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Wissenschaftsfreiheit
Die Toleranz gegenüber anderen Meinungen sinkt

Universitäten sind Stätten geistiger Auseinandersetzung. Doch zunehmend kritisieren Wissenschaftler, dass an den Universitäten zu viel moralisiert und zu wenig argumentiert werde und die Toleranz für andere Meinungen sinke. Wie passt das zu der im Grundgesetz garantierten Wissenschaftsfreiheit?

Von Ingeborg Breuer |
Mehrere, vor allem junge Menschen diskutieren in einer Runde miteinander (Symbolbild)
Wie offen darf an Universitäten noch diskutiert werden? Wissenschaftler kritisieren, dass zu viel moralisiert werde. (imago images / PhotoAlto)
"Philosophie und Praxis der Meinungsfreiheit" hieß das Seminar, das der Siegener Philosoph Dieter Schönecker im Wintersemester 2018/2019 anbot. Zuerst gab es ein Blockseminar über das Buch des britischen Aufklärers John Stuart Mill "Über Freiheit". Dann wollte Schönecker rechte und linke Referenten zum Thema Meinungsfreiheit einladen. Unter anderem den wegen seiner migrationskritischen Thesen umstrittenen Erfolgsautor Thilo Sarrazin. Und dann auch noch Marc Jongen, Philosoph, ehemaliger Sloterdijk-Schüler und Landessprecher der AfD-Baden-Württemberg. Aber:
"Da habe ich 15 oder 16 Einladungen verschickt und hatte am Ende nur zwei Zusagen aus dem linken Spektrum, von denen einer vor Beginn der Vorlesungsreihe wieder abgesagt hat."
"Rechte" an der Uni
Die Einladung der beiden populären "Rechten" wurde zum Skandal:
"Nie mehr Philo für den Thilo"
"Ich möchte nicht, dass diese Uni als rechte Uni gilt, die eine Bühne für Rechtspopulisten bietet."
Der ASTA ebenso wie manche Studentengruppen protestierten gegen die beiden Referenten. Die Uni weigerte sich, Mittel zur Durchführung der Veranstaltung zur Verfügung zu stellen. Allerdings nahm sie diese Weigerung zurück, nachdem die Medien kritisch über die Siegener Vorfälle berichtet hatten:
"Es war dann am Ende so, dass ich zwar bestimmte Töpfe die mir zustehen, nutzen durfte. Aber andere Mittel, die normalen, die mir zustehen, nicht nutzen durfte. Und das hab ich als Angriff auf meine Wissenschaftsfreiheit verstanden."
Sarrazin und Jongen konnten ihre Vorträge also halten – von der Polizei geschützt. Aber die Ereignisse um das Siegener Seminar waren so umstritten, dass die "Deutsche Gesellschaft für Philosophie" im Frühjahr eine Tagung zum Thema "Wissen.Schafft.Freiheit" veranstaltete. Eine der Organisatorinnen, die Gießener Philosophin Professor Elif Özmen nahm dort Stellung dazu, warum auch sie die Einladung nach Siegen ausgeschlagen hatte. Einerseits wolle sie – als überzeugte Deutsche mit Migrationshintergrund - nicht mit Vertretern der AfD auftreten, weil:
"die mir diesen Rechtsstatus Deutsche zu sein am Ende absprechen. Unter anderem weil sie sagen, das deutsche Volk umfasst 60 Millionen und alle anderen sind keine wahren Deutschen. Worüber sollte ich mit diesen Personen diskutieren?"
Zum anderen aber sei sie der Auffassung:
"Dass die Art und Weise der Veranstaltung und der Durchführung hochproblematisch ist. Die Frage ist, unter welchen Voraussetzungen man nichtwissenschaftliche Akteure an Unis sprechen lässt. Und gute Anlässe sind, dass sie als kompetente oder betroffene Sprecher zu dem Gegenstand etwas beizutragen haben. Und ich sehe das eigentlich bei beiden nicht."
Der Züricher Philosoph und Habermas-Schüler Professor Lutz Wingert dagegen sah die Kriterien der Wissenschaftlichkeit bei der Siegener Veranstaltung durchaus gewährleistet:
"Weil man versucht hat, eine Theorie der Meinungsfreiheit an Erfahrungen mit Meinungsfreiheit zu überprüfen. Und man hat Leute, die Erfahrung mit der Meinungsfreiheit machen, wie Sarrazin und Jongen eingeladen. Und jeder der Referenten musste vorher den Vortrag abgeben und der Kollege Schönecker hat den Vortrag mit den Studenten diskutiert. Die konnten kritische Fragen stellen. Und insofern war es eine Pflicht zur kritischen Prüfung und zur Ermächtigung eines eigenständigen Urteils, das Schönecker den Studierenden ermöglicht hat."
