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Wissenschaft und Demokratie im neuen Ägypten

Während sich auf dem Tahrir-Platz in Kairo Ende Mai die Demonstranten erneut zu einem Tag des Zorns trafen, diskutierten wenige hundert Meter weiter arabische und deutsche Geistes- und Sozialwissenschaftler über die Zukunft ihrer Disziplinen in Ägypten.

Von Bettina Mittelstrass |
    27. Mai in Kairo. Ein Freitagmittag. 40 Grad im Schatten. Der Wind trägt Wüstensand auf den Tahrir-Platz. Hunderte Menschen haben sich kurz nach dem Freitagsgebet schon zu einem weiteren Tag des Zorns eingefunden. Tausende Demonstranten sollten es an diesem Tag noch werden. Sie sind jung und sie fordern Gerechtigkeit.

    "Justice, Justice. The Criminals are still in the System."

    Die 26-jährige Ägypterin Sherry Basta übersetzt die Forderungen der Demonstranten: "Die Verbrecher sind noch unter uns."

    "Das Volk will, dass das System vor Gericht kommt."

    Sherry Basta kommt aus Kairo. Sie ist Studentin und sie spricht fließend Englisch und Deutsch. Mit einem Stipendium vom Deutschen Akademischen Austauschdienst schreibt sie zurzeit an der Universität Erfurt an ihrer Master-Arbeit. Für nur drei Tage ist sie in der Heimat, um zu arbeiten und die Familie zu sehen. Der Besuch auf dem Tahrir muss da auch noch reinpassen.

    "Er spricht von sozialer Gerechtigkeit."

    Soziale Gerechtigkeit ist auch ihr Thema. Sie forscht über die Armut in Ägypten. Wie hat das alte Regime zur Verschärfung der Situation beigetragen? Wie kann man die Armut sinnvoll bekämpfen? Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit - die Themen der Revolution sind eigentlich Klassiker in den Sozial- und Geisteswissenschaften. Aber zu sagen hatten diese Disziplinen bisher nichts.

    "Wir haben hier in Ägypten ein Problem. Die Regierung hasst Philosophie und Visionen. Wenn man eine technische Sprache spricht - also: Tut dies und das und zwar so und so nach Punkt eins, zwei und drei - dann verstehen einen die Regierungsbehörden. Aber wenn man ein bisschen philosophisch redet, also etwa über Gerechtigkeit oder über Gesellschaft und Integrationsprobleme, über Identität, wenn man also ein außerhalb des Üblichen spricht, versteht einen keiner."

    Ahmed Zayed ist Professor für Soziologie an der Universität Kairo. Forschung in seinem Fach war bisher eine Farce, meint er. Wissenschaft bedeutete vor allem: Technik, Ingenieurkunst. Er erzählt, dass sich das alte Regime unter Hussein Mubarak nur vordergründig mit sozialwissenschaftlichen "Experten" geschmückt habe. Vor drei Jahren war er zum Beispiel in ein Regierungskomitee berufen worden, das sich mit Transparenz in der ägyptischen Gesellschaft befassen sollte.

    "Wir beschlossen, über das Wertesystem der Ägypter zu forschen. Wie entscheiden sie sich? Wie verhalten sie sich? Wir wollten die Gründe hinter der Korruption verstehen - also die Gründe für fehlende Transparenz und Integrität. Das wurde abgesegnet und die Kommission machte ihre Arbeit. Der zuständige Minister für Administrative Entwicklung hat die Ergebnisse dann an die Zeitungen und Fernsehstationen geschickt und die haben das veröffentlicht. In dieser Arbeit haben wir die Probleme dieser Gesellschaft benannt: mangelnde Integration, Ungerechtigkeit, zu viel Distanz, zu wenig Bildung. Am Ende haben wir eine Art Plan geliefert, wie man eine Gesellschaft mit neuen Werten bilden kann! Das wurde komplett ignoriert!"

