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Wirkung des Terrors
"Schulen sind der geeignete Ort, um über Terror zu sprechen"

Wie spricht man mit Kindern und Jugendlichen über Gewalttaten wie den Anschlag in Berlin? Pädagogen in Kindergärten und Schulen sollten sich an die Wahrheit halten und Spekulationen vermeiden, sagte der Trauma-Therapeut Christian Lüdke im DLF. Über die sozialen Medien erreichten die Jugendliche allerdings häufig auch ungefilterte Informationen.

Christian Lüdke im Gespräch mit Manfred Götzke |
    Menschen stehen in der Dunkelheit hinter einem Meer aus Kerzen und Blumen neben einer Beton-Absperrung.
    Vor Kerzen und Blumen gedenken Menschen abends am 20.12.2016 in Berlin nahe der Gedächtniskirche den Opfern des Anschlags auf einem Weihnachtsmarkt. (Maurizio Gambarini / dpa)
    Manfred Götzke: Seit immer mehr Details über den Hauptverdächtigen des Berliner Anschlags bekannt werden mischt sich unter die Sorge und Angst – auch Fassungslosigkeit und Wut über die Arbeit der Behörde. Wie kann ein Islamist der ganz oben auf der Liste der Gefährder steht sich in Deutschland unbeobachtet von Behörden bewegen. Warum war der Mann nicht in Abschiebehaft – obwohl nur noch auf ein paar Papiere gewartet wurde? Mit diesen Fragen und Sorgen klarzukommen das fällt vielen Erwachsenen schwer genug – aber wie spreche ich mit Kindern, als Lehrer mit meinen Schülern über den Terrorakt über Terrorismus insgesamt. Antworten darauf kennt Thomas Lüdke. Er ist Trauma-Therapeut und betreut seit 9/11-Opfer und Hinterbliebene von Terroranschlägen, seine Kollegen sind auch jetzt in Berlin vor Ort.
    Herr Lüdke, was in Berlin passiert ist macht uns Erwachsenen Angst, wie kann ich Kindern die Angst nehmen?
    Christian Lüdke: Kindern und Schülern kann man diese Angst nehmen, indem man ihnen also zum einen die Wahrheit sagt, dass natürlich mittlerweile traurige Realität ist, dass der Terror auch hier in Deutschland angekommen ist. Aber man sollte ihnen sagen, dass die Wahrscheinlichkeit, selbst Opfer eines Terroranschlags zu werden, äußerst gering ist. Da könnte man vergleichsweise eher im Lotto gewinnen. Und durch solche Beispiele relativiert sich das und die Schüler können eben ihre Angst reduzieren.
    Götzke: Wie stark beschäftigen solche Attentate denn die Schüler, die Kinder, wie viel bekommen die in der Regel überhaupt davon mit?
    Lüdke: Kinder und Schüler bekommen mittlerweile doch einiges mit von diesen Attentaten. Also, ganz kleine Kinder, wenn sie jünger als vier Jahre sind, in der Regel bekommen sie gar nichts mit. Aber Kinder, die zur Schule gehen, die bekommen gerade über die sozialen Medien, über ihre Netzwerke oft sehr viel Informationen, leider aber auch ungefiltert, was sie natürlich dann zum Teil sehr verstören kann. Das heißt also, Eltern sollten sie darauf vorbereiten oder sollten ihnen sagen: Wenn dort etwas auftaucht, was dich belastet, dann sollten sie in jedem Fall immer mit den Eltern darüber sprechen.
    Götzke: Sind die sozialen Medien da ein Problem?
    Lüdke: Soziale Medien sind eine der besten Erfindungen dieses Jahrtausends. Und medizinisch würde man sagen: Alles, was wirkt, hat auch Nebenwirkungen. Das heißt also, je besser ein Medikament wirkt, desto größer sind die Risiken und die Nebenwirkungen. Die sozialen Medien sind supertoll, allerdings haben sie auch in dem Fall eine große Nebenwirkung, wenn es nämlich Informationen gibt, die verbreitet werden, die nicht gesichert sind. Das heißt also, wenn jeder seine eigenen Ängste, Befürchtungen oder Verschwörungstheorien mit einmischt, dann kann das am Ende sehr schädigend sein. Also, hier sollten gerade bei solchen außergewöhnlichen Erlebnissen wie Anschlägen, sollten in den sozialen Netzwerken nur Informationen verbreitet werden, die tatsächlich gesichert sind. Das heißt also, im besten Fall würde man auf Seiten gehen, die dann zum Beispiel von der Polizei gepostet werden.

    "Für die Digital Natives ein alltägliches Kommunikationsmittel"

    Götzke: Aber Sie sagen: In der Regel und wenn es gut gemacht wird, wenn es auch richtig konsumiert wird, sind soziale Medien auch für Jugendliche, für Schüler genau das richtige Instrument, um solche Ereignisse auch zu verarbeiten?
    Lüdke: Ja, alle Schülerinnen und Schüler, die nach 1987 geboren wurden, gehören zu den digital Geborenen, den Digital Natives. Das heißt also, für sie ist das ein völlig normales, alltägliches Kommunikationsinstrument, das, wenn ich es intelligent nutze, ein absoluter Segen ist. Allerdings, wenn ich mich davon abhängig mache, dann kann das auch sehr schnell zum Fluch werden. Aber die Vorteile, die überwiegen absolut.
    Götzke: Ist denn die Schule überhaupt der richtige Ort, um mit Kindern über Terror, über einen solchen Anschlag wie in Berlin zu sprechen? Oder sollte man das eher vermeiden?
    Lüdke: Nein, die Schule ist absolut ein richtiger und auch sehr geeigneter Ort, um über Terror in Berlin oder andere Ereignisse zu sprechen. Zum einen sind eben Lehrer dann im besten Fall gut pädagogisch ausgebildet, um das Thema aufzubereiten, zum anderen sind die Schülerinnen und Schüler in einer Klasse von Gleichaltrigen, sie bilden quasi dann auch eine sehr gute Lerngruppe, sie erleben das Ganze möglicherweise eben als nicht so bedrohlich und jeder kann für sich persönliche Dinge herausziehen, die dann auch auf den eigenen Alltag übertragen werden können.
    Götzke: Was sollten die Lehrer denn sagen? Also, wie sollten Sie das Thema ansprechen aus Ihrer Sicht?
    Lüdke: Lehrer sollten grundsätzlich nach dem Motto handeln: Sag die Wahrheit, nichts als die Wahrheit, aber niemals die ganze Wahrheit. Sie sollten Informationen sehr sachlich, ruhig und gelassen vermitteln. Sie sollten nach Möglichkeit verstörende Details vermeiden oder sehr gewalttätige Dinge nicht besonders ausschmücken, sondern sie sollten bei den überprüfbaren Fakten bleiben. Dann gibt eine solche Information sehr große Sicherheit.
    Götzke: Was nicht ganz einfach ist zurzeit, weil viele Fakten einfach noch nicht klar sind.
    Lüdke: Es ist oft nicht leicht, diese Informationen rüberzubringen. Wenn man sich tatsächlich nur an die bekannten Fakten hält, die tatsächlich auch überprüfbar sind … Und das ist halt die Kunst dann eines guten Lehrers und einer guten Lehrerin, sich wirklich hier zu beschränken und sich nicht verleiten zu lassen, rumzuspekulieren oder nur im Bereich der Vermutung sich zu bewegen. Dann könnte das Ganze eher nach hinten abgehen und am Ende die Schüler mehr verunsichern als sie stärken.
    Götzke: Aber Sie sagen schon, die Lehrer sollten das Gespräch dezidiert suchen mit den Schülern und nicht warten, dass sie selbst das Ganze thematisieren?
    Lüdke: Es kommt immer darauf an, wie alt die Schüler sind. Wenn es jüngere Schüler sind, zum Beispiel in der Grundschule, dort würde ich es als Lehrer nur ansprechen, wenn die Fragen von den Schülern gestellt werden. Ich würde es also nicht aktiv zum Unterrichtsstoff machen. Allerdings in weiterführenden Schulen, in dem Moment, wo die fünfte, sechste Klasse schon besucht wird oder weitere, da sollte das Thema durchaus aktiv auch von den Lehrern angesprochen werden. Denn die Jugendlichen, die Schüler bekommen es ja ohnehin mit und hier kann ich es dann in einer Art und Weise aufbereiten, dass es den Schrecken verliert und ich am Ende dann auch Ansätze habe, wie man so etwas vielleicht langfristig verhindern könnte.
    "Umfeld sollte stabil reagieren"
    Götzke: Was würden Sie denn sagen, also, wie sehr machen solche Ereignisse gerade jüngeren Schülern Angst?
    Lüdke: Die Angst bei jüngeren Schülern ist gar nicht so groß, wenn man bedenkt, dass für ein Kind, einen Jugendlichen immer entscheidend ist, wie sie etwas erleben, nicht unbedingt, was sie erleben. Es ist also viel wichtiger, wie das unmittelbare Umfeld reagiert, das heißt also, in erster Linie natürlich die Eltern, Mama und Papa, dann aber auch die Lehrer oder Erziehungsberechtigte. Wenn die Menschen in der Umgebung eines Jugendlichen als stabile Personen nicht weinend vom Stuhl fallen, sondern stellvertretend Hoffnung, Zuversicht vermitteln, wenn die ganz ruhig und gelassen bleiben, dann führt das dazu, dass diese Ruhe und Gelassenheit eben auch für die Kinder und Jugendlichen ansteckend ist. Das heißt, sie verfallen dann gar nicht in Panik, denn die größte Sorge ist, dass das, was ein junger Mensch dort vielleicht im Fernsehen gesehen hat, auch der eigenen Familie passieren könnte. Und wenn die Eltern da eben entsprechend ruhig bleiben, dann verhindern sie dadurch, dass bei dem Kind Panik entsteht.
    Götzke: Sie haben ja schon Opfer oder Hinterbliebene von 9/11 betreut, jetzt betreuen Ihre Kollegen die Opfer und Hinterbliebenen des Anschlags in Berlin. Wie würden Sie das vergleichen? Also, wie problematisch, wie heftig ist es, wie erleben die Leute das, die Hinterbliebenen das, was gerade in Berlin passiert ist?
    Lüdke: Die Hinterbliebenen sind in einem absoluten seelischen Ausnahmezustand. Sie sind natürlich zutiefst geschockt. Das Schlimme ist so die Sinnlosigkeit der Tat, gerade für die Angehörigen, die einen geliebten Menschen verloren haben. Für sie werden oft zwei Lebensgesetze gebrochen, wenn zum Beispiel eine Mutter oder ein Vater das eigene Kind verlieren, dann ist das nicht natürlich, das ist im Leben nicht vorgesehen, dass die Kinder vor den Eltern sterben. Und wenn sie eines nicht natürlichen Todes sterben, sind solche Angehörigen ein Leben lang untröstlich. Man kann hier nur versuchen, sie zu stabilisieren, ihnen zu helfen, wieder eine neue Orientierung zu finden und dann irgendwann wieder auch am Leben teilzunehmen.
    Götzke: Herr Lüdke, vielen Dank für das Gespräch!
    Lüdke: Danke Ihnen!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.