Jasper Barenberg: Der Befund klingt alarmierend. Die Zahl der Menschen, die in Deutschland von Niedriglöhnen leben müssen, steigt rapide. Das geht aus einer Studie hervor, die vom Institut für Arbeit und Qualifikation an der Universität Essen-Duisburg erstellt worden ist. Demnach sind es fast acht Millionen Beschäftigte, die mittlerweile als Billiglöhner ihr Dasein fristen – ihr Durchschnittslohn etwas mehr als 6,50 Euro die Stunde.
Mitgehört hat Professor Josef Wieland, der Direktor des Konstanz Institut für Wertemanagement an der Hochschule Konstanz. Schönen guten Tag.
Josef Wieland: Guten Tag.
Barenberg: Herr Wieland, heute also die Information darüber, dass ein Viertel der Erwerbstätigen, 25 Prozent also, in Deutschland von Niedriglöhnen leben müssen und für Niedriglöhne arbeiten, und gestern haben wir ja erfahren, dass die Vorstände der DAX-Unternehmen ihre Vergütungen in den letzten beiden Jahren um 33 Prozent gesteigert haben, steigern konnten. Wenn Sie das beides nebeneinanderlegen, wie lautet dann Ihr Urteil?
Wieland: Na gut, diese Dinge muss man natürlich im Kontext sehen. Aber ich glaube, dass es besser ist, diese Fragen separat zu diskutieren. Was die Studie angeht, die Sie angeführt haben, die zeigt ja, dass die Agenda 2010 nur zu einem Teil erfüllt ist, nämlich was den Forderungsanteil angeht, aber nicht den Förderungsanteil. Das Thema, das Sie ansprechen mit den Manager-Gehältern, zeigt, dass es offenbar in Deutschland eine Diskussion gibt, eine ethische Diskussion über Verteilungsgerechtigkeit, das heißt ob die Einkommen richtig verteilt sind.
Das zweite aber – und das ist ja in der Studie heute herausgekommen -, wir haben mittlerweile auch eine Armutsdiskussion, eine Diskussion, ob Menschen überhaupt noch ihre Bedürfnisse erfüllen können. Beides zusammen genommen führt meiner Meinung nach dazu, dass es zumindest, sagen wir mal, eine Vertrauenskrise in das System der sozialen Marktwirtschaft gibt, die wir ja auch in allen Umfragen bestätigt bekommen.
Barenberg: Sie haben vorhin gesagt, man sollte das beides separat diskutieren. Ich will es trotzdem noch einmal in einen Zusammenhang bringen, weil ich das Gefühl habe, dass immer mehr Leute das für eine große Gerechtigkeitsfrage halten beziehungsweise für eine große Gerechtigkeitslücke. Ist es denn eine reine Neiddebatte, oder ist es eine legitime Debatte, das beides nebeneinanderzuhalten?
Wieland: Ich glaube nicht, dass es eine reine Neiddiskussion ist, obwohl die Gefahr immer besteht, sondern es ist eine legitime Diskussion. Es gibt ein Versprechen, das sich mit der Marktwirtschaft verbindet. Dieses Versprechen lautet, dass wachsender Wohlstand, dass Wachstum früher oder später alle gesellschaftlichen Schichten erreichen wird – mit zunehmendem Wachstum. Ökonomen nennen das den Trickle-Down-Effekt. Wir beobachten sowohl in Entwicklungsländern als auch jetzt hier in Deutschland, dass das offensichtlich so einfach nicht ist, und das führt dazu, dass diese Frage der Verteilungsgerechtigkeit völlig zurecht gestellt wird. Diese Separierung bezieht sich darauf, dass die Lösungen, glaube ich, unterschiedlich sein müssen.
Barenberg: Und welche unterschiedlichen Lösungen schweben Ihnen vor für die beiden Bereiche?
Wieland: Ich glaube, dass im Hinblick auf dieses Thema des Niedriglohnsektors es einer allgemeinen Regelung eines Mindestlohnes bedarf, der bestimmte und genau definierte Ausstiegsoptionen haben sollte, und zwar, glaube ich, nicht einfach nur für Branchen, sondern auch zum Beispiel mit Blick auf West- und Ostdeutschland. Das ist sehr wichtig. Aber ich glaube, nur so kann das Menschenrecht – und das gibt es ja: ist der Artikel 23 der Menschenrechtskonvention, Recht auf angemessene Entlohnung – tatsächlich auch in Deutschland umgesetzt werden.