Toleranz gegenüber unbequemen Meinungen
Der "Siegener Fall" bleibt umstritten. Aber die Diskussion um das, was an Hochschulen gesagt und gelehrt werden darf, geht weiter. Im Lit-Verlag erschien in diesem Jahr die Aufsatzsammlung "Die Freiheit der Wissenschaft und ihre ‚Feinde‘". Der Kölner Jurist und Präsident des Deutschen Hochschul-Verbandes, Professor Bernhard Kempen, kritisierte auf der letzten Konferenz seines Verbandes, dass an den Hochschulen die Toleranz gegenüber anderen Meinungen sinke. Und zwar sowohl von Seiten der Studierenden als auch der Lehrenden:
"Das ist nicht nur ein studentisches Phänomen. Wir beobachten, dass es auch bei den wissenschaftlichen Mitarbeitern und den Professoren eine Haltung gibt, die letztlich diskursverweigernd ist. Die Bereitschaft, andere unbequeme Meinungen zu diffamieren und zu tabuisieren, die ist weit verbreitet über die Studierendenschaft hinaus."
Besonders in den USA wird die Freiheit von Forschung und Lehre durch eine überzogene Idee politischer Korrektheit zunehmend eingeschränkt. Texte und Äußerungen, die von Minderheiten als verletzend empfunden werden könnten, müssen mit Warnhinweisen versehen werden. Umstrittenen Wissenschaftlern werden Auftrittsmöglichkeiten verweigert. Eine Übermoralisierung, die den für die Forschung so wichtigen freien Austausch von Ideen behindert, klagen auch viele liberale Professoren. Das seien "pathologische Entwicklungen", so auch der Münsteraner Jurist Professor Thomas Gutmann. Aus seinen eigenen Veranstaltungen kenne er dergleichen allerdings nicht:
"Immer mehr Leute glauben, sich in irgendeine Gruppenidentität einzufinden und allen anderen Leuten dann verbieten, in irgendeiner Weise auch noch wissenschaftlich irgendetwas zu sagen, was mit dieser Gruppenidentität zu tun hat. Oder die safe space Bewegung, die sagt, die Uni muss ein Raum sein, in dem es keine kognitiven Dissonanzen mehr gibt, indem ich so, wie ich bin, nicht verunsichert werde, in dem ich nichts lernen muss. Das ist eine Vorstellung, die der Idee von Universität radikal entgegen gesetzt ist."
Amerikanische Verhältnisse bald in Deutschland?
Unbekannt sind solche Entwicklungen allerdings auch in Deutschland nicht. Zum Beispiel als Ende April eine Gruppe von Studierenden anonym im Internet die Absetzung der Frankfurter Ethnologie-Professorin Susanne Schröter forderte, die eine Konferenz zum muslimischen Kopftuch veranstaltete. Begründung: Sie bediene damit "rechtspopulistische Themen". Oder als im Jahr 2015 Studenten einen anonymen Blog einrichteten. Dort wurden dem prominenten Politikwissenschaftler Herfried Münkler "rassistische Stereotype", "Chauvinismus" und "Eurozentrismus" vorgeworfen. Und weil er in seiner Vorlesung gesagt hatte, dass Frauen in der Geschichte des politischen Denkens erst zu Anfang des 20. Jahrhunderts eine Rolle spielten, wurde er als "Sexist" verunglimpft. Der Berliner Stalinismus- und Gewaltforscher Jörg Baberowski wiederum wird von einer trotzkistischen Hochschulgruppe verfolgt, seit er den Verfasser einer kritischen Trotzki-Biografie in sein Kolloquium einlud. Zudem kritisierte der Historiker während der Flüchtlingskrise 2015 mit scharfen Worten die Merkelsche Politik und forderte eine restriktivere Asylpolitik. Seither wird er der "Flüchtlingshetze" und "Geschichtsfälschung" bezichtigt. Und wird darüber hinaus, so Bernhard Kempen:
"Verfolgt bis ins Privatleben hinein, bis zur Androhung physischer Gewalt. Dieser Mann ist, wenn Sie ihm heute begegnen, schon schwer gezeichnet durch diese Vorgänge. Dieser Mann betreibt Faschismusforschung und konzentriert sich dabei auch auf das stalinistische Unrecht in der früheren Sowjetunion. Das ist ein Forschungsgegenstand wie andere auch und damit darf man sich befassen. Mir fehlen die Worte, wie man auf die Idee kommen kann, diesen Mann als einen verfassungsfeindlichen Extremisten einzustufen. Mir fehlen aber auch die Worte, wenn ich daran denke, wie lange die Leitung der Humboldt-Uni dafür gebraucht hat, um sich schützend vor Herrn Baberowksi zu stellen."
Anstelle des sachlichen Überprüfens von Argument und Gegenargument, so auch Lutz Wingert, komme es zunehmend zu einer Moralisierung des akademischen Diskurses. Mit der Folge:
"dass Argumente nicht mehr geprüft werden, sondern nur noch Gesinnungen. Das ist eine ungute Tendenz. Es gibt eine politisch korrekte identitäre Bewegung, die nur noch darauf achtet, zu erkennen, zu welchem Stamm jemand gehört. Wenn er zum richtigen Stamm gehört, dann wird er in Ruhe gelassen, und wenn du nicht zum richtigen Stamm gehörst, bist du moralisch minderwertig. Und damit schließt man Debatten."
