Die Coronavirus-Pandemie verändert vieles: Unternehmen müssen ihr Produktion einstellen, Flüge werden gestrichen, Handelsschiffe fahren nicht mehr, Geschäfte und Restaurants müssen schließen – und die Finanzmärkte verzeichnen Milliardenverluste binnen weniger Minuten.
Auf den "Schwarzen Montag" folgte der "Schwarze Donnerstag": In Frankfurt am Main brach der Deutsche Aktienindex (Dax) am Donnerstagnachmittag zwischenzeitlich um mehr als zehn Prozent ein. In Paris und in Madrid stürzten die Kurse ebenfalls um mehr als zehn Prozent ab. Auch in den USA gab es erneut massive Kursverluste. Der Aktienindex S&P 500 gab nach Handelsbeginn um sieben Prozent nach. Daraufhin wurde der Handel – wie schon am Montag - automatisch für 15 Minuten ausgesetzt.
Für den Wirtschafts- und Politikwissenschaftler Heribert Dieter von der Stiftung Wissenschaft und Politik handelt es sich um heftige Übertreibungen der Finanzmärkte. Denn grundsätzlich habe sich die vergleichsweise gute Lage der Weltwirtschaft durch den harten Schock der Coronavirus-Pandemie nicht geändert. Durch überlegte finanzpolitische Maßnahmen könne die Politik dazu beitragen, die Krise schnell zu überwunden. Durch falsche Weichenstellunge sei aber auch das Gegenteil möglich, erläuterte Dieter, der derzeit in Hongkong an der Universität lehrt.
Wie gefährlich ist das neue Coronavirus?
Die Zahl der Infizierten mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 steigt trotz Gegenmaßnahmen vieler Regierungen weiter - auch in Deutschland. Die Weltgesundheitsorganisation spricht in zwischen von einer Pandemie.
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"Kurzfristig wird einiges noch sehr viel schlimmer"
Müller: Herr Dieter, wird alles noch schlimmer?
Dieter: Kurzfristig wird einiges noch sehr viel schlimmer. Aber aus der Perspektive eines Menschen, der in Hongkong gegenwärtig lebt, muss man sagen, es wird auch relativ rasch besser. Hongkong war ja wie andere Staaten hier in der Region noch vor einigen Wochen im Epizentrum des Corona-Bebens. Das hat sich hier schon relativ stark normalisiert. Die Restaurants sind wieder gefüllter, die Behörden haben wieder die Arbeit aufgenommen in dieser Woche. Es gibt Licht am Ende des Tunnels, aber für Europa wird der Tunnel zunächst noch sehr viel dunkler werden.
Müller: Bleiben wir noch ganz kurz bei Ihrer Erfahrung vor Ort in Hongkong. Wie hat Hongkong das geschafft, dass es besser geworden ist?
Dieter: Hongkong hat das genauso geschafft wie Taiwan und andere Staaten in der Region. Man hat - und das ist ein großer Unterschied zu Europa - die dramatische Erfahrung des SARS-Virus im Jahr 2003 gemacht und hat daraus ein verbessertes Krisenmanagement entwickelt. Menschen tragen hier Masken, überall laufen Videos, wie man sich vor Ansteckung schützt, und die Menschen nehmen das auch sehr ernst. In der U-Bahn, in Bussen ist eine Maskenquote von nahezu 100 Prozent zu beobachten.
Taiwan ist vielleicht noch besser. In Taiwan hat man, Stand heute, 47 Ansteckungsfälle. Das ist für ein Land mit 23 Millionen Einwohnern doch sehr niedrig. Taiwan hat von Anfang an, als die ersten Berichte aus Festland-China kamen, mit harten Maßnahmen reagiert, hat die Grenzen geschlossen, hat Menschen an den Flughäfen überprüft und ist damit erfolgreich gewesen. Es gibt Möglichkeiten, mit dieser Krise umzugehen und diese Krise zu bewältigen.
Europa hat Situation auf die leichte Schulter genommen
Müller: Atemschutzmasken, das ist bei uns ja sehr umstritten. Viele Mediziner und Experten sagen, bringt gar nichts, ist alles im Grunde nur Placebo-Effekt wie auch immer. Sie haben die Erfahrung vor Ort gemacht, beobachtet jedenfalls, dass das dazu beigetragen hat, das Virus oder die Verbreitung des Virus einzudämmen?
Dieter: Hier in Hongkong hat es funktioniert. Es mögen auch andere Maßnahmen gewesen sein. Die Schulen sind geschlossen, die Universitäten sind geschlossen. Aber es hat hier doch funktioniert. Wir haben heute 130 Fälle in Hongkong, davon sind 30 erkrankt eingereist, importierte Fälle, 100 Ansteckungen. Das ist nicht so schlimm. In Europa hat man das möglicherweise zu lange auf die leichte Schulter genommen, hat auch gedacht, das geht an uns vorbei. Aktuell sind die Entwicklungen in Europa ja sehr viel dramatischer als in Asien. Hier beginnt die Normalisierung. In Europa läuft die Krise auf ihren Höhepunkt erst noch zu.
Müller: Bleiben wir noch mal bei Ihrer Perspektive. Auch die Zahlen, die wir aus China bekommen haben - jüngst gestern der Besuch des Präsidenten in der Krisenregion, in der Ausbruchsregion in Wuhan - werden ja hier zumindest angezweifelt, bezweifelt, sehr kritisch beäugt. Wie stehen Sie dazu?
Dieter: Ich kann das jetzt natürlich nicht beurteilen, weil niemand gegenwärtig nach Wuhan reisen kann. Aber die chinesische Partei- und Staatsführung versucht natürlich alles, um auch mit den entsprechenden Bildern Normalität darzustellen. Es werden leere Krankenhäuser gezeigt, es wird Herr Xi gezeigt, wie er mit Menschen vor Ort spricht. Ob die Zahlen tatsächlich so positiv sind, wie sie die Staats- und Parteiführung darstellt, vermag ich nicht ganz genau zu beurteilen. Was ich aber beurteilen kann ist, dass die Produktion in China wieder anläuft – auf niedrigerem Niveau, aber bei einigen Indikatoren erreicht man schon wieder das Niveau vom frühen Januar. Es wird besser in China und es wird natürlich auch besser in Südkorea. Den Zahlen traue ich absolut. Auch in Südkorea gehen die Neuansteckungen zurück und das wirtschaftliche Leben normalisiert sich.
"Mit finanzpolitischen Maßnahmen kann man schon etwas bewirken"
Müller: Gehen wir, Herr Dieter, aus der deutschen und europäischen Perspektive tatsächlich weiter nach Westen. Europa, USA, unser Kernthema. Darüber wollten wir beide jedenfalls reden. Auswirkungen auf die Börse, auf die Weltwirtschaft, auf die Finanzmärkte. Die Ankündigung von Donald Trump, die Europäer müssen draußen bleiben, ganz konkret die Schengen-Europäer. Die Briten müssen es nicht tun, die Frage hier der politischen Implikation, aber bleiben wir erst einmal dabei. Viele haben vielleicht heute Morgen, die das in den Nachrichten zum ersten Mal gehört haben, daran gedacht: Na ja, das trifft jetzt dummerweise Touristen, die in die USA reisen wollen. Aber die Geschäftswelt ist stark betroffen, die Unternehmer sind betroffen, die Börsen sind davon betroffen. Warum ist das so gravierend?
Dieter: Das ist gravierend, weil das ein völlig überraschender Schock ist. Vor einigen wenigen Wochen noch hatten die Börsen neue Höchststände erreicht. Man ging davon aus, dass das ein asiatisches Problem sei. Jetzt trifft das Europa und Nordamerika, Nordamerika auch, und insofern drehen sich gerade die Erwartungen der Marktteilnehmer. Ich glaube nicht, dass das sehr lange anhalten wird, aber das mag eine zu optimistische Einschätzung sein. Ich glaube, dass die gegenwärtige Panik sich im zweiten Quartal dieses Jahres wieder legen wird. Natürlich wird das Effekte haben. Natürlich wird die Weltwirtschaft in diesem Jahr langsamer wachsen.
Man muss auch differenzieren, einiges kann man nachholen. Man kann mit Sonderschichten ausgefallene Produktion nachholen. Bei Dienstleistungen sieht das schon wieder anders aus, touristische Dienstleistungen etwa. Aber grundsätzlich hat sich die vergleichsweise gute Lage der Weltwirtschaft durch diesen harten Schock nicht geändert. Ich denke, dass es eine Frage ist, ob es der Politik gelingen wird, die Erwartungen der Menschen wieder zu stabilisieren und sie aus dieser Panikecke wieder herauszuholen. Das kann gelingen, aber es kann natürlich auch sein, dass wir hier in eine Krise hineinschlittern, die länger anhalten sollte, wenn die falschen Weichenstellungen getroffen werden.
Müller: Aber im Moment sagen Sie noch, aufgrund Ihrer Beobachtung, so tief sind die Gräben gar nicht, wie viele vielleicht jetzt gerade auch denken, wie viele auch interpretieren?
Dieter: Ja, das denke ich. Es ist natürlich so, dass die Märkte jetzt völlig verrücktspielen, und das ist ja keine Neuigkeit, dass Finanzmärkte gerne übertreiben, sowohl in die eine als auch in die andere Richtung. Momentan wird heftig übertrieben. Aber wenn die Politik tatsächlich stabilisierend eingreift, wenn sie weniger mit geldpolitischen Mitteln – die werden nicht wirken; die EZB hat kein Pulver mehr, die Fed hat auch nicht mehr viel Pulver im Köcher. Mit finanzpolitischen Maßnahmen kann man schon etwas bewirken. Dann könnte die Politik zur Überwindung der Krise der Erwartungen – nichts anderes ist das gegenwärtig – beitragen.
Falscher Zeitpunkt für Aktionismus
Müller: Und obwohl niemand so richtig weiß, wie es jetzt konkret weitergehen soll und wie es weitergehen wird, plädieren Sie auch für Milliardenhilfen, wenn ich Sie richtig verstanden habe, direkt für die Unternehmen?
Dieter: Ja, ich denke, dass zunächst mal eher Ruhe angebracht wäre und kein hektischer Aktionismus. Das gilt insbesondere für die Geldpolitik, sagte ich bereits, aber auch für die Finanzpolitik. Wenn sich abzeichnet – und das könnte schon im April passieren -, dass die Krise einigermaßen im Griff ist, dann könnte die Finanzpolitik einiges tun. Herr Trump mit seiner vergleichsweise ungestümen Art – der Mann ist ja auch im Wahlkampf – hat vorgeschlagen, die Einkommenssteuer für das ganze Jahr 2020 den Amerikanerinnen und Amerikanern zu erlassen. Das ist natürlich ein extremer Vorschlag, aber in diese Richtung könnte es auch gehen. Deutschland könnte da besonders viel tun und Deutschland könnte auch dafür sorgen, dass die Menschen, die dann auch einen gewissen Konsumrückstand haben, genügend Geld in der Tasche haben, um dieses Nachfrageloch, was jetzt entsteht, wieder zu schließen.
Müller: Ich muss da noch einmal nachfragen zum besseren Verständnis. Direkte Hilfen, Wirtschaft, Großunternehmen, kleine Unternehmen, mittelständische Unternehmen; sinnvoll aus Ihrer Sicht im Moment in der jetzigen Situation oder nicht?
Dieter: Mit der Gießkanne gewiss nicht und man sollte auch nicht aus dem Auge verlieren, dass beispielsweise für die Luftfahrtindustrie natürlich das Ganze sehr schwer wird. Aber es gibt da ohnehin Überkapazitäten. Wenn das eine oder andere Unternehmen da ausscheidet, dann wäre das im Grunde nicht allzu bedauerlich. Insofern ist das für Aktionismus gegenwärtig der falsche Zeitpunkt, weil wir noch nicht genau wissen, wie es weitergehen wird. Aber irgendwann wird der Punkt kommen, wo die Politik Erwartungen stabilisieren soll und kann, und dann ist es auch Zeit, über Hilfen nachzudenken, sowohl für kleine und mittlere Unternehmen als auch für meinetwegen den Finanzsektor, der ja auch zumindest in einer gewissen schwierigen, um nicht zu sagen prekären Lage ist.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.