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Wirtschaftswissenschaftler Hickel
"Hartz IV hat beim Fördern völlig versagt"

Bei den Hartz-Reformen habe es Fehlentwicklungen gegeben, meint der Ökonom Rudolf Hickel. Gerade die Integration von Langzeitarbeitslosen sei nicht gelungen, sagte er im Dlf. Bei der SPD sieht er eine Sperre, das Thema anzugehen. Die Partei müsse sich von der Vorstellung freischaufeln, Hartz IV sei "die Glückseligkeit" für Deutschland gewesen.

Rudolf Hickel im Gespräch mit Jörg Münchenberg |
    Ein unbekannter Street-Art-Künstler hat auf einer Mauer an einem besetzten Haus in Berlin im Bezirk Mitte dieses Bild geschaffen, das seine Meinung zu den Hartz IV Gesetzen drastisch wiedergibt, aufgenommen am 17.05.2014.
    Ein unbekannter Street-Art-Künstler hat auf einer Mauer an einem besetzten Haus in Berlin im Bezirk Mitte dieses Bild geschaffen, das seine Meinung zu den Hartz IV Gesetzen drastisch wiedergibt, aufgenommen am 17.05.2014. (picture alliance / Wolfram Steinberg)
    Jörg Münchenberg: Es war der Berliner Bürgermeister, der mit einem konkreten Vorschlag die Debatte um die Zukunft von Hartz IV befeuert hat. Michael Müller hatte für die Einführung eines sogenannten "Solidarischen Grundeinkommens" plädiert, wonach bestimmte Langzeitarbeitslose im Monat 1200 Euro erhalten sollten, sofern sie zu einer gemeinnützigen sozialversicherungspflichtigen Arbeit bereit seien. Das wäre dann deutlich mehr als unter der jetzigen Hartz-IV-Regelung und damit faktisch wohl auch ein Systemwechsel. Doch den werde es nicht geben, stellte jetzt Finanzminister Olaf Scholz klar. Zugehört hat der Bremer Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hickel. Herr Hickel, ich grüße Sie!
    Rudolf Hickel: Guten Tag, Herr Münchenberg.
    Münchenberg: Herr Hickel, Olaf Scholz hat jetzt indirekt ein Machtwort gesprochen. Ist der Leidensdruck bei der SPD am Ende dann doch nicht so groß, dass die Sozialdemokraten jetzt an Hartz IV festhalten werden?
    Hickel: Ich glaube, dass die SPD selber zurecht auch gespalten ist. Das "Machtwort", das Olaf Scholz gesprochen hat, geht in die ganz falsche Richtung. Wir brauchen dringend eine Debatte, und zwar auf der Basis der Fehlentwicklungen beziehungsweise nicht erfüllten Entwicklungen, die sich mit dem vierten Gesetz für modernen Dienstleistungsarbeitsmarkt ergeben haben. Das ist die Hartz-IV-Regelung. Wir wissen zwei Dinge ganz genau. Es ist nicht gelungen mit Hartz IV, vor allem diejenigen, die Arbeitslosengeld II beziehen, sie in den ersten Arbeitsmarkt richtig reinzubekommen. Die Langzeitarbeitslosigkeit ist vergleichsweise hoch. Und das Zweite, was aber ganz entscheidend ist, und das macht ja die Debatte aus, dass wir in der Zwischenzeit, wenn man überlegt, wenn wir 1,16 Millionen Menschen haben, die Erwerbsarbeit nachgehen unterhalb der Hartz-IV-Regelung, also Hartz IV brauchen, dann zeigt sich, dass diese "Arbeitsmarktreform" auch - ich sage es mal so deutlich - missbraucht worden ist zur Lohnsenkung. Der Arbeitsmarkt ist gespalten, der Niedriglohnsektor hat massiv zugenommen, und da muss gegengesteuert werden. Deshalb finde ich die Debatte unglaublich wichtig.
    "Die SPD muss sich freischaufeln"
    Münchenberg: Herr Hickel, wir gehen gleich noch mal auf die Details ein. Ich würde ganz gerne noch mal kurz bei der SPD bleiben. Manche Kritiker sagen ja bei der ganzen Diskussion, der SPD gehe es vor allen Dingen um sich selbst, weil sie immer noch unter Hartz IV leidet. Sehen Sie das auch so?