Barenberg: Verzeihung, wenn ich da gerade einhaken darf. Sie wissen ja um die Diskussion, dass das massenhaft Arbeitsplätze vernichten könnte. Sie sind aber gleichwohl aus ethischer Perspektive und auch aus rationaler Perspektive überzeugt, wenn man es schlau anstellt, dass man dann eine Mindestlohnregelung für einen einheitlichen Mindestlohn finden könnte, der eben vermeidet, dass es solche prekären Situationen gibt?
Wieland: Ja! Das war ja genau der Vorschlag. Ich glaube, wir brauchen allgemeine Regeln, weil das tatsächlich dem Anspruch gerecht wird, diese Regelung für alle Menschen in diesem Land zu haben. Aber wir brauchen genau definierte Ausstiegsoptionen, die eine Anpassung unter bestimmten Bedingungen vor Ort, zum Beispiel wenn es um solche Fragen des Arbeitsplatzerhalts geht, möglich machen, die dann lokal ausgehandelt werden können. Wenn die Unterschiede zu groß sind, kann man dennoch allgemeine Regeln haben, um ein Signal zu senden, alle sind an Bord. Man muss aber eben dann auch eine Möglichkeit haben, das anzupassen. Ich glaube, das ist besser als die Diskussion, die wir im Moment führen, sollen wir Branchen-, oder sollen wir lieber allgemeine Löhne haben, Mindestlöhne haben.
Barenberg: Zum Schluss, Herr Wieland: Sehen Sie Anzeichen, Indizien dafür, dass es zu diesen Entscheidungen kommen wird?
Wieland: Ich denke, dass es dazu kommen wird, zumal ja auch in dem Bereich der gesellschaftlichen Verantwortung der Unternehmen dieses Thema der Menschenrechte und einer angemessenen Bezahlung, von der man leben kann, ein Schwerpunktthema sein wird in den nächsten ein, zwei Jahren. Das wird auch ein Schwerpunktthema auf der Nachhaltigkeitsagenda in der Rio+20-Bewegung sein. Ich glaube, dieses Thema wird ganz zentral im Vordergrund stehen und wird gestützt vor allen Dingen – und das sollten vor allen Dingen die Befürworter der Marktwirtschaft nicht aus dem Auge verlieren – von einer seit Jahren anhaltenden Erosion der Zustimmung und der Akzeptanz der Sozialen Marktwirtschaft.
Barenberg: Josef Wieland, der Direktor des Konstanz Institut für Wertemanagement an der Hochschule Konstanz. Danke für das Gespräch heute Mittag.
Wieland: Sehr gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Anmerkung
Professor Josef Wieland ist auch Direktor des Zentrums für Wirtschaftsethik (ZfW), dem wissenschaftlichen Institut Deutschen Netzwerks Wirtschaftsethik - EBEN Deutschland e.V. (DNWE)
Mitgehört hat Professor Josef Wieland, der Direktor des Konstanz Institut für Wertemanagement an der Hochschule Konstanz. Schönen guten Tag.
Josef Wieland: Guten Tag.
Barenberg: Herr Wieland, heute also die Information darüber, dass ein Viertel der Erwerbstätigen, 25 Prozent also, in Deutschland von Niedriglöhnen leben müssen und für Niedriglöhne arbeiten, und gestern haben wir ja erfahren, dass die Vorstände der DAX-Unternehmen ihre Vergütungen in den letzten beiden Jahren um 33 Prozent gesteigert haben, steigern konnten. Wenn Sie das beides nebeneinanderlegen, wie lautet dann Ihr Urteil?
Wieland: Na gut, diese Dinge muss man natürlich im Kontext sehen. Aber ich glaube, dass es besser ist, diese Fragen separat zu diskutieren. Was die Studie angeht, die Sie angeführt haben, die zeigt ja, dass die Agenda 2010 nur zu einem Teil erfüllt ist, nämlich was den Forderungsanteil angeht, aber nicht den Förderungsanteil. Das Thema, das Sie ansprechen mit den Manager-Gehältern, zeigt, dass es offenbar in Deutschland eine Diskussion gibt, eine ethische Diskussion über Verteilungsgerechtigkeit, das heißt ob die Einkommen richtig verteilt sind.
Das zweite aber – und das ist ja in der Studie heute herausgekommen -, wir haben mittlerweile auch eine Armutsdiskussion, eine Diskussion, ob Menschen überhaupt noch ihre Bedürfnisse erfüllen können. Beides zusammen genommen führt meiner Meinung nach dazu, dass es zumindest, sagen wir mal, eine Vertrauenskrise in das System der sozialen Marktwirtschaft gibt, die wir ja auch in allen Umfragen bestätigt bekommen.
Barenberg: Sie haben vorhin gesagt, man sollte das beides separat diskutieren. Ich will es trotzdem noch einmal in einen Zusammenhang bringen, weil ich das Gefühl habe, dass immer mehr Leute das für eine große Gerechtigkeitsfrage halten beziehungsweise für eine große Gerechtigkeitslücke. Ist es denn eine reine Neiddebatte, oder ist es eine legitime Debatte, das beides nebeneinanderzuhalten?