    Der Politikwissenschaftler Professor Abdul-Monem Al-Mashat, der ebenfalls an der Universität Kairo lehrt, nennt die Gründe:

    "Die Sozialwissenschaften wurden in Ägypten seit 40 Jahren in hohem Maß marginalisiert. Vermutlich mit Absicht. Klar ist: Uns fehlt jetzt die methodische Herangehensweise, uns fehlt kritisches Denken, uns fehlt empirische Forschung und wir haben keine guten Lehrpläne - seit 40 Jahren. Wir haben nicht einen einzigen Kurs in Demokratie! Nicht einen - an sämtlichen ägyptischen Universitäten. Wir haben gerade mal seit neuestem hier und da Kurse über Menschenrechte. Das ist der Grund, warum wir jetzt nach der Revolution die Sozialwissenschaften stärken müssen: um neue Probleme in Ägypten zu studieren."

    Die Erwartungen nicht nur von Professor Abdul-Monem an die Kraft sozial- und geisteswissenschaftlicher Arbeit sind hoch. Rund 100 ägyptische und deutsche Wissenschaftler tagten Ende Mai unweit vom Tahrir-Platz und fragten nach der Rolle, die "weiche" Wissenschaft für Ägyptens Weg in die Demokratie spielen könnte. Darunter auch der Parodontologe Karim Fazwy, der zur Zeit in Kiel arbeitet und nach seiner Rückkehr helfen will, ein modernes Bildungssystem aufzubauen:

    "Ägypten sucht (ihre) Identität. Ist ja eigentlich die Schlagzeile, die gerade läuft. Und ob es die islamische, die ägyptische, die arabische oder eine Mischung aus diesen drei Kulturen, die dann das neue Gesicht Ägyptens herstellt, ist ja jetzt durch diese neue social sciences zu gestalten. Und eigentlich ist das ja der richtige Zeitpunkt, wo man sich richtig intensiv mit seiner eigenen Identität sich beschäftigen soll, damit man sie sozusagen als Schub für die Zukunftsvision dann nehmen kann."

    Eingeladen hatten das deutsche Bildungsministerium und sein ägyptischer Partner, das internationale Büro und der Deutsche Akademische Austauschdienst DAAD. Man will jetzt gemeinsam Forschung fördern, die die ägyptische Gesellschaft aktuell braucht. Der Tübinger Soziologe Professor Oliver Schlumberger:

    "Wo man wirklich was machen kann mit Förderung ist gerade die empirische Forschung, die ja gerade aufgrund der politischen Bedingungen über Jahrzehnte hinweg verboten war - oder so mit solchen Restriktionen behaftet war, dass sie de facto unmöglich war. Und wenn wir jetzt in eine Situation kommen, wo wir zum ersten Mal seit 50 Jahren überhaupt Daten zur Einstellung, zu Befindlichkeiten der Gesellschaft hier bekommen können, dann sind das Daten von historischem Wert. Die werden wir in 20 Jahren mit Interesse anschauen und vergleichen mit den Daten, wie sie dann sind: Über die Performanz und Legitimität politischer Institutionen, über die Zugehörigkeitsgefühle von Bevölkerungssegmenten, über die Befindlichkeit der ägyptischen Jugend, über die Rolle von Religion in der politischen Ordnung, die jetzt möglicherweise, hoffentlich, neu erstellt werden kann. "

    Präzise Daten aus Meinungsumfragen, Daten zu demografischer Entwicklung, Bildungsstandards oder Armut waren bisher bedrohlich. Das weiß auch Christian Fandrych, Professor für Linguistik am Herder Institut der Universität Leipzig:

    "Man darf nicht vergessen, dass es auch noch eine relativ hohe Rate an Analphabeten gibt im Land, dass harte empirische Fakten etwas waren, was im Regime vielleicht auch nicht gern gesehen und nicht gefördert wurde oder nicht wahrgenommen wurde und das betrifft auch die Geisteswissenschaften. Man hat sich zum Beispiel nicht so sehr für empirische Untersuchung von Sprache und Sprachverwendung interessiert, sondern sozusagen für Schöngeistiges, was nicht gefährlich werden kann, was nicht unbedingt eine Realität untersucht."

