoffe es bis in die Regale der Apotheken und Drogerien schaffen.