Über den Befund herrscht Einigkeit, über das Gegengift nicht. Deutschland befindet sich in einer Konjunkturflaute. Doch was dagegen tun? In dieser Frage ist kein Konsens in Sicht, Vorschläge zur Wirtschaftsbelebung haben gerade Hochkonjunktur. Gestritten wird dabei vor allem darüber, ob kurzfristige Maßnahmen zur Konjunkturbelebung sinnvoll sind oder eher die strukturellen Gründe für das Schwächeln der deutschen Wirtschaft angegangen werden sollten. Ein Überblick.
Wie groß ist die Konjunkturdelle in Deutschland?
Die deutsche Wirtschaft steckt in einer Flaute, der erhoffte Frühjahrsaufschwung ist ausgeblieben. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) stagnierte im zweiten Quartal im Vergleich zum Vorquartal, wie das Statistische Bundesamt auf der Basis vorläufiger Zahlen mitteilte. Die Aussichten für die kommenden Monate haben sich nach Einschätzung von Ökonomen eingetrübt.
Der Internationale Währungsfonds erwartet für dieses Jahr ein Schrumpfen der deutschen Wirtschaft um 0,3 Prozent. Nach seiner Prognose wird Deutschland die einzige Volkswirtschaft unter mehr als 20 untersuchten Staaten und Regionen sein, in der die Wirtschaftsleistung dieses Jahr leicht sinken wird. Die Bundesregierung geht nach der im April vorgelegten Frühjahrsprojektion für 2023 noch immer von einem BIP-Plus von 0,4 Prozent aus.
Was sind die Gründe für die Wirtschaftsflaute?
Die Konsumlaune der Deutschen leidet schon länger unter der hohen Inflation, die Wirtschaft hat mit den starken Preissteigerungen bei der Energie zu kämpfen. Die Industrie, die in Deutschland mit etwa 30 Prozent an der Bruttowertschöpfung ein vergleichsweise starkes Gewicht hat, leidet seit Längerem unter einer schwachen Entwicklung der Weltkonjunktur. Die Bauinvestitionen stiegen zwar zu Jahresbeginn angesichts des milden Wetters. Doch der jahrelange Bauboom, der die deutsche Konjunktur stützte, ist vorerst zu Ende. Deutlich gestiegene Hypothekenzinsen und hohe Baukosten dämpfen die Nachfrage. Zudem verteuern die hohen Zinsen, mit denen Notenbanken die Inflation eindämmen wollen, Kredite für Firmen und Verbraucher. Das schlägt unter anderem auf den Immobilienmarkt durch.
Nach Einschätzung von Volkswirten hat Deutschland auch mit strukturellen Problemen zu kämpfen. Die internationale Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands habe sich bereits vor der Corona-Pandemie verschlechtert, meint ING-Chefvolkswirt Carsten Brzeski. „Spannungen in der Lieferkette, der Krieg in der Ukraine und die Energiekrise haben die strukturellen Schwächen des deutschen Wirtschaftsmodells offengelegt und kommen zu einer ohnehin schwachen Digitalisierung, einer bröckelnden Infrastruktur und demografischen Veränderungen hinzu.“ Ähnlich sieht das Christian Rusche vom arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft. Viele Probleme seien hausgemacht, sagt Rusche - darunter hohe Unternehmenssteuern, eine ausufernde Bürokratie und eine marode Infrastruktur.
Was will die Bundesregierung gegen die Wirtschaftsflaute tun?
Die Ampel-Regierung hat noch kein grundsätzliches Konzept vorgelegt. Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) hat mit dem Wachstumschancen-Gesetz eine ganze Reihe von steuerpolitischen Maßnahmen vorgeschlagen, die die Wirtschaft entlasten sollen. Doch SPD-Co-Chefin Saskia Esken bemängelt Leerstellen darin. Wie Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck von den Grünen fordert sie einen subventionierten Strompreis für energieintensive Unternehmen und mehr öffentliche Investitionen in die Energieinfrastruktur. Bundesbauministerin Klara Geywitz (SPD) hat bessere Abschreibungsbedingungen für den Wohnungsbau in die Debatte eingebracht.
