Beatrix Novy: Neue Moden wurden immer auch inspiriert von neuen Erfahrungen, in anderen Ländern oder durch Menschen aus anderen Ländern. Auch Mode ist so gesehen ein Stück Migrationsgeschichte. Und es hat sich herumgesprochen, dass Menschen immer schon aus- und eingewandert sind und Gesellschaften ohne Migration praktisch gar nicht vorkommen. Das deutsche Auswandererhaus in Bremerhaven erinnert mit seiner Existenz daran, an diese Tatsache und speziell an die vielen Deutschen, die von hieraus aufs Schiff gingen, um in Amerika ein besseres Los zu suchen. Das Museum untersucht jetzt zwei besonders sichtbare Migrationsbewegungen in der Geschichte. Es geht einmal um die türkischen Gastarbeiter, die seit den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts in die Bundesrepublik kamen. Und um deutsche Auswanderer, die Anfang des 18. Jahrhunderts nach London kamen. Und nach ihnen habe ich zunächst die Museumsdirektorin Simone Eick gefragt, denn diese Deutschen waren doch als Arbeitskräfte damals aktiv angeworben worden.
Simone Eick: Ja, den ganzen Sommer über natürlich, wie wahrscheinlich viele in Deutschland, und es ist so: Die Deutschen, die dort im Sommer 1709 innerhalb von drei Monaten in London sich versammelt haben, die hatten ein Buch dabei. Das haben sie genannt "Das goldene Buch" und darin war ihnen angeblich versprochen worden, dass Queen Anne ihnen Land in Amerika schenkt. Dieses Buch wurde von den Deutschen hochgehalten und es wurden angeblich auch Porträts hochgehalten von Queen Anne. Und da ist natürlich die Verbindung zu den Bildern, wo syrische Bürgerkriegsflüchtlinge Bilder von Angela Merkel hochhalten, das sind ja Parallelen. Das war wirklich atemberaubend zum Teil, was wir da entdeckt haben.
Novy: ... und auch von dem Haus und dem Job sprechen, das ihnen versprochen sein soll. - Wer hat denn damals diese Versprechungen gemacht? Waren das die Schleuser des 18. Jahrhunderts?
Eick: Es waren, wenn man das so will, britische Propagandaschriften, die dazu geführt haben, denn schon seit den 1680er-Jahren wurden immer wieder von Großgrundbesitzern aus Nordamerika, also Briten, die haben Schriften verteilt in Deutschland, um Kolonisten anzuwerben für ihre eigenen Ländereien.
Novy: Das war ja auch üblich damals. Ansiedlungspolitik im 18. Jahrhundert ist ja überhaupt nichts Ungewöhnliches. Aber diese Deutschen waren doch enttäuscht?
Eick: Ja, die waren schwer enttäuscht, denn dieses goldene Buch hatte tatsächlich sehr konkret gesagt, was sie machen sollen: Sie sollen um Land bitten. Diese vielen Vielleichts und Wenn und Könnte, die da auch in dem Buch standen, die haben nicht alle so wahrgenommen. Das Buch wurde natürlich nicht von allen 13.000 gelesen, so viele lasen damals ja gar nicht Bücher, sondern von Mund zu Mund-Propaganda wurden diese Informationen weitergegeben. Und da ist natürlich einiges auf dem Weg verloren gegangen. Und die Enttäuschung war einfach, dass die Briten ihnen nicht sofort Schiffe zur Verfügung gestellt haben, sie nicht sofort nach Nordamerika gebracht haben. Im Gegenteil: Sie mussten in Zeltlagern im Süden von London erst mal draußen auf dem Feld im Zelt übernachten. Die Londoner kamen vorbei und haben sie betrachtet, als seien sie irgendwie so Tiere im Zoo. Und zum Teil auch bespuckt und beschimpft. Und es war dann so, dass sie wirklich Monate warten mussten, bis sie ein Ergebnis bekommen haben, und dann auch nur 3000 von diesen 13.000 überhaupt nach Nordamerika durften.
Novy: Und es ging auch nicht unbedingt um eigenes Land, sondern um Arbeit bei anderen.
Eick: Genau. Die Briten haben dann gesagt, es sind so und so viele Kosten entstanden durch die vielen Transporte, einmal von Rotterdam nach London, von London nach New York, durch die Verpflegung, durch die Zelte und so weiter, dass die Deutschen doch erst mal die Schulden abarbeiten sollten für drei Jahre, die sie angehäuft hatten. Sie sollten Teer gewinnen und Pech herstellen für die britische Marine. Und dieses Projekt ist nach zwei Jahren dann auch gescheitert, weil diese Weinbauern, Handwerker und so, die waren überhaupt nicht in der Lage, das Projekt so schnell umzusetzen, dieses Marine-Bedarfsprojekt, wie es immer genannt wurde. Und dann standen sie dort und waren ganz auf sich alleingestellt.
Novy: Das ist die eine Geschichte, die Ihre Ausstellung erzählt. In der anderen geht es um die türkischen Gastarbeiter damals, die seit den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts in die Bundesrepublik gekommen sind. Was verbindet diese beiden Gruppen denn für Sie?
Eick: Die Verbindung ist für uns: Diese Themen, wie viele Menschen kann ein Land aufnehmen, die sogenannten Aufnahmekapazitäten, Integrationsaufgaben, das sind zwei sehr konkrete Beispiele, wo darüber heftig diskutiert worden ist, sowohl in London 1709 als auch in den 1970er-Jahren in der Bundesrepublik. Denn mit dem Familiennachzug ab '73 sind ja immer mehr Türkeistämmige nach Deutschland gekommen. Sie waren immer präsenter im Stadtbild, die Kinder sind in die Schulen gegangen. Und es begann eine Integrationsdebatte, die wir bis heute führen. Und da gibt es einfach die Parallele, dass immer wieder gesellschaftliche Debatten und Diskurse geführt werden in der Migrationsgeschichte. Wir wollten zwei sehr verschiedene historische Beispiele nehmen, um auch zu zeigen, wie die sogenannte Aufnahmegesellschaft denn dann in den folgenden Jahren damit umgeht.
Novy: Dank an Simone Eick, Direktorin des Auswandererhauses in Bremerhaven. Die Ausstellung dort heißt "Plötzlich da".
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Ausstellungsinfos:
"Plötzlich da. Deutsche Bittsteller 1709, türkische Nachbarn 1961"
im Auswandererhaus Bremerhaven
7. Dezember 2015 - 31. Mai 2016
"Plötzlich da. Deutsche Bittsteller 1709, türkische Nachbarn 1961"
im Auswandererhaus Bremerhaven
7. Dezember 2015 - 31. Mai 2016