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Wirtschaftsethiker über Diesel-Skandal
Kumpanei zwischen Politik und Wirtschaft

Eine zu enge Verflechtung von Politik und Wirtschaft sei dem Ziel geschuldet, im globalen Wettbewerb zu bestehen, sagte der Wirtschaftsethiker Ulrich Thielemann im Dlf. Darum werde die Automobilindustrie auch so außerordentlich hofiert. Eine Diskussion über den Sinn des "unbegrenzten Wettbewerbs" sei aber tabuisiert.

Ulrich Thielemann im Gespräch mit Peter Kapern |
    Der Direktor der Berliner Denkfabrik für Wirtschaftsethik, Ulrich Thielemann, im schwarzen Anzug, weißem Hemd und schwarzer Brille, Porträt, in die Kamera blickend
    Der Direktor der Berliner Denkfabrik für Wirtschaftsethik, Ulrich Thielemann (dpa/picture alliance/Horst Galuschka)
    Peter Kapern: War es denn nun ein Skandal oder war es lediglich Wahlkampfgetöse? Am vergangenen Wochenende sorgten Berichte für heiße Diskussionen, Berichte darüber, dass der Ministerpräsident von Niedersachsen Stephan Weil eine Rede, die er im Landtag gehalten hat, vorab bei VW zur Überarbeitung vorgelegt hatte. Von der Opposition gab es Rücktrittsforderungen, Weil hingegen sagte, sein Vorgehen sei völlig normal, schließlich habe er den Text nur mit den Rechtspositionen des juristisch attackierten VW-Konzerns abgleichen wollen. Wer auch immer da recht hat, der Vorgang deutet auf das spezielle Verhältnis zwischen der niedersächsischen Regierung und dem VW-Konzern hin – und möglicherweise sogar auf ein sehr spezielles, ein typisches Verhältnis zwischen dem Staat und der Wirtschaft in Deutschland insgesamt. Gibt es da zu viel Kumpanei, eine zu große Nähe? Am Telefon bei uns ist Ulrich Thielemann, Direktor der Denkfabrik MeM für Wirtschaftsethik, MeM steht für "menschliche Marktwirtschaft" – guten Morgen, Herr Thielemann!
    Ulrich Thielemann: Guten Morgen, Herr Kapern!
    Kapern: Also, ist das normal, dass sich ein Regierungschef ein Redemanuskript in einer Konzernzentrale überarbeiten lässt?
    Thielemann: Natürlich ist das nicht normal und es sollte auf keinen Fall normal sein. Aber ich glaube, im Falle Weils wird da etwas zu heiß gekocht. Ich glaube tatsächlich, er musste das in dieser eigenartigen Konstellation tun, um ganz sicherzugehen, um nicht noch größeren Schaden vom Unternehmen abzuwenden, überprüft das doch mal. Und er hat ja die Kritik auch gar nicht zurückgenommen. Also, wer da gesagt haben soll, das Papier, die Rede sei weichgespült worden, der hat offenbar nicht gesehen, was da passiert ist. Das ist natürlich ein heikler Vorgang, aber insgesamt, würde ich sagen, da gibt es ganz andere Fälle. Da gibt es ganz andere Fälle, die haben ein ganz anderes Kaliber. Nämlich 2015, als es darum ging, die Real Driving Emissions einzuführen, hat sich die gesamte politische Landschaft Deutschlands gegen die EU-Kommission gestemmt, und zwar auf Geheiß von BMW. Das ist eine ganz andere Dimension, das ist Korrumpierung der Politik, da hat sie sich korrumpieren lassen.
    "Oberstes Ziel: Stärkung der globalen Wettbewerbsfähigkeit"
    Kapern: Jetzt würde ich ja gerne herausfinden, ob diesen beiden Fällen – einem weniger schlimmen, wie Sie sagen, und einem überaus schlimmen – eine gemeinsame Struktur zugrunde liegt, nämlich dass die Politik gewissermaßen Diener der Wirtschaft ist in erster Linie in Deutschland mittlerweile. Ist das so?
    Thielemann: Das ist ganz genau so, das ist die marktkonforme Demokratie, die wir haben und die Angela Merkel, wann war das, vor einiger Zeit erklärt hat. Das ist schon länger so. Und das hängt vor allem aus meiner Sicht, unter anderem vielleicht oder vor allem damit zusammen, dass Deutschland … nicht nur Deutschland, die gesamte EU sieht das so, jedes Land beinah dieser Welt sieht das so … Der oberste Zielwert ist die Stärkung der sogenannten Wettbewerbsfähigkeit, der globalen Wettbewerbsfähigkeit. Weil man die Kaufkraft nicht mehr im Inland findet, weil die Löhne ja sinken oder nicht genügend steigen, versucht man, sie im Ausland abzuschöpfen und dort sozusagen die Arbeitslosigkeit hinzuexportieren. Und dem Ziel ist alles unterzuordnen, das ist die offizielle Doktrin deutscher Politik. Und das erklärt ja auch, dass die Automobilindustrie so außerordentlich hofiert wurde und man an den Lippen hing: Was wollt ihr denn von uns, damit das Exportvolumen noch weiter steigt? Also, 18 Prozent des Außenhandelsbilanzüberschusses Deutschlands, der gigantisch ist, ist auf die Automobilindustrie zurückzuführen. Und das ist der tiefere Grund dieser Kumpanei.
