Wissenschaft als Übung, das ist Sloterdijks Idee, die er in dem schmalen Bändchen "Scheintod im Denken" auf eine sich philosophiegeschichtlich weit verzweigende Art und Weise entfaltet. Zugrunde liegt dem Essay eine Vorlesung, die er im Rahmen der "Unseld lectures” in Tübingen gehalten hat. Erst einmal ist man erstaunt über die Verwendung des Begriffs "Scheintod" innerhalb der Philosophie.
"Ich beschäftige mich mit der Selbsterzeugung des desinteressierten Menschen ... Es wird zu zeigen sein, warum die Vorstellung, wonach der denkende Mensch eine Art Toter auf Urlaub sein müsse, von der alteuropäischen Rationalitätskultur unabtrennbar ist ...”
Der Denker zieht sich also bei der Theoriebildung ein Stück weit aus dem Leben zurück. Darin folgt er den Idealen einer allgemeinen Wahrheit und einer reinen Theorie. Die Entwicklung, die Potenziale und die Grenzen einer solchen Philosophie versucht Sloterdijk aufzuzeigen.
Als Ausgangspunkt wählt er den Begriff der Übung und des Übungsverhaltens, dem auch schon seine vorausgegangene Studie "Du musst dein Leben ändern" gewidmet war. Die Haltung des Theoretikers, der sich von der Welt zurückzieht, um überindividuelle Wahrheiten herauszufinden und eine überzeitliche Theorie zu formulieren, eine solche Haltung ist immer schon eine übende: Der Theoretiker praktiziert Strenge-Exerzitien. Sloterdijks Grundidee ist:
"Wir können gar nicht anders, als uns übend zu verhalten und auf diese Weise auf uns selbst einzuwirken und uns höher zu entwickeln: Jeder Schritt bestimmt die folgenden Ausführungen mit."
Die Wissenschaft habe dies weitgehend vergessen und kümmere sich nur um die Systematisierung von Wissen.
Die Formulierung "Du musst dein Leben ändern" und der damit verbundene Aspekt des Übens tauchen bei Sloterdijk zum ersten Mal in einer Vignette über den Philosophen Johann Gottlieb Fichte auf. Bei ihm hieß "Du musst dein Leben ändern”:
"Denken im Zeichen der modernen Freiheitsidee und darauf verzichten, sich selbst und sein Handeln allein auf Lebensumstände zurückzuführen.
In der Person Fichtes, in seiner Philosophie, die vom Pathos einer "Erweckung des ganzen Menschen” erfüllt ist, fand Sloterdijk einen guten Ausgangspunkt für die Forderung nach der Arbeit an sich selbst. Der Leser, der sich mit dieser Idee weiter vertraut machen möchte, kann jetzt auch auf den Band "Philosophische Temperamente" zurückgreifen. Es handelt sich dabei um Porträts von Platon, Aristoteles, Descartes und Leibniz, von Kant, Fichte und Schelling, Nietzsche, Sartre, Foucault und einigen anderen Philosophen. Diese ursprünglich als Einführungen in Lesebücher konzipierten Texte vermitteln einen atmosphärischen und denkgeschichtlich präzisen Eindruck von der umwälzenden, tief erneuernden Kraft, die diesen Philosophien innewohnt.
Sloterdijk ringt in diesem Band und in dem Essay "Scheintod im Denken" um Bestimmungen der Philosophie, wie sie von diesen über sich selbst hinauswachsenden Denkern in einem geradezu mönchischen, eremitischen Abstand zur Welt versucht wurden.
"Als Borderliner des Seins hat es der Philosoph nie mit weniger zu tun als mit dem Block der Welt im Ganzen, auch wenn er nur über die korrekte Verwendung eines Wortes in einem Satz nachdenkt."
Sloterdijk unternimmt philosophische Spaziergänge in großer Höhe: vorangetrieben von Nietzsches "Aufreizung zu göttlicher Individualisierung”, von den Exerzitien Foucaults oder Wittgensteins, Fichtes "epochalem Selbstbewußtsein” und Hegels Denken "im Modus der Vollendung” oder von Schellings "dämonisch anmutender Selbstsicherheit” und den "Ur-Übungen der Strenge”, wie sie Edmund Husserl in die Philosophie eingebracht hat. Die Strenge-Exerzitien des Phänomenologen Edmund Husserl - bekannt geworden unter dem Titel epoché oder "Einklammerung” beziehungsweise "Ausschaltung” der natürlichen Einstellung zur Welt - sind ein zentraler Ausgangspunkt von Sloterdijks Überlegungen.
