Carsten Schroeder: Die spannendsten Wissenschaften sind die, die ganz nah am Alltagsleben sind, und so eine Wissenschaft ist – und jetzt wundern Sie sich nicht über das Wort – Malediktologie. Das ist die Wissenschaft vom Fluchen und Schimpfen. Am Telefon ist der Linguist Dr. André Meinunger vom Leibniz-Zentrum für Allgemeine Sprachwissenschaft. Guten Abend, Herr Dr. Meinunger!
André Meinunger: Guten Abend!
Schroeder: Wenn man in Deutschland anderen beim Fluchen und Schimpfen zuhört, dann fällt einem auf, wie gern auf Mundart oder Dialekt geflucht wird. Nehmen wir mal Bayern: Da gibt es so Standardflüche wie Himmi, Herrgott, Sakra oder Jesses Maria – die funktionieren auch nur auf Bayrisch. Und wenn ich das jetzt nicht so gut kann, dann liegt es daran, dass ich nicht aus der Region stamme. Woran liegt es, dass sich so gut in Mundart fluchen lässt?
Meinunger: Na ja, Mundarten oder Dialekt einerseits und das Schimpfen und Fluchen andererseits, das sind Sprachverwendungen, die ganz nah bei den eigenen Emotionen sind. Da hat man eine richtige Beziehung zu seinen eigenen Ausdrücken, zu seiner eigenen Sprache, und deswegen kommt das so zusammen. Und das Wichtige beim Fluchen und beim Schimpfen ist das Dabeisein der Emotionen.
"Bei Schimpfwörtern spielt das Tabu eine ganz große Rolle"
Schroeder: Gerade bei den Bayern so tief aus dem Bauch heraus, Himmi, Herrgott, Sakra, aber es fällt ja auf, dass es ja fast religiöse Flüche sind, wenn es um den Herrgott geht, um Deifi, gibt's auch noch irgendwie. Woran liegt das denn eigentlich?
Meinunger: Das liegt daran, dass bei Schimpfwörtern das Tabu eine ganz große Rolle spielt. Also bei Schimpfwörtern – jetzt komm ich wieder drauf zurück – muss es um Emotionen gehen, und man kann eigentlich nur an Emotionen rankommen, wenn man irgendwelche Tabus bricht. Und aus sogenannten Tabubereichen kommen dann auch die ganzen Schimpfwörter. Fürs Deutsche angeblich der prominenteste oder wichtigste ist das Fäkale oder das Pathologische, heißt es wissenschaftlich, das sind die Exkremente. Also Arschloch ist das häufigste und Scheiße beim Fluchen. Andere Bereiche sind das Sexuelle oder eben das Religiöse. Gerade beim Fluchen wird sehr viel Glaubens- und religiöses Vokabular benutzt.
Schroeder: Ja, aber nicht nur. In Norddeutschland wird ganz anders geflucht, da ist alles Schiet – Schietwetter, Schietkram oder einfach so'n Schiet –, wobei Schiet, wie die Norddeutschen sagen, ist stubenrein oder anständig. Ein vornehmer Hanseat darf also ungestraft Schiet fluchen, während die hochdeutsche Übersetzung von Schiet verpönt ist. Wie kommt es dazu eigentlich?
Meinunger: Na ja, weil das sind verschiedene Register, wenn man so will. Und im Dialekt, da ist man wieder bei sich, bei den seinigen, bei der Familie, bei den Leuten, die aus derselben Gegend kommen. Da ist man viel vertrauter miteinander, da kann man auch eher ein Tabu übertreten, oder das, was man so sagt, ist dann nicht ganz so wörtlich oder wirklich ganz schlimm, als wenn man distinguiert spricht und dann in dieser anderen Varietät oder in diesem anderen Register dann Wörter benutzt werden, die eigentlich, na ja, früher nicht mal im Wörterbuch gestanden haben.
Schroeder: Herr Dr. Meinunger, Sie haben im vergangenen Jahr ein Buch veröffentlicht mit dem Titel "Sie Vollpfosten! Gepflegte Beleidigungen für jeden und jede". Wie flucht oder schimpft man denn gepflegt oder vornehm?
Meinunger: Ach, das war eher ein Einfall – diesen Titel habe ich mir nicht selber gegeben – des Verlags. Das sollte wahrscheinlich auch bedeuten, dass jetzt da kein Buch vorliegt mit ganz extrem schlimmen, beleidigenden Sachen, sondern "Sie Vollpfosten!", auch hier wird gesiezt, das ist alles so ein bisschen vielleicht mit Sprache gespielt. Die haben sich das einfallen lassen. Normalerweise beim Schimpfen hört es sich anders an, sieht es anders aus, aber ich glaube, so ein richtiges vornehmes Schimpfen geht eigentlich gar nicht. Das ist was, na ja …
Schroeder: Da würde ich Ihnen fast widersprechen und mal die andere Position nehmen. Wenn ich sage, Sie Armleuchter!, dann weiß eigentlich jeder, das ist ein anderes Wort, das mit A anfängt. Das ist doch ein gepflegtes Schimpfen.