    Hickel: Ja, das sehe ich genauso. Die SPD hat eine richtige Sperre, und ich kann das sagen, weil ich mit vielen namhaften Vertretern der SPD darüber diskutiere. Es gab ja schon eine Korrektur, die die SPD massiv vorangetrieben hat, und zwar im richtigen Sinne. Man hat ja auf die Fehlentwicklung von Hartz IV, auf die Absenkung von existenzsichernden Löhnen, die Mindestlöhne eingeführt. Die Mindestlöhne sind die beste Antwort oder die klarste Erklärung dafür, dass Hartz IV schiefgelaufen ist. Ich habe das Gefühl, man kann es fast nur psychologisch an den großen Namen festmachen. Mir hat selbst mal ein namhafter SPD-Mann gesagt, wir können Hartz IV gar nicht revidieren, weil ja dann Müntefering, Schröder und viele mehr beleidigt sind. Die SPD muss sich jetzt endlich mal freischaufeln von der Vorstellung, Hartz IV war die Glückseligkeit für Deutschland. Da hat es Fehlentwicklungen gegeben. Die deutlich zu formulieren, da sind wir jetzt mitten drin, und Heil und viele andere tun es auch. Olaf Scholz gehört - ich sage es mal so deutlich - zu der Fraktion, die offensichtlich keine, nicht die Kraft haben, Konsequenzen zu ziehen aus den Fehlentwicklungen, die man auch in gewisser Weise mit Hartz IV angerichtet hat.
    Der Bremer Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hickel.
    Der Bremer Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hickel (Imago / Ulli Winkler)
    Münchenberg: Herr Hickel, es gibt jetzt den Vorschlag eines solidarischen Grundeinkommens. Da geht es um 1200 Euro, die Langzeitarbeitslose erhalten sollen. Eine zentrale Frage ist aber unbeantwortet: Wer soll das bezahlen, weil das wäre deutlich mehr als unser Hartz IV, und woher sollen diese ganzen Jobs kommen?
    Hickel: Das Entscheidende ist natürlich, dass Michael Müller mit seinem Vorschlag des solidarischen Grundeinkommens im Grunde genommen auf eine Gruppe abzielt - und da hat er ja völlig recht -, eine Gruppe, die einfach nicht vermittelbar ist. Es ist einfach eine Ideologie, das ist ja auch gesagt worden in dem vorangestellten Beitrag von einigen Vertretern der CDU, zu sagen, ja, die müssen in den ersten Arbeitsmarkt integriert werden. Nun haben wir ja ganz viel Zeit gehabt, um zu sehen, dass sie nicht integriert werden, und hier setzt Michael Müller mit seiner Idee an.
    "Die Jobs sind da, die Nachfrage ist da"
    Münchenberg: Aber werden da nicht dann wieder künstliche Jobs nur geschaffen, die dann nur scheinbar einen Job darstellen, aber letztlich keiner sind?
    Hickel: Ja. Das ist aber genau das Problem. Ich sehe das anders, und zwar im Mittelpunkt steht ja die klare Tatsache, dass die Jobs gebraucht werden. Da ist die Rede von Schulhausmeistern, da ist die Rede von Bus- und Bahnbegleitern, da ist die Rede von Nachmittagsbetreuung. Entscheidend ist ein ganz anderer Fehler: Die Jobs sind da, die Nachfrage ist da und die würde sehr, sehr schnell auch zur Verbesserung der Menschen, die diese Arbeit machen, führen, aber auch insgesamt zur sozialen Lage. Die Nachfrage ist da nach solchen Jobs. Aber das ist die Krux an dem müllerschen Vorschlag. Eigentlich müsste das ordentlich finanziert werden über die öffentlichen Haushalte. Und dann sagt er: Nein, wir schieben dazwischen den öffentlichen Beschäftigungssektor. Das ist eine alte Idee und als ersten Schritt finde ich das völlig richtig, endlich mal zuzugeben, dass Hartz IV in der Idee des Förderns für den ersten Arbeitsmarkt völlig versagt hat. Und dann ist gut an der Idee, wenn ich das noch kurz sagen darf, auch, dass es sozialversicherungspflichtige Jobs sind. Und gegenüber dem bedingungslosen Grundeinkommen finde ich den Vorschlag auch deshalb gut, weil hier deutlich gemacht wird, dass Arbeit, Erwerbsarbeit zur Verfügung gestellt wird, die von den Menschen auch gebraucht wird.
    Durch Sparpolitik fehlen im öffentlichen Sektor viele Jobs
    Münchenberg: Aber ein Gegenargument lautet ja auch, oder eine Besorgnis auf jeden Fall bei dieser ganzen Debatte um die Integrierung von Langzeitarbeitslosen in den Arbeitsmarkt, dass dann auch reguläre Jobs verdrängt werden.