"Husserl zeigt uns Theorie als einen Kampf um die Gewinnung eines Bereichs theoretischer Reinheit und einer außer-existentialen Neutralität."
Der Idee des Theoretikers als eines Scheintoten begegnen wir bereits bei Sokrates: Der wahre Liebhaber der Weisheit müsse schon, so seine Vorstellung, bei Lebzeiten "so tot wie möglich” sein, um die "jenseitigen Wahrheiten wie von Angesicht zu Angesicht zu schauen”. In Sokrates' Hinweisen zur Selbsterschaffung eines reinen Intellekts und zum Zustand eines der Erkenntnis zuträglichen Beinahe-Todes ist der Aspekt des Übens, um den es Sloterdijk geht, unverkennbar.
Die Grundfrage, von der er sich in allen Überlegungen zum homo theoreticus und dessen Rückzug von der Welt und von Ich-verhafteten Neigungen, Interessen und Vorlieben ins innere Vorstellungs- und Gedankenlabor leiten lässt, richtet sich auf die Herkunft und die Bedingungen der alteuropäischen Theoriekultur: Zu der spezifischen Herausbildung dieser Haltung konnte es nur kommen, weil in der Gesellschaft eine Umstimmung erfolgt war:
"... die Umstimmung der Lebensgefühle vom unerbittlichen Optimismus der homerischen Ära, der bis in die perikleische Zeit nachhallte, zu einer milden Welt- und Lebensverneinung im Platonismus. ... Das theoretische Leben ist ein Spaltprodukt, das beim Zerfall der Polis freigesetzt wird."
Die epoché-Fähigkeit der Griechen wird von Sloterdijk unter vier Aspekten rekonstruiert; zuerst dem psychopolitischen: Die Politik war nicht mehr das höchste Bedürfnis des bürgerlichen Geistes und wurde kreativ in ein Modell des Wissens gewendet. Dann die psychische Disposition des Einzelnen als eines Theoretikers. Sie gründet auf dem Glauben, dass der Melancholiker, als ein objektlos Trauernder, besonders prädestiniert für den Typus des Denkers ist. Der soziologische Blick auf den epoché-fähigen Menschen offenbart die zentrale Bedeutung des Erziehungssystems, als einer Verankerung von Distanz, Haltungsdressur und Stillhalteübungen. Und schließlich kommt noch die Verschriftlichung hinzu.
"... die Welt selbst wird in dieser Schriftkulturzone nach Buchstabe, Silbe, Zeile, Seite, Absatz und Kapitel formatiert. ... Der homo theoreticus ist ein Erntearbeiter 'im Weinberg der Schrift' ..."
Sloterdijks Interesse richtet sich auf die Erlangung eines höherwertigen Sehvermögens in der Philosophie und der philosophischen Literatur. Hier ist es Paul Valéry, dessen berühmte Kunstfigur Monsieur Teste ein von jeder weltverbundenen Vitalität gereinigtes Leben vorführt:
"... ein logischer Athlet und Werkstattleiter an einem virtuellen Bauhaus der Ideen. In diesem logischen Dummy verschmelzen der Intellektuelle, der Scheintote, der Athlet und der Engel miteinander und bringen das Monstrum eines Möglichkeitsmenschen hervor."
Der Möglichkeitsmensch, der die enge Verbundenheit mit dem profanen Leben aufgelöst hat, taucht ein in ein Reich des Unwahrscheinlichen. Was kann man vom Leben mehr erwarten als dies! Wäre da nicht der unauflösbare Bezug des Subjekts zur Welt kraft des Begehrens und des Interesses.
"Das Interesse liquidierte die reine Theorie und nötigte das Wissen zum Wiedereintritt in die Szenerie des stellungnehmenden Lebens."
Weitere "Attentate” gegen die vermeintlich reine Theorie folgten: sei es unter der Formel von der Macht des Realen und der Gesellschaft, des parteinehmenden oder engagierten Denkens, von der existenziellen und ethischen Verankerung des Denkens, ganz abgesehen von den neuen Disziplinen der Wissenssoziologie, der Diskurstheorie, der Ethnopsychoanalyse und der Neurowissenschaften, und nicht zuletzt des Feminismus. Die Gender-Forschung hat gezeigt, dass die Theoretiker zumeist mehr oder weniger selbstverständlich davon ausgingen, dass das Männliche der Inbegriff des Menschlichen ist.
Peter Sloterdijk: Scheintod im Denken. Von Philosophie und Wissenschaft als Übung.
edition unseld im Suhrkamp Verlag, Berlin 2010, 147 Seiten, Euro 10,00
Philosophische Temperamente. Von Platon bis Foucault.