    Kapern: Aber dass da eine Regierung sozusagen versucht, der Industrie den Weg in größere Umsätze zu bahnen, das mag es ja auch in anderen Ländern geben, da bin ich ganz sicher. Trotzdem gibt es ja immer noch spezielle Komponenten in Deutschland wie beispielsweise – und damit noch mal zurück zu VW – dieses VW-Gesetz, das dem Land Niedersachsen 20 Prozent der Anteile sichert, aber darüber hinaus ein Vetorecht über dieses doch nicht so sehr große Aktienpaket hinaus. Das ist doch sehr speziell, dass da eine Regierung sich selbst ein Gesetz schreibt, dass sie diesen Einfluss auf ein Unternehmen sichert?
    "Wer steuert wen?"
    Thielemann: Ja, das hat ja historische Gründe, das liegt lange zurück, das war aus einer Zeit, da sprach man vom rheinischen Kapitalismus. Der hatte auch enge Verknüpfung zwischen Politik und Wirtschaft, aber da hatte die Politik das Sagen. Und das ist ja auch der Sinn dieses Gesetzes. Das heißt, wenn ich einfach nur nachbete, was das Unternehmen sagt, dann wird das auch überflüssig eigentlich, dieser Aufsichtsratssitz und das spezielle Gesetz, sondern da sollte ja die Politik auch aktiv steuern, das Unternehmen also mitsteuern und Momente da einbringen, sodass eben die Entwicklung dem Wohle des Landes dient und auch dem übergreifenden Wohl vielleicht dient. Das ist natürlich was ganz anderes als diese Kumpanei, das ist das genaue Gegenteil eigentlich.
    Kapern: Und heute lässt sich dann einfach gar nicht mehr feststellen, wer da wen steuert?
    Thielemann: Ja, nein, es lässt sich doch feststellen, wer da wen steuert. Die Wirtschaft, ja, wer ist das überhaupt, kann man mal fragen übrigens? Ich lasse das mal dahingestellt. Steuert die Politik? Die lässt sich ja steuern. Die bayrische Staatskanzlei hat einen Staatssekretär, BMW ausgeliehen, und zwar ausdrücklich dafür, damit er Wirtschaftskompetenz sich aneignet. Und dann kommt dieser Staatssekretär zurück in die Staatskanzlei und ist natürlich offen für die Anliegen von BMW. Und als dann eingeführt werden sollte, jetzt soll endlich mal auf der Straße getestet werden, hat BMW die bayrische Staatskanzlei, und die Staatskanzlei wiederum mit diesem Staatssekretär die Bundesregierung angewiesen, kann man ja beinahe sagen, das doch bitte zu lassen, sodass die Fahrzeuge weiterhin den Schmutz ausstoßen.
    Kapern: Aber Herr Thielemann, jetzt könnte man ja auch hingehen und sagen: Eigentlich ist das doch gut so, wie es ist, denn das sichert unseren Wohlstand. Das sorgt dafür, dass wir uns Häuser bauen können, dass wir in den Urlaub fahren können und dass es uns besser geht als den meisten anderen Menschen auf der Welt.
    Thielemann: Genau, da sind wir nämlich bei dem eigentlichen Problem angelangt. Das eigentliche Problem liegt nicht nur in Deutschland, das eigentliche Problem liegt im globalen Wettbewerb. Die Frage ist, ob dieser globale Wettbewerb einfach immer so weitergeht, und da gibt es Gewinnerländer und Verliererländer, Griechenland ist natürlich ein klassisches Verliererland derzeit. Soll das immer so weitergehen? Es ist natürlich auch das Problem, auf das ja keynesianisch geprägte Volkswirte hinweisen, dass das dazu führt, dass das Ausland sich gegenüber Deutschland verschuldet und diese Schulden nicht mehr leisten kann irgendwann mal. Die Frage ist letztlich, ob dieser globale Wettbewerb unbegrenzt weitergeht, diese Verhaltensabkommen, die ja da in petto sind, sollen wir das noch weiter festzurren? Oder ob da ein gewisser Einhalt geboten wird? Das ist aber heute tabuisiert, diese Diskussion. Ich glaube, sie sollte nicht tabuisiert werden.