Meinunger: Da haben Sie recht. Das gibt es ganz häufig, diese Art, praktisch etwas anzudeuten und dann nicht auszusprechen. Genau, Sie Armleuchter!, mir fällt jetzt leider kein ähnliches ein, aber das gibt es sehr häufig, dass man eben etwas anderes nimmt, um das Eigentliche schon anzudeuten, aber eben es nicht auszudrücken. Das ist wirklich die vornehme Variante, das stimmt, also das kann man tatsächlich so machen. Und das passiert auch, da haben Sie recht.
"Das Wichtige ist, dass man wirklich Emotionen erreicht"
Schroeder: Scheibenkleister fällt mir dabei noch ein, ist auch noch ein beliebtes Wort. Wie haben sich die Flüche eigentlich im Laufe der Zeit verändert?
Meinunger: Na ja, manche bleiben ewig irgendwie wirklich stark, aber wie bei anderen Bereichen auch ist es so, dass meistens in der jungen Generation irgendwas Neues hochkommen muss, weil – ich muss immer wieder drauf beharren – das Wichtige ist das Tabu, dass man wirklich Emotionen erreicht, dass man jemanden wirklich beleidigen kann, wirklich jemanden verletzen kann. Und was in der einen Generation funktioniert hat, das funktioniert möglicherweise in der anderen schon nicht mehr, und da kommen neue Wörter hoch. Zurzeit sieht man oft in den Zeitungen, was so bei der jungen Generation gesagt wird, und da sehen wir, dass es wirklich ein Tabu ist. Insofern, das passiert immer wieder.
Schroeder: Was sind denn die zeitgenössischen Schimpfworte?
Meinunger: Ja, das ist eigentlich unschön, aber was man immer wieder liest, ist – zumindest in Berlin ist das so, ich glaube, das ist generell so –, dass man sagt, auf den Schulhöfen ist Jude ein Schimpfwort oder auch Christ oder Ungläubiger. Und warum, das ist wirklich etwas, was bei uns in der Gesellschaft diskutiert wird, und gewisse Sachen sind wirklich Grenzbereiche. Man hat das jetzt gesehen in dieser Diskussion um den Echo. Das ist etwas, was die Gesellschaft wirklich spaltet oder erzürnt, weil das Potenzial hat, wirklich Leute richtig zu verletzen, zu treffen. Und das eignet sich dann halt auch – das ist nicht schön – für Schimpfwörter, und das wird dann auch gemacht.
Schroeder: Das sind ja nun wirklich Tabubrüche, die Sie da genannt haben.
Meinunger: Ja, ja. Das ist jetzt nicht einfach nur so dahingesagt, Tabubruch. Hier sieht man es ganz deutlich, dass das Sachen sind, die an die Nieren gehen – bei jedem Einzelnen vielleicht oder eben bei der Gesellschaft im Allgemeinen. Aber vielleicht noch mal ein netteres Beispiel, was hat sich verändert: Zum Beispiel weiß man oder denkt man, das älteste Schimpfwort überhaupt, das belegt ist, ist Hund in einer altindisch-religiösen Schrift, und gerade im Bayrischen zum Beispiel ist es schon so weit, dass das dann auch wieder sogar was Positives hat, also der Hund, der Bazi, da schwingt schon fast wieder so ein bisschen Bewunderung mit für irgendjemanden, der vielleicht was nicht ganz Lupenreines getan hat, aber man zollt ihm Respekt für irgendwas. Also solche Entwicklungen bei Schimpfwörtern gibt es, wenn auch selten.
Schroeder: Ich bin ja kein Bayer, aber ich weiß, der Sauhund, das ist eigentlich eher ein Kompliment.
Meinunger: Ja.
"Fluchen ist Aggressionsabbau"
Schroeder: Warum tut Fluchen so gut?
Meinunger: Weil das ein Aggressionsabbau ist. Also gerade beim Fluchen mehr noch als beim Schimpfen mit jemand anders, ist es einfach so, dass irgendetwas passiert ist, mit dem man nicht gerechnet hat, was einem total gegen den Strich geht, also da ist man getroffen und wird aggressiv, und diese Aggression muss irgendwie raus. Und das passiert verbal durch Sprache. Deswegen, das ist eine ganz wichtige Funktion des Schimpfens, oder konkreter eigentlich des Fluchens, dass Aggression abgebaut wird. Und das ist auch das Gute beim Schimpfen: Ganz oft ist es so, dass diese verbale Aggression echte physische Gewalt ersetzt.
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