Diederichs Verlag München 2010, 144 Seiten, 14,95 Euro. Auch als Hörbuch erhältlich, 17,95 Euro
"Ich beschäftige mich mit der Selbsterzeugung des desinteressierten Menschen ... Es wird zu zeigen sein, warum die Vorstellung, wonach der denkende Mensch eine Art Toter auf Urlaub sein müsse, von der alteuropäischen Rationalitätskultur unabtrennbar ist ...”
Der Denker zieht sich also bei der Theoriebildung ein Stück weit aus dem Leben zurück. Darin folgt er den Idealen einer allgemeinen Wahrheit und einer reinen Theorie. Die Entwicklung, die Potenziale und die Grenzen einer solchen Philosophie versucht Sloterdijk aufzuzeigen.
Als Ausgangspunkt wählt er den Begriff der Übung und des Übungsverhaltens, dem auch schon seine vorausgegangene Studie "Du musst dein Leben ändern" gewidmet war. Die Haltung des Theoretikers, der sich von der Welt zurückzieht, um überindividuelle Wahrheiten herauszufinden und eine überzeitliche Theorie zu formulieren, eine solche Haltung ist immer schon eine übende: Der Theoretiker praktiziert Strenge-Exerzitien. Sloterdijks Grundidee ist:
"Wir können gar nicht anders, als uns übend zu verhalten und auf diese Weise auf uns selbst einzuwirken und uns höher zu entwickeln: Jeder Schritt bestimmt die folgenden Ausführungen mit."
Die Wissenschaft habe dies weitgehend vergessen und kümmere sich nur um die Systematisierung von Wissen.
Die Formulierung "Du musst dein Leben ändern" und der damit verbundene Aspekt des Übens tauchen bei Sloterdijk zum ersten Mal in einer Vignette über den Philosophen Johann Gottlieb Fichte auf. Bei ihm hieß "Du musst dein Leben ändern”:
"Denken im Zeichen der modernen Freiheitsidee und darauf verzichten, sich selbst und sein Handeln allein auf Lebensumstände zurückzuführen.
In der Person Fichtes, in seiner Philosophie, die vom Pathos einer "Erweckung des ganzen Menschen” erfüllt ist, fand Sloterdijk einen guten Ausgangspunkt für die Forderung nach der Arbeit an sich selbst. Der Leser, der sich mit dieser Idee weiter vertraut machen möchte, kann jetzt auch auf den Band "Philosophische Temperamente" zurückgreifen. Es handelt sich dabei um Porträts von Platon, Aristoteles, Descartes und Leibniz, von Kant, Fichte und Schelling, Nietzsche, Sartre, Foucault und einigen anderen Philosophen. Diese ursprünglich als Einführungen in Lesebücher konzipierten Texte vermitteln einen atmosphärischen und denkgeschichtlich präzisen Eindruck von der umwälzenden, tief erneuernden Kraft, die diesen Philosophien innewohnt.
Sloterdijk ringt in diesem Band und in dem Essay "Scheintod im Denken" um Bestimmungen der Philosophie, wie sie von diesen über sich selbst hinauswachsenden Denkern in einem geradezu mönchischen, eremitischen Abstand zur Welt versucht wurden.
"Als Borderliner des Seins hat es der Philosoph nie mit weniger zu tun als mit dem Block der Welt im Ganzen, auch wenn er nur über die korrekte Verwendung eines Wortes in einem Satz nachdenkt."
Sloterdijk unternimmt philosophische Spaziergänge in großer Höhe: vorangetrieben von Nietzsches "Aufreizung zu göttlicher Individualisierung”, von den Exerzitien Foucaults oder Wittgensteins, Fichtes "epochalem Selbstbewußtsein” und Hegels Denken "im Modus der Vollendung” oder von Schellings "dämonisch anmutender Selbstsicherheit” und den "Ur-Übungen der Strenge”, wie sie Edmund Husserl in die Philosophie eingebracht hat. Die Strenge-Exerzitien des Phänomenologen Edmund Husserl - bekannt geworden unter dem Titel epoché oder "Einklammerung” beziehungsweise "Ausschaltung” der natürlichen Einstellung zur Welt - sind ein zentraler Ausgangspunkt von Sloterdijks Überlegungen.
"Husserl zeigt uns Theorie als einen Kampf um die Gewinnung eines Bereichs theoretischer Reinheit und einer außer-existentialen Neutralität."