Regeln der Forschung
Doch solche Moralisierungen widersprechen geradezu dem Anspruch von Wissenschaft. Denn Wissenschaft bedeutet das systematische Begründen von Thesen, das kritische Abwägen von Argumenten und rationale Reflexion. Und zwar unabhängig davon, wie beunruhigend oder gar schockierend die Ergebnisse einer solchen Reflexion sind:
"Wissenschaftsfreiheit zielt auf begründete Urteile. Man kann nicht einfach sagen, der Klimawandel ist menschengemacht, um dann einige Hinweise wie zunehmende Hitzeperioden anzuführen. Sondern man muss andere Deutungen und Phänomene berücksichtigen und andere entkräften. Und man muss die Art, wie man Daten erhebt, offenlegen, man kann sich wenig berufen auf – das haben auch andere gesagt."
Wissenschaftsfreiheit ist ein Unterpunkt der Meinungsfreiheit, wie sie in Artikel 5 des Grundgesetzes garantiert ist. Und deshalb, schreibt der ehemalige Verfassungsrichter Friedhelm Hufen in dem Buch "Die Freiheit der Wissenschaft und ihre Feinde":
"kennt sie keinen Vorbehalt der politischen Korrektheit, etwa in Bezug auf Gender, Rasse, sexuelle Präferenzen, Religion und so weiter. Grenzen ergeben sich erst bei der konkreten Gefahr von Straftaten und Eingriffen in die Grundrechte Dritter."
Das heißt: Die Rechtsordnung zieht die Grenze für die Freiheit der Wissenschaft. Aber nicht, so Bernhard Kempen, einzelne Gruppen, die meinen:
"sie wüssten, was noch erträglich ist, was noch zum Meinungsspektrum gehört und was nicht mehr dazu gehört. Die Antwort ist, es gehört alles, was nicht strafrechtlich verboten ist, zum wissenschaftlichen Meinungsspektrum."
Umgang mit umstrittenen wissenschaftlichen Erkenntnissen
Auch Positionen, die äußerst streitbar sind. In den achtziger Jahren etwa vertrat der bis dahin hoch angesehene Historiker Ernst Nolte im sogenannten "Historikerstreit" die These, die nationalsozialistische Judenvernichtung sei von den früheren stalinistischen Terrorakten in der Sowjetunion ‚inspiriert‘. Und insofern sei der, so Nolte, "Archipel Gulag ursprünglicher als Auschwitz". Dies mag man hoch problematisch finden, aber:
"das alles ist nicht verfassungsfeindlich, damit darf man sich auseinandersetzen. Und dann ist es die Aufgabe der anderen, die meinen, dass damit Teile der historischen Wahrheit ausgeblendet oder in ihrer Bedeutung nicht richtig erfasst werden, dagegen zu halten und Argumente vorzutragen. Genau diesen rationalen Diskurs den vermisse ich."
Und was ist mit dem renommierten australischen Moralphilosophen John Finnis, der mit naturrechtlichen Argumenten und starken Worten Abtreibung und Homosexualität verurteilte, letztere sogar mit "Sodomie" verglich? In Oxford forderten Studenten, ihm deshalb die Lehrerlaubnis zu entziehen. Eine Forderung, die die Moralphilosophin Elif Özmen problematisch findet:
"Grundsätzlich hätte ich große Bedenken Positionen aus dem Diskurs auszuschließen. Es ist nicht homophob zu sagen, dass die Ehe zwischen Mann und Mann und Frau und Frau durch die deutsche Verfassung nicht gedeckt ist. Also da brauchen wir nicht irgendwelche realhomophoben Wissenschaftler, sondern da gibt es genügend Verfassungspolitiker, Juristen, die diese Position vertreten. Gerade in der normativ verstandenen Philosophie müssen wir uns auch das Recht heraus nehmen, das aktuell geltende Recht im Hinblick auf ethische Legitimität, Gerechtigkeit und so weiter zu reflektieren. Was sollen wir sonst tun?"
Ebenso wenig gerechtfertigt findet Elif Özmen, wenn der australische Philosoph Peter Singer in Deutschland immer wieder beschimpft und von Veranstaltungen ausgeladen wird. Als ‚Utilitarist‘ misst Singer eine moralische Handlung daran, ob sie Leid vermeidet, beziehungsweise Glück befördert. Und bestreitet deshalb das unbedingte Lebensrecht schwerst behinderter Säuglinge. Die Tötung eines Säuglings könne unter gewissen Umständen Leid vermeiden:
"Man muss sich diesen Argumenten stellen. Dafür sind Universitätsseminare ja auch da, dