Tobias Armbrüster: Es bleibt auch an diesem Freitagmorgen europaweit das Topthema: Der Brexit und die politische Lage in Großbritannien. Niemand weiß zurzeit, wohin das Land steuern wird und ob sich die zerstrittenen Lager im Londoner Regierungsviertel noch mal auf einen gemeinsamen Kurs einigen können. Nur so viel steht fest: Der Austrittstermin, der 29. März, der steht. Das heißt: Wenn sich bis dahin nichts bewegt, dann verlässt das Land die EU ohne Abkommen, ohne Übergangsregelung. Das wäre der sogenannte harte Brexit. Gestern hat die britische Premierministerin Theresa May noch einmal versucht, die wichtigsten Entscheider an einen Tisch zu holen, um dieses Problem abzuräumen.
Die Aussicht auf einen harten Brexit, auf einen No Deal Brexit – wir wollen darüber ausführlicher sprechen. Am Telefon ist Reiner Hoffmann, der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Schönen guten Morgen.
Reiner Hoffmann: Schönen guten Morgen, Herr Armbrüster.
Armbrüster: Herr Hoffmann, so ein harter Brexit, was würde der bedeuten für Arbeitsplätze bei uns in Deutschland?
Hoffmann: Wir müssen damit rechnen, dass der Handel erheblich ins Stottern gerät. Allein Deutschland exportiert jährlich in einem Umfang von rund 85 Milliarden. Das wird an der wirtschaftlichen Entwicklung nicht spurlos vorbeigehen. Und das Risiko, dass dadurch Arbeitsplätze gefährdet werden, ist real in Deutschland, aber insbesondere natürlich auch in Großbritannien selber.
"Schwung an Arbeitsplätzen ernsthaft gefährdet"
Armbrüster: Haben Sie das für Deutschland schon einmal durchgerechnet? In welcher Größenordnung, schätzen Sie da, sind Arbeitsplätze in Gefahr?
Hoffmann: Das ist so einfach nicht zu berechnen, weil natürlich damit zu rechnen ist, dass auch, wenn der Export nach Großbritannien einreißt, die Exportstrategie in andere Regionen verstärkt werden muss. Wir werden Übergangszeiten haben, die Unternehmen werden natürlich nicht sofort entlassen. Das wäre auch alles andere als ökonomisch vernünftig. Aber in der Mittelfrist-Strategie – ich sage noch mal: in einem Volumen von rund 80, 85 Milliarden Euro -, das kann schon einen Schwung an Arbeitsplätzen ernsthaft gefährden.
Armbrüster: Haben Sie den Eindruck, sind die deutschen Unternehmen auf so etwas, auf so ein Szenario vorbereitet?
Hoffmann: Man versucht es, so gut wie möglich sich darauf einzurichten. Aber diese Erfahrungen sind völlig neu. Eine solche Situation hat es in Europa noch nicht gegeben. Die Unternehmen müssen sich natürlich dann darauf einstellen, wie kann das kompensiert werden, was an Handel verloren geht. Einmal ist es vernünftig, wenn wir in einer solchen Situation natürlich den Binnenmarkt in Deutschland stärken, dass wir hier eine kaufkräftige Nachfrage haben, aber auch der Export in andere Regionen. Sich nun darauf im Detail vorzubereiten, ist alles andere als einfach.
Armbrüster: Wäre das Ihr Appell, dass sich die Unternehmen bei ihrer künftigen Planung mehr darauf konzentrieren, ihre Waren in Deutschland zu verkaufen, stärkere Binnennachfrage?
Hoffmann: Nein, das ist kein genereller Appell, sondern man muss sich darüber Gedanken machen, wie die Kompensation erfolgen kann. Aber es ist natürlich noch ein Stück weit komplizierter, weil das ist ja nicht nur einfach der Handel. Es ist ja nicht nur der Wert von Milliarden von Euro, die da in Frage gestellt werden, sondern dahinter stehen ja doch eng verzahnte Wertschöpfungsketten, die damit ins Stottern geraten werden. Das aufzufangen, dass ein Produkt, was in Deutschland montiert wird, ja nie zu 100 Prozent hier erstellt wird, sondern wir Zulieferungen haben von Spezialteilen aus allen Ländern der Welkt, natürlich auch aus Großbritannien, diese Wertschöpfungsketten beispielsweise im Fahrzeugbau, im Maschinenbau, in der chemischen Industrie, all diese würden unterbrochen und würden dann natürlich auch erhebliche wirtschaftliche Folgen zeitigen.
"Ganz Europa wird in Haft genommen"
Armbrüster: Kann man das denn überhaupt von einem Unternehmen erwarten, das in so einem Produktionsprozess steckt, dass es sich auf so ein Szenario vorbereitet, bei dem noch nicht mal klar ist, bei dem noch nicht mal die Wahrscheinlichkeit bekannt ist, dass dieses Szenario tatsächlich eintritt? Denn was passiert, wenn sich jetzt tatsächlich alle plötzlich innerhalb von vier Wochen einigen – kann ja durchaus sein – und es doch eine Übergangslösung geben soll? Dann wären diese ganzen Vorbereitungen umsonst!
Hoffmann: Das ist, was wir alle jetzt erleben, dass wir uns auf unterschiedliche Szenarien einstellen müssen. Da sage ich auch noch mal ganz kritisch in Richtung Großbritannien, insbesondere in Richtung der konservativen Regierung: Hier wird ganz Europa in Haft genommen für eine innerparteiliche Auseinandersetzung, eine innerparteiliche Machtauseinandersetzung, und wir, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland oder auch in Großbritannien selber und in vielen anderen europäischen Ländern, müssen hier gegebenenfalls die Rechnung zahlen. Das muss man, glaube ich, noch mal in den Vordergrund stellen. Ich wäre ja immer noch dafür, eine Strategie anzustreben, mit der es gelingt, dass wir einen Exit vom Brexit organisieren. Ich habe selber einen Aufruf unterschrieben, zusammen mit vielen Politikern, mit vielen Wirtschaftsführern, wo wir uns auch sehr stark dafür aussprechen, dass Großbritannien in der Europäischen Union verbleibt.