Der Idee des Theoretikers als eines Scheintoten begegnen wir bereits bei Sokrates: Der wahre Liebhaber der Weisheit müsse schon, so seine Vorstellung, bei Lebzeiten "so tot wie möglich” sein, um die "jenseitigen Wahrheiten wie von Angesicht zu Angesicht zu schauen”. In Sokrates' Hinweisen zur Selbsterschaffung eines reinen Intellekts und zum Zustand eines der Erkenntnis zuträglichen Beinahe-Todes ist der Aspekt des Übens, um den es Sloterdijk geht, unverkennbar.
Die Grundfrage, von der er sich in allen Überlegungen zum homo theoreticus und dessen Rückzug von der Welt und von Ich-verhafteten Neigungen, Interessen und Vorlieben ins innere Vorstellungs- und Gedankenlabor leiten lässt, richtet sich auf die Herkunft und die Bedingungen der alteuropäischen Theoriekultur: Zu der spezifischen Herausbildung dieser Haltung konnte es nur kommen, weil in der Gesellschaft eine Umstimmung erfolgt war:
"... die Umstimmung der Lebensgefühle vom unerbittlichen Optimismus der homerischen Ära, der bis in die perikleische Zeit nachhallte, zu einer milden Welt- und Lebensverneinung im Platonismus. ... Das theoretische Leben ist ein Spaltprodukt, das beim Zerfall der Polis freigesetzt wird."
Die epoché-Fähigkeit der Griechen wird von Sloterdijk unter vier Aspekten rekonstruiert; zuerst dem psychopolitischen: Die Politik war nicht mehr das höchste Bedürfnis des bürgerlichen Geistes und wurde kreativ in ein Modell des Wissens gewendet. Dann die psychische Disposition des Einzelnen als eines Theoretikers. Sie gründet auf dem Glauben, dass der Melancholiker, als ein objektlos Trauernder, besonders prädestiniert für den Typus des Denkers ist. Der soziologische Blick auf den epoché-fähigen Menschen offenbart die zentrale Bedeutung des Erziehungssystems, als einer Verankerung von Distanz, Haltungsdressur und Stillhalteübungen. Und schließlich kommt noch die Verschriftlichung hinzu.
"... die Welt selbst wird in dieser Schriftkulturzone nach Buchstabe, Silbe, Zeile, Seite, Absatz und Kapitel formatiert. ... Der homo theoreticus ist ein Erntearbeiter 'im Weinberg der Schrift' ..."
Sloterdijks Interesse richtet sich auf die Erlangung eines höherwertigen Sehvermögens in der Philosophie und der philosophischen Literatur. Hier ist es Paul Valéry, dessen berühmte Kunstfigur Monsieur Teste ein von jeder weltverbundenen Vitalität gereinigtes Leben vorführt:
"... ein logischer Athlet und Werkstattleiter an einem virtuellen Bauhaus der Ideen. In diesem logischen Dummy verschmelzen der Intellektuelle, der Scheintote, der Athlet und der Engel miteinander und bringen das Monstrum eines Möglichkeitsmenschen hervor."
Der Möglichkeitsmensch, der die enge Verbundenheit mit dem profanen Leben aufgelöst hat, taucht ein in ein Reich des Unwahrscheinlichen. Was kann man vom Leben mehr erwarten als dies! Wäre da nicht der unauflösbare Bezug des Subjekts zur Welt kraft des Begehrens und des Interesses.
"Das Interesse liquidierte die reine Theorie und nötigte das Wissen zum Wiedereintritt in die Szenerie des stellungnehmenden Lebens."
Weitere "Attentate” gegen die vermeintlich reine Theorie folgten: sei es unter der Formel von der Macht des Realen und der Gesellschaft, des parteinehmenden oder engagierten Denkens, von der existenziellen und ethischen Verankerung des Denkens, ganz abgesehen von den neuen Disziplinen der Wissenssoziologie, der Diskurstheorie, der Ethnopsychoanalyse und der Neurowissenschaften, und nicht zuletzt des Feminismus. Die Gender-Forschung hat gezeigt, dass die Theoretiker zumeist mehr oder weniger selbstverständlich davon ausgingen, dass das Männliche der Inbegriff des Menschlichen ist.
Peter Sloterdijk: Scheintod im Denken. Von Philosophie und Wissenschaft als Übung.
edition unseld im Suhrkamp Verlag, Berlin 2010, 147 Seiten, Euro 10,00
Philosophische Temperamente. Von Platon bis Foucault.
Diederichs Verlag München 2010, 144 Seiten, 14,95 Euro. Auch als Hörbuch erhältlich, 17,95 Euro