Stefan Heinlein: Trotz der weiter offenen Regierungsbildung in Berlin nimmt sich die Kanzlerin heute Zeit für Davos – ein Zeichen, welche Bedeutung dieses noble Klassentreffen für die Spitzenpolitiker nach wie vor hat. In rund zwei Stunden wird Angela Merkel auf der großen Bühne des Weltwirtschaftsforums zu den Teilnehmern sprechen. Ihr folgt dann am Abend Emmanuel Macron. Ein deutsch-französischer Tag heute in Davos. Doch der eigentliche Höhepunkt folgt erst Ende der Woche. Dann wird Donald Trump das erste Mal persönlich seine Visitenkarte auf dem Weltwirtschaftsforum abgeben. Den Ton für seine Rede hat der US-Präsident bereits im Vorfeld klargemacht.
Mitgehört hat der Wirtschaftswissenschaftler Heiner Flassbeck, lange Jahre Staatssekretär im Bundesfinanzministerium. Guten Tag, Herr Flassbeck.
Heiner Flassbeck: Guten Tag.
Heinlein: Sie kennen Davos aus eigener Erfahrung. Sie waren viele Male mit dabei in den Schweizer Alpen. Welchen Stellenwert hat Davos im internationalen Konferenzkalender?
Flassbeck: Na ja. So viele Male war ich nicht dabei. Ich war dabei, aber nicht so viele Male.
Der Stellenwert? - Sehen Sie, man darf das nicht überschätzen. Es wird grandios überschätzt, die Möglichkeit oder die Fähigkeit der Politiker dort, sich wirklich miteinander auseinanderzusetzen oder mit der Wirtschaft auseinanderzusetzen.
In Wirklichkeit ist es so: Man fährt hin, gibt seine Rede, macht vielleicht noch ein Abendessen und dann ist gut. Dass das weiterführend wäre als wirkliche internationale Verhandlungen wie etwa im Rahmen der G20 oder so, das darf man einfach nicht glauben. Das ist eine grandiose Illusion. Das ist ein gesellschaftlicher Event und die politischen Folgen dieses Events – das haben wir über viele Jahre jetzt beobachten können – sind ungeheuer gering.
"Es ist eine Show-Veranstaltung"
Heinlein: Ein gesellschaftliches Event? Nur eine Show-Veranstaltung für schöne Bilder?
Flassbeck: Ja, so ist es. Um ganz klar zu sagen: Es ist eine Show-Veranstaltung. Auch die Forderungen, die da gestellt werden, werden nie weiterverfolgt. Es gibt kein follow-up, wie man im Englischen sagt. Es gibt kein follow-up von Davos, sondern es gibt einmal die schönen Bilder, einmal die schönen Forderungen, und dann verpufft das alles bis zum nächsten Jahr, bis man wieder den Eindruck erweckt, die Mächtigen der Welt kümmern sich um euch kleine Leute und wir denken auch darüber nach, wir gehen extra in einen so schrecklichen Ort wie Davos, um das zu tun.
Heinlein: Warum sind Sie dann damals hingefahren?
Flassbeck: Weil man als Staatssekretär hinfahren muss. Man hat kaum eine Möglichkeit. Entweder der Minister fährt, oder der Staatssekretär fährt. Und wenn man nicht fährt – und das war ja eine neue Regierung damals 1999 -, dann würde man ja den Eindruck erwecken, dass man da etwas zu verbergen hat. Es ging ja darum, für unsere Position zu werben.
"Es ist viel steriler, als man sich das vorstellt"
Heinlein: Abseits der großen Bühne in Davos gibt es – Sie wissen es besser, Herr Flassbeck – viele Workshops und Podiumsdiskussionen. Ist das nicht auch schon ein Wert an sich, dass man sich persönlich kennen lernt, Gedanken austauscht und nicht nur am Telefon oder über andere Medien kommuniziert? Das kennt man ja auch aus dem persönlich beruflich-privaten Umfeld.
Flassbeck: Ja. Es ist schon wichtig, dass man sich trifft. Aber es ist viel steriler, als man sich das vorstellt. Selbst wenn da ein Workshop stattfindet – da sitzen drei Leute auf einem Podium und geben ihre Statements ab und diskutieren vielleicht noch zehn Minuten miteinander, und dann ist es auch wieder vorbei. Dann dürfen noch drei aus dem Publikum eine Frage stellen und dann ist es auch wieder gut.