Wir müssen aber auch sehen, dass bei dem Referendum seinerzeit natürlich nicht nur die Frage im Vordergrund stand, treten wir aus der EU aus, sondern es waren auch massive Unzufriedenheiten der Bürgerinnen und Bürger mit der eigenen sozialen Lage im Land, die zum Teil verursacht waren natürlich auch durch eine neoliberale Politik, durch Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen im Lande, wo die Menschen die Zeche zahlen mussten und gesagt haben, so geht es nicht weiter, und zum Teil auch fälschlicherweise der Europäischen Union hier Schuldzuweisungen zugeschrieben wurden, die eins zu eins so nicht gehen. Es ist eine vielschichtige Angelegenheit. Und noch mal: Politisch müssten wir jetzt gucken, dass wir alle Möglichkeiten nutzen, entweder dass dieser Übergangsvertrag, der ja doch einige Sicherungen beinhaltet und vor allen Dingen Zeitgewinn bedeutet, bis 2020 in einer Übergangsphase zu neuen Regeln zu kommen, oder noch einmal den Exit vom Brexit, ein neues Referendum halte ich für eine durchaus plausible Perspektive. Aber das setzt natürlich auch voraus, dass die politischen Akteure in Großbritannien bereit sind, sich auf den Weg zu begeben.
Profitieren von Sozial-, Arbeits- und Umweltstandards
Armbrüster: Herr Hoffmann, einer dieser Akteure ist ja die britische Labour-Partei. Die steht traditionell den Gewerkschaften sehr nahe. Jetzt blockiert sie wie gesagt diesen Deal von Theresa May. Was sagen Sie den Genossen in Großbritannien?
Hoffmann: Ich sage den Genossen ganz deutlich, auch in Richtung Jeremy Corbyn, das ist keine Haltung. Ich fände es dringend notwendig, dass Labour ganz klar sich positioniert, und nach meiner Auffassung kann eine solche Positionierung nur in Richtung Verbleib in der Europäischen Union gehen. Wir haben ja noch gar nicht mit in den Blick genommen, nicht nur die wirtschaftlichen Folgen, sondern Großbritannien profitiert natürlich auch in einem erheblichen Umfang von europäischen Sozial-, Arbeits- und Umweltstandards. Die würden damit in Frage gestellt. Es gäbe keine rechtsverbindliche Anwendung dieser Standards mehr in Großbritannien. Die Beschäftigten würden zu deutlich schlechteren Bedingungen zukünftig arbeiten. Und wir sind der Gefahr ausgesetzt, dass es zu einem Abwärts-Dumping kommt um immer geringere Arbeits- und Sozialstandards. Das kann keine vernünftige Labour-Führung wollen und deshalb erwarte ich hier schon eine klarere Positionierung.
Armbrüster: Können Sie sich erklären, warum die Labour-Partei das nicht so sieht?
Hoffmann: Auch hier gilt, das muss man schon mit in Rechnung stellen, dass viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihre wirtschaftliche Situation betrachten, dass sie zum Teil mit erheblich prekären Arbeitsbedingungen konfrontiert sind, mit Null-Stunden-Arbeitsverträgen - das ist bei uns in Deutschland gar nicht vorstellbar – und dass in einer solchen prekären Situation zum Teil die Schuld der EU zugewiesen wird. Ich finde, zu Unrecht. Hier ist eine klare deutliche proeuropäische Positionierung notwendig. Man sieht da leider auch, dass in der Labour Party es unterschiedliche Positionen gibt. Ich will nicht so weit gehen zu sagen, die sind gespalten, aber sie können sich zurzeit nicht durchringen, einen klar proeuropäischen Kurs anzustreben, Aufklärung zu betreiben sowohl in Richtung der Vorteile der EU, aber ich sage auch ganz kritisch in Richtung EU. Es kann nicht so weitergehen wie bisher. Natürlich haben wir auch erheblichen Reformbedarf innerhalb der Europäischen Union. Dieses zu signalisieren, wäre auch eine klare Botschaft an die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu sagen, Europa ist uns zu wichtig, als dass wir es scheitern lassen dürfen.
Armbrüster: Ganz kurz noch zum Schluss, Herr Hoffmann. Sind Sie da eigentlich in Kontakt mit der Labour-Partei? Oder richten Sie solche Appelle nur per Interview an die Kollegen in Großbritannien?
Hoffmann: Nein, nein! Wir sind natürlich im konkreten Kontakt mit der Labour-Partei, mit meiner Amtsschwester, wenn Sie so wollen, Frances O’Grady. Das ist die Vorsitzende des britischen Gewerkschaftsbundes, der Partnerorganisation des DGB. Wir sind in einem engen Kontakt. Wir arbeiten eng zusammen im Europäischen Gewerkschaftsbund. Und auch hier weiß ich aus vielen Gesprächen mit Frances O’Grady, dass sie sich über die negativen Folgen Gedanken macht, gerade wenn hier die Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards Europas in Großbritannien auf dem Spiel stehen, dass das negative Auswirkungen hat für die Beschäftigten in Großbritannien und auch negative Auswirkungen haben kann für uns hier in Deutschland und in Europa. Deshalb haben wir ein gemeinsames Interesse, doch noch zu einer politisch haltbaren, vernünftigen Lösung zu kommen.
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