    Sprache und Verständigung stehen seit der Revolution ganz oben im Kurs für mögliche Forschungen. Weltweit wird diskutiert, wie die sogenannte Facebook-Generation es geschafft hat, Tausende an einem Tag auf die Straße zu bringen. Auch die Ägypter wollen jetzt ihre eigenen Kommunikationswege analysieren. Sherry Basta:

    "Wir haben auch eine Hupensprache - pipip pipip bedeutet: Ich lieb Dich. Ich lieb Dich oder Dankeschön zu sagen. Es gibt andere Schimpfwörter, die auch mit Hupen - weil, man verbringt die ganze Zeit, also einen große Portion des Tages auf der Straße beim Fahren und das war die innovative, kreative Art von Straßensprache."

    Aber ganz gleich, welche seit Jahren aufgelaufene oder verhinderte Forschung Soziologen oder Germanisten jetzt anstrengen: Sie muss einen Bezug zur Lebenswelt der Ägypter haben, fasst die Medien- und Kommunikationswissenschaftlerin Hanan Badr zusammen:

    "Das war so ein Grundsatz in unseren Diskussionen. Es wurde immer betont: Theorien haben wir schon genug, es fehlt uns die Praxis. Es fehlt uns die Nähe zum Alltag. Es fehlt uns die Umsetzung dessen, was wir wissen. Und das muss man auch mitbeachten und nicht nur neue Forschungen produzieren. Man hat ja schon vieles. Man muss halt das nur umsetzen."

    Für den Politologen Abdul-Monem Al-Mashat bedeutet das: Raus aus der Uni und hin zu den Leuten. Der Direktor des im Laufe der Revolution neu gegründeten "Cairo Center of the Culture of Democracy" fährt quer durch Ägypten und vermittelt sein Wissen. Ägypten brauche, sagt er, eine enge Verbindung zwischen Forschung und den Bedürfnissen des Volkes. Und zur Zeit brauche das Volk in erster Linie Aufklärung über die Regeln einer demokratischen Gesellschaft.

    "Was wir also im Augenblick machen ist: Wir gehen in die ländlichen Gegenden Ägyptens und trainieren die Leute für fünf, sechs Stunden sehr intensiv und thematisieren: Was ist Demokratie? Was ist ein demokratisches politisches System? Wie unterscheidet man ein parlamentarisches von einem präsidialen System? Wir reden über öffentliche Ordnung, Medien, Transformation, Zivilgesellschaft und versuchen die Leute zu motivieren, Nichtregierungsorganisationen zu gründen - damit sie darüber dann ihre Interessen vertreten können. Das sind alles politische und praktische Themen."

    Theorie und Forschung fallen deshalb nicht gänzlich weg. Im Gegenteil. Vergleichende Studien sind jetzt gefragt.

    "Was Ägypter zum Beispiel studieren sollten ist: Wie wurde das nationalsozialistische Deutschland der 30er- und 40er-Jahre in eine Demokratie verwandelt? Also von einem nichtdemokratischen in ein demokratisches System transferiert. Oder die deutschen Erfahrung von 1991/92, der Fall der Mauer und die Reintegration eines vorher autoritär geführten Landes - Ostdeutschland - in das demokratische System. Diese Erfahrungen wurden in Ägypten nirgendwo studiert! Was wir also machen müssen: Unsere Forscher nach Deutschland schicken, damit die dazu was lernen, zurückkommen und dieses Wissen über den Übergang hier einbringen. Weil: Wir befinden uns im Übergang und wir müssen friedlich in eine neue Gesellschaft finden."

    Austausch ist nicht gleichbedeutend mit "Übernahme". Auch das stellten die Wissenschaftler auf ihrer Arbeitstagung in Kairo immer wieder fest. Kooperation soll helfen, aber nichts diktieren:

    "Es herrschte Konsens, dass die Ägypter ihre eigene Aufgabe in der Reform und Aufbau machen sollen. Die müssen sich reflektieren über den Prozess, wie dieser Demokratisierungsprozess laufen soll und nicht einfach "best practice"-Beispiele hier importieren und adaptieren. Natürlich muss man sich angucken was die andere machen, aber das Beste da raus ziehen und kontextualisieren."