Wieland: Ich glaube nicht, dass es eine reine Neiddiskussion ist, obwohl die Gefahr immer besteht, sondern es ist eine legitime Diskussion. Es gibt ein Versprechen, das sich mit der Marktwirtschaft verbindet. Dieses Versprechen lautet, dass wachsender Wohlstand, dass Wachstum früher oder später alle gesellschaftlichen Schichten erreichen wird – mit zunehmendem Wachstum. Ökonomen nennen das den Trickle-Down-Effekt. Wir beobachten sowohl in Entwicklungsländern als auch jetzt hier in Deutschland, dass das offensichtlich so einfach nicht ist, und das führt dazu, dass diese Frage der Verteilungsgerechtigkeit völlig zurecht gestellt wird. Diese Separierung bezieht sich darauf, dass die Lösungen, glaube ich, unterschiedlich sein müssen.
Barenberg: Und welche unterschiedlichen Lösungen schweben Ihnen vor für die beiden Bereiche?
Wieland: Ich glaube, dass im Hinblick auf dieses Thema des Niedriglohnsektors es einer allgemeinen Regelung eines Mindestlohnes bedarf, der bestimmte und genau definierte Ausstiegsoptionen haben sollte, und zwar, glaube ich, nicht einfach nur für Branchen, sondern auch zum Beispiel mit Blick auf West- und Ostdeutschland. Das ist sehr wichtig. Aber ich glaube, nur so kann das Menschenrecht – und das gibt es ja: ist der Artikel 23 der Menschenrechtskonvention, Recht auf angemessene Entlohnung – tatsächlich auch in Deutschland umgesetzt werden.
Barenberg: Verzeihung, wenn ich da gerade einhaken darf. Sie wissen ja um die Diskussion, dass das massenhaft Arbeitsplätze vernichten könnte. Sie sind aber gleichwohl aus ethischer Perspektive und auch aus rationaler Perspektive überzeugt, wenn man es schlau anstellt, dass man dann eine Mindestlohnregelung für einen einheitlichen Mindestlohn finden könnte, der eben vermeidet, dass es solche prekären Situationen gibt?
Wieland: Ja! Das war ja genau der Vorschlag. Ich glaube, wir brauchen allgemeine Regeln, weil das tatsächlich dem Anspruch gerecht wird, diese Regelung für alle Menschen in diesem Land zu haben. Aber wir brauchen genau definierte Ausstiegsoptionen, die eine Anpassung unter bestimmten Bedingungen vor Ort, zum Beispiel wenn es um solche Fragen des Arbeitsplatzerhalts geht, möglich machen, die dann lokal ausgehandelt werden können. Wenn die Unterschiede zu groß sind, kann man dennoch allgemeine Regeln haben, um ein Signal zu senden, alle sind an Bord. Man muss aber eben dann auch eine Möglichkeit haben, das anzupassen. Ich glaube, das ist besser als die Diskussion, die wir im Moment führen, sollen wir Branchen-, oder sollen wir lieber allgemeine Löhne haben, Mindestlöhne haben.
Barenberg: Zum Schluss, Herr Wieland: Sehen Sie Anzeichen, Indizien dafür, dass es zu diesen Entscheidungen kommen wird?
Wieland: Ich denke, dass es dazu kommen wird, zumal ja auch in dem Bereich der gesellschaftlichen Verantwortung der Unternehmen dieses Thema der Menschenrechte und einer angemessenen Bezahlung, von der man leben kann, ein Schwerpunktthema sein wird in den nächsten ein, zwei Jahren. Das wird auch ein Schwerpunktthema auf der Nachhaltigkeitsagenda in der Rio+20-Bewegung sein. Ich glaube, dieses Thema wird ganz zentral im Vordergrund stehen und wird gestützt vor allen Dingen – und das sollten vor allen Dingen die Befürworter der Marktwirtschaft nicht aus dem Auge verlieren – von einer seit Jahren anhaltenden Erosion der Zustimmung und der Akzeptanz der Sozialen Marktwirtschaft.
Barenberg: Josef Wieland, der Direktor des Konstanz Institut für Wertemanagement an der Hochschule Konstanz. Danke für das Gespräch heute Mittag.
Wieland: Sehr gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Anmerkung
Professor Josef Wieland ist auch Direktor des Zentrums für Wirtschaftsethik (ZfW), dem wissenschaftlichen Institut Deutschen Netzwerks Wirtschaftsethik - EBEN Deutschland e.V. (DNWE)