Das wird grandios überschätzt. Auch in politischen Verhandlungen, wenn ich das mal dazu sagen darf, wird viel weniger diskutiert und sich ernsthaft unterhalten, als die Menschen glauben. Die meisten Politiker kommen in eine internationale Verhandlung, auch in eine politische internationale Verhandlung, um es mal brutal zu sagen: Die lesen ihren Zettel vor und dann lesen die anderen ihren Zettel vor, und wenn sie alle ihre Zettel vorgelesen haben, fahren sie nachhause.
Flassbeck: Die eigentliche Arbeit im Vorfeld haben dann Staatssekretäre und andere Sherpas gemacht?
Flassbeck: Andere haben darüber diskutiert, aber die haben auch meistens nur darüber diskutiert, was in den Zetteln stehen soll, damit es keinen Konflikt oder sonst was gibt. Ernsthafte sachliche Auseinandersetzung findet praktisch nicht statt.
"Davos ist eine Beruhigungsveranstaltung"
Heinlein: Wer schreibt diese Zettel?
Flassbeck: Die Beamten in den Ministerien. Die schreiben die Zettel und die schreiben die Zettel immer so, wie sie sie schon immer geschrieben haben. Auch da findet ja keine Befruchtung von außen statt oder keine große Diskussion, sondern das ist alles ein großer Tanker, der sich immer so vorwärts bewegt. Aber den wirklich umzusteuern, ist ungeheuer schwer.
Heinlein: Der eigentliche Gedanke von Davos, wenn wir zurück zu den Anfängen gehen, 1971 – der Gründer war Klaus Schwab, ein deutscher Professor -, war ja, den Zustand der Welt zu verbessern. Davon ist nicht mehr viel übrig geblieben?
Flassbeck: Nein, da ist nichts übrig geblieben. Heute ist Davos wirklich eine – ich sage es noch mal relativ brutal – Beruhigungsveranstaltung. Man erweckt den Eindruck, die Großen der Welt machen sich Gedanken, auch über progressive Themen wie die Ungleichheit. Aber was wird jetzt aus der Ungleichheitsdiagnose von Herrn Schwab folgen? – Nichts, nichts, absolut nichts.
"Papiere, die da kursieren, gehen alle irgendwo unter"
Das ist das, was man eigentlich beklagen muss über Davos, dass es so eine Show-Veranstaltung ist und nicht wirklich hinterher in der Politik etwas davon umgesetzt wird. Auch die Papiere, die da kursieren und geschrieben werden, die gehen alle irgendwo unter. Ich habe noch nie erlebt, dass ein Davos-Papier oder ein World Economic Forum Papier irgendwo eine politische Rolle gespielt hat.
Heinlein: Sie haben den Bericht des Kollegen Martin Ganslmeier aus Washington im Vorfeld gehört. Da hat er geredet vom Mekka der Globalisierung. Davos wäre das Mekka der Globalisierung, ein Treffen der Freihandelselite. Sind tatsächlich diese Globalisierungsbefürworter, diese Freihändler unter sich?
Flassbeck: Na ja, zum großen Teil natürlich. Die Einladungen laufen sicher so, dass diejenigen, die das positiv sehen, in der Mehrzahl jedenfalls eingeladen werden. Aber Herr Schwab ist auch klug genug, um immer mal wieder Kritiker einzuladen, so dass man ihm nicht vorwerfen kann, er bediene nur eine Position. Aber wie gesagt: Freihandel ist ja auch etwas Schwieriges.
Das könnte man ja diskutieren. Man könnte ernsthaft diskutieren, was ist eigentlich Freihandel, gibt es überhaupt Freihandel auf dieser Welt. Auch aus Deutschland müsste man das diskutieren mit dem riesigen deutschen Leistungsbilanzüberschuss. Das ist ja auch kein Freihandel. Das ist ja auch etwas anderes. Das ist eher Merkantilismus, das Gegenteil von Freihandel. Aber auch das wird nicht diskutiert, weder in Deutschland, noch in Davos, noch in den G20 – ernsthaft jedenfalls.
"Wer Überschüsse mit Zähnen und Klauen verteidigt wie Deutschland, ist kein Freihändler"
Heinlein: Ist es vor dem Hintergrund dieses Zustands, den Sie gerade beschreiben, vielleicht sogar ganz erfrischend, dass in dieses Mekka der Globalisierung dann ein Protektionist wie Donald Trump kommt?