    Denn nicht jede gesellschaftliche Debatte passt, meint auch die ägyptische Molekularbiologin Yasemine Aguib, die derzeit an der Technischen Universität München im Wissenschaftsmanagement Erfahrung sammelt. Ob neben Geistes- und Sozialwissenschaft auch Technologie den demokratischen Prozess unterstützen kann, ist zum Beispiel die Frage:

    "Inwiefern ist da wirklich in Ägypten der demokratische Prozess von der Innovation und Technologietransfer betroffen im Moment? Es ist eine Diskussion in Europa. Das ist eine Diskussion in Deutschland: wie kann man die Universität mit der Industrie verlinken und die Ideen und das alles. Aber im Moment ist diese Frage eigentlich noch sehr spezifisch für eine demokratische Entwicklung in Ägypten."

    Schlumberger:

    "Ich denke, dass die jüngere Generation durchaus in der Lage ist mit ein bisschen Freiraum und einer internationalen Partnerschaften kritisches Denken selbstständig anzuwenden und für ihre Gesellschaften nutzbringend einzubringen. Ich denke aber, dass im Moment noch trotz der Abdankung des Präsidenten in Ägypten und anderen Staaten der Region innerhalb der nachgeordneten Institutionen und darunter - auch die Universitäten - eine sehr stark hierarchisierte autoritäre Struktur vorherrscht: ein Klima der Angst, ein Klima der Einschüchterung junger Wissenschaftler."

    Aber gerade auf die Jungen kommt es an. Wenn die auf internationalem Parkett gut ausgebildeten jungen Leute zurückkommen und nichts zu sagen haben, nutzt das erworbene Wissen nichts - weder ihnen noch der Gesellschaft. Das weiß Hanan Badr nur zu gut, die mit einem DAAD-Stipendium in Erfurt an ihrer Doktorarbeit schreibt:

    "Gerade für die Zurückkehrenden aus Europa. Sie kommen dann ganz frisch mit ihren Ideen und so. Und bis sie selber Entscheidungsträger sind, ist das Wissen, was sie erworben haben, eigentlich schon veraltet und kann der Gesellschaft gar nicht so richtig helfen. Und dann führt das ja zu Frustrationen."

    Frustration könnte auch die arme Bevölkerung Ägyptens bald erfassen, wenn sich an ihrer Situation auch durch die Revolution nichts ändert. Die Hälfte gilt nach internationalen Standards als arm. Wie kann Forschungsförderung zur Verbesserung ihrer Lage beitragen?

    "Wie kann man die fördern, dass sie in dieses System reingehen? Und ist wirklich die Wissenschaftliche Arbeit das Einzige, wo geholfen werden kann durch internationale Kooperation? Oder eher doch Entwicklungshilfe von Didaktik, von Schulen, von Erziehungswissenschaften? Dass auch der normale Ägypter, der nicht unbedingt ein Akademiker ist, auch mal Nutzen hat von diesem Bereich Geistes- und Sozialwissenschaften, das tatsächlich auch seinen Alltag berührt dann."

    Viele Fragen bleiben in diesen Tagen noch offen - an den Tagen des Zorns auf dem Tahrir-Platz in Kairo werden die immer wiederkehrenden Studenten nicht müde, auf den Berg an ungelösten Probleme zu verweisen. Welchen Anteil daran am Ende Geistes- und sozialwissenschaftliche Forschung haben, wird sich zeigen. Auch ob man sie überhaupt so bald beginnen kann - die wichtige Datenerhebung zum Beispiel - wird sich zeigen. Oliver Schlumberger:

    "Jetzt müssen wir erstmal die Wahlen abwarten und schauen, ob sich das Militär vielleicht aus der Macht herausverhandeln lässt, oder zumindest teilweise, sodass die Art der Forschung dann überhaupt möglich wird."

    Karim:

    "Wir sind in Ägypten gerade wie in einem Orchestra, wo jeder sein eigenes Instrument ganz alleine spielt. Er spielt gut, aber er passt nicht im Orchestra. Wir haben gerade keinen Plan und das kann man ja sehen. Auf dem Tahrir-Platz war Tag des Zorn angesagt und die Leute haben getanzt und gesungen. Zorn war das auf jeden Fall nicht. Aber dieses Orchestra ist noch nicht da. Wenn wir das erreichen, dann sind alle Strömungen in der gleichen Richtung und somit hoffen wir dann ein schönes Stück Musik für die ganze Welt zu machen."