    Hickel: Ja das ist, glaube ich, immer die Gefahr gewesen. Das ist klar. Aber diese Gefahr sehe ich nicht, weil im öffentlichen Dienst und gerade im öffentlichen Sektor durch die Sparpolitik, Einsparpolitik der letzten Jahre ja richtig viele Jobs fehlen. Und wichtig ist, das würde ich auch zur Regel machen: Die Jobs, die da besetzt werden, die beschrieben worden sind, berechnet wurden vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung für Berlin, das müssen Jobs sein, die einen Zusätzlichkeitseffekt haben. Aber Sie müssen auch eins ausschließen, und darum geht es Müller und darum geht es mir in der Kritik auch dieser ganzen Hartz-IV-Entwicklung: Dieser unsinnige Satz, den damals Wolfgang Clement formuliert hat, lautet doch, Arbeit ist besser als Arbeitslosigkeit. Damit ist Arbeit eingeführt worden, die nicht mehr existenzsichernd ist. Sondern es muss heißen, gute Arbeit ist besser als Arbeitslosigkeit, und dazu gehört dieser Vorschlag, weil ja die Gefahr auch besteht, dass viele Jobs geschaffen worden sind von der Wirtschaft, nicht von allen, aber von einigen geschaffen worden sind, die bewusst den Druck der Arbeitslosigkeit im Arbeitslosengeld II ausgenutzt haben und schlechter bezahlt haben. Wenn wir heute eine wachsende Zahl von Beschäftigungsverhältnissen haben, die nicht mehr existenzsichernd sind, dann ist das eine Fehlentwicklung. Dazu brauchen wir dringend die Debatte und die SPD mit vielen klugen Köpfen führt die Debatte in die richtige Richtung.
    Münchenberg: Herr Hickel, der Arbeitsminister, Hubertus Heil, wird am Mittag vor die Presse treten. Er will seinen Vorschlag vielleicht etwas präzisieren, den er gemacht hat. Er hat schon in einem Zeitungsbeitrag gesagt, die Beratung und die Begleitung der Langzeitarbeitslosen müssten dringend verbessert werden. Bringt das was?
    Hickel: In der Tat brauchen wir hier eine Verbesserung und ich sage ja, der Vorschlag, den Müller gemacht hat mit seinem solidarischen Grundeinkommen, geht in die richtige Richtung. Die Bundesregierung hat ja auch ein Programm in ihrem Koalitionsvertrag.
    "Die Hartz-IV-Sätze sind zu niedrig"
    Münchenberg: Genau. Im Koalitionsvertrag steht das auch drin.
    Hickel: Aber das geht etwas in die andere Richtung, und zwar ich sage auch genau, in welche Richtung. Da wird wieder die Illusion geweckt, dass man 150.000 Arbeitsplätze in der Wirtschaft schafft und dass die Wirtschaft dann die Arbeitsplätze subventioniert bekommt. Damit ist aber die doppelte Gefahr, dass die Wirtschaft weniger prüft, inwieweit auch Löhne angehoben werden können und bessere Bezahlung durchgesetzt wird. Und auf der anderen Seite ist das eine Art von subventionierter Lohnpolitik und die geht mir meines Erachtens in die falsche Richtung.
    Wenn ich das noch sagen darf? Es gibt eine ganz klare andere Antwort. Das Allerwichtigste, was ja auch öffentlich diskutiert wird: Die Hartz-IV-Sätze, die wir haben, jetzt im Normalfall 416 Euro für Alleinstehende beziehungsweise eine alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern 1672, sind einfach zu niedrig, um damit leben zu können. Das heißt, man muss beides tun. Man muss fragen, kann man in den Hartz-Sätzen etwas besser existenzsichernd wirken, und zweitens – und das ist die wichtige Herausforderung und da freue ich mich auch, dass wir das in der Republik diskutieren -, nämlich wirklich mal ernsthaft zu fragen, wenn man Menschen aus verschiedensten Gründen nicht mehr in den ersten Arbeitsmarkt integriert bekommt - nicht weil sie keine Lust haben, sondern weil es einfach aus bestimmten qualifikatorischen Bedingungen nicht geht-, dass man dann dazwischen auch Möglichkeiten der Beschäftigung schafft, vor allem aber Beschäftigung, die dringend gebraucht wird. Das ist die Idee.
    Münchenberg: … sagt der Bremer Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hickel. Herr Hickel, besten Dank für das Gespräch heute Mittag.
    Hickel: Ich danke Ihnen auch, Herr Münchenberg.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.