Flassbeck: Ja! Aber sehen Sie, sie verwenden auch die Worte so einfach: Protektionist. Wenn jemand keine Leistungsbilanzdefizite haben will – und darum geht es in den USA -, ist er noch kein Protektionist, sondern dann ist er vielleicht der wahre Freihändler. Derjenige, der seine Überschüsse mit Zähnen und Klauen verteidigt wie Deutschland, ist kein Freihändler, sondern ist ein Merkantilist, auch ein Protektionist, ein Protektionist seiner eigenen Interessen. Das ist auch kein Freihandel.
Nur darüber müssten wir uns auseinandersetzen, aber das tun wir nicht. Wir verteilen dann wieder so einfache Wertungen, der Protektionist, der Böse, der den Handel einschränken will. Aber das ist leider auch nicht die Wahrheit und man müsste eigentlich viel tiefer gehen. Nur es wird kein Forum geboten, wo wenigstens die Öffentlichkeit oder die interessierten Menschen mal sehen können, was eigentlich dahinter steht.
Heinlein: Ich habe das jetzt nicht ganz verstanden, Herr Flassbeck. Schutzzölle auf Waschmaschinen und Solaranlagen, wie Donald Trump es jetzt ankündigt, ist das prinzipiell der richtige oder der falsche Weg für fairen Handel?
Flassbeck: Nein, das ist erlaubt. Das ist im Rahmen der Welthandelsorganisation absolut erlaubt. Wenn ein Land ein fundamentales Ungleichgewicht hat, dann kann es etwas dagegen tun, und das ist noch nicht Protektionismus. Und wie gesagt, wenn ein anderes Land wie Deutschland einen riesigen Überschuss hat, den größten der Welt hat – Deutschland hat den größten Leistungsbilanzüberschuss der Welt -, und andere Länder sich dagegen wehren, dann ist das überhaupt kein Protektionismus, sondern das ist absolut im Rahmen der Freihandelsregulierung, wie sie in der Welthandelsorganisation niedergeschrieben ist. Das ist erlaubt! Das sind Schutzmaßnahmen gegen aggressive Exporteure.
Deutschland - ein wirtschaftlicher Aggressor
Heinlein: Ist Donald Trump prinzipiell mit seiner Wirtschaftspolitik auf dem richtigen Weg?
Flassbeck: Nein, prinzipiell mit seiner Wirtschaftspolitik nicht. Aber im Handel hat er einen Punkt, den man nicht einfach bei Seite schieben kann. Sonst ist die Wirtschaftspolitik wie der Rest auch von Donald Trump nicht sehr rational. Aber im Bereich Handel kann man nicht einfach sagen, er ist der Protektionist und die anderen sind die guten Freihändler. Das stimmt so nicht.
Heinlein: Wenn wir jetzt bei den Schlagworten bleiben. Nach Ihrem Eindruck, Herr Flassbeck, wie heftig tobt denn auf der internationalen Ebene der Kampf zwischen Protektionismus und den Befürwortern des freien Handels? Emmanuel Macron, der französische Präsident, wird dazu heute in Davos ja eine Rede halten.
Flassbeck: Macron wird sicher wieder sehr vorsichtig sein und Deutschland nicht kritisieren, obwohl er das sicher im Hinterkopf hat. Die EU-Kommission hat gerade ein Papier geschrieben für den nächsten EU-Gipfel, wo ganz klar drinsteht, die Überschussländer müssen etwas tun, weil es so nicht funktionieren kann. Die hat jetzt nicht geschrieben, Deutschland ist ein Merkantilist, was aber stimmt, aber sie hat ganz klar Deutschland kritisiert.
Die Überschussländer werden klar kritisiert und da stehen natürlich auch in gewisser Weise die Franzosen dahinter und Macron dahinter. Macron ist zu diplomatisch, um das jetzt auf offener Bühne zu sagen, aber machen wir uns nichts vor: In Frankreich und in Italien, Italien noch viel mehr als in Frankreich, wird Deutschland wegen seiner Überschüsse nicht als Freihändler bejubelt, sondern als ein wirtschaftlicher Aggressor.
Heinlein: Im Deutschlandfunk heute Mittag der Wirtschaftsexperte und ehemalige Staatssekretär Heiner Flassbeck. Herr Flassbeck, ich danke für das Gespräch und auf Wiederhören.
Flassbeck: Gerne! – Auf Wiederhören.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.