    Wird die Stamokap-Theorie Realität?
    Kapern: Das heißt aber, die Politik müsste eigentlich gegen den deutschen Wohlstand arbeiten?
    Thielemann: Was heißt gegen den deutschen Wohlstand? Ich meine, dieser Wohlstand … Wessen Wohlstand denn eigentlich? Ich meine, wir haben natürlich überall, aber auch gerade in Deutschland massive Einkommens- und vor allen Dingen ja Vermögensdisparitäten. Es ist ja nicht einfach der Wohlstand Deutschlands. Man sollte überhaupt nicht sprechen von dem Interesse eines Landes. Von wem denn in diesem Land? Ich meine, diese Exporthybris, davon profitiert ja vor allen Dingen das deutsche Exportkapital. Und schon auch die Stammbelegschaften, das muss man ganz klar sagen. Aber nicht diejenigen, die nicht in der Stammbelegschaft sind, das sind dann die Leiharbeiter, die ja auch in diesen Unternehmen arbeiten.
    Kapern: Ein Kollege von der "Berliner Zeitung", Herr Thielemann, hat diese Woche in einem Kommentar die Frage aufgeworfen, ob wir nicht gerade Zeugen werden, wie die in den 1970er-Jahren so heiß diskutierte Stamokap-Theorie doch noch Realität wird. Nur zur Erläuterung für diejenigen, die damals nicht mitdiskutiert haben: Nach der Stamokap-Theorie führt die Konkurrenz der Konzerne zu immer größerer Konzentration und schließlich zu einer solchen Machtfülle aufseiten der Unternehmensgiganten, dass die sich den Staat zum Diener machen. Also, was erleben wir da gerade? Die Stamokap-Theorie wird Realität?
    Thielemann: Ja, ich finde die Stamokap-Theorie teilweise zumindest überhaupt nicht plausibel, denn wir leben nicht in Zeiten eines verringerten Wettbewerbs, sondern eines Hyperwettbewerbs, und dem unterliegen … Der wird natürlich ausgeübt von einigen besonders Starken und dem unterliegen alle. Aber dass sich die Unternehmen mit ihren Interessen dem Staat bedienen, ja, das ist offenkundig. Das sagt ja auch die Politik, das sagt sie offen, indem sie sagt: Alles geht um die Wettbewerbsfähigkeit und das bedeutet, dass wir hören, welche Interessen haben die Unternehmen, und wir erfüllen die!
    Zunehmende Ökonomisierung der Lebensverhältnisse
    Kapern: Besteht denn überhaupt noch die Möglichkeit, dass sich die Politik oder der Staat wieder von der Wirtschaft emanzipiert?
    Thielemann: Ja, das ist eine Frage. Man könnte sagen: Geht das autonom innerhalb eines Landes? Ich glaube, Deutschland hätte keine großen Probleme, stärker auf den Binnenmarkt zu setzen und weniger Kaufkraft aus dem Ausland abzuschöpfen. Aber letztlich ist es eine Frage, ob der globale Wettbewerb eben so weitergeht. Und das wiederum ist eine Frage, ob wir eine ökonomische Kompetenz dafür haben, wie es denn gemäßigter ablaufen könnte. Und da brauchen wir andere Volkswirtschaftslehre.
    Kapern: Und zwar welche?
    Thielemann: Ja, eine Volkswirtschaftslehre, die eben den freien, auch die Schattenseiten des globalen Wettbewerbs sieht. Der führt nämlich offenkundig zu einer immer weitergehenden Polarisierung der Einkommen und Vermögen, und zwar weltweit, und er führt zur Ökonomisierung der Lebensverhältnisse, indem wir uns alle abstrampeln und abstrampeln müssen immer mehr, uns sozusagen als Lebensunternehmer durch die Welt schlagen und sozusagen das Ideal verfolgen, was die ökonomische Theorie schon lange verfolgt. Und das ist sozusagen ein untergründiges politisches Programm und es geht ja letztlich nur darum: Es ist eine Frage der Gradualität: Soll das unbegrenzt weitergehen? Und wo geht das eigentlich hin dann? Noch weiter Polarisierung, noch weiter Ökonomisierung der Lebensverhältnisse? Oder wird dem Einhalt geboten? Das ist die Frage, vor der wir menschheitsgeschichtlich stehen.
    Kapern: Ulrich Thielemann, der Direktor der Denkfabrik MeM für Wirtschaftsethik heute früh im Deutschlandfunk. Herr Thielemann, danke, dass Sie Zeit für uns hatten! Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag und ich sage auf Wiederhören!
    Thielemann: Wiederhören!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.