Nach Ansicht von FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai sind derzeit keine kurzfristigen Konjunkturprogramme gefragt, sondern ein strategisches Konzept, das Bürokratieabbau, niedrige Steuern und eine Steigerung von privaten Investitionen beinhalten soll. Die Co-Chefin der Grünen, Ricarda Lang, will die Stärkung der Wirtschaft prioritär behandeln und fordert eine „Investitionsagenda“. Es gehe darum, Deutschlands wirtschaftliches Fundament zu verteidigen - mit Investitionen in Bahn, Kitas und Digitalisierung sowie Investitionsanreizen für internationale Unternehmen.
Trotz der Konjunkturflaute gibt sich ihr Parteifreund, Wirtschaftsminister Habeck, zuversichtlich. „Zurzeit planen etwa zwei Dutzend Unternehmen Großinvestitionen in Deutschland mit einem Investitionsvolumen von rund 80 Milliarden Euro“, sagte er in einem Interview. Das werde Wertschöpfung und Arbeitsplätze schaffen. Auch SPD-Co-Chefin Esken hat davor gewarnt, eine Depression herbeizureden. Das Regierungslager versucht also, optimistisch zu bleiben.
Was schlägt die Opposition vor?
Die Bundesregierung gerät angesichts der schlechten Wirtschaftsdaten immer weiter unter Druck. Die Union fordert ein Fünf-Punkte-Sofortprogramm, das unter anderem die Senkung der Stromsteuer und Netzentgelte enthält. CDU-Chef Friedrich Merz sagte im Deutschlandfunk, Deutschland verliere an Wettbewerbsfähigkeit, und Nichtstun werde in dieser Situation teuer.
Weiterhin will die Union den Stopp aller Gesetze, die Bürokratie verursachen, eine sofortige Steuerfreistellung von Überstunden und eine Abschaffung der Erbschaftssteuer auf das Elternhaus, den Stopp des Heizungsgesetzes - und für Unternehmen soll es weniger Steuern auf einbehaltene Gewinne und bessere Abschreibungen geben. CSU-Chef Markus Söder hat außerdem die Abschaffung der Mehrwertsteuer auf Grundnahrungsmittel und ein konjunkturelles Bauprogramm vorgeschlagen.
Die Linke wiederum will, dass die Energiepreise massiv gedrückt werden und die Schuldenbremse ausgesetzt wird. Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch forderte im Deutschlandfunk, zukünftigen Generationen keine kaputte Infrastruktur zu hinterlassen und die „Superreichen“ stärker zu besteuern.
Was fordert die Wirtschaft?
Die Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft blicken derzeit mit großer Sorge auf die Konjunktur. „Deutschland befindet sich wirtschaftlich auf der Verliererstraße, insbesondere im internationalen Vergleich“, sagt Siegfried Russwurm, Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie. Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger sieht das ähnlich: „Wenn wir eine der führenden Industrienationen bleiben wollen, müssen wir an vielen Stellschrauben drehen.“ Und Gesamtmetall-Chef Stefan Wolf warnt: „Deutschland ist nicht mehr wettbewerbsfähig. Wir sind in der Tat wieder der kranke Mann Europas.“
„Wir haben mit die höchsten Energiekosten, wir haben mit die höchsten Steuern und Lohnzusatzkosten. Wir haben eine marode Infrastruktur. Diese Probleme mischen sich mit Fachkräftemangel, verschlafener Digitalisierung und der Dekarbonisierung“, schimpft Dulger. Deutschland müsse vor allem schneller und digitaler werden, nötig seien zudem weniger Steuern und Lohnzusatzkosten, fordert er. Es gehe längst nicht mehr nur ums Geld, so Russwurm. „Wir machen keine Fortschritte beim Bürokratieabbau. Wir machen keine Fortschritte beim Thema Genehmigungsbeschleunigungen.“ Beim Energiesystem der Zukunft und dessen Kosten seien die Fortschritte zu klein. Die Koalition müsse „Zielkonflikte“ lösen und die richtigen Prioritäten setzen.
Gudula Geuther, ahe, dpa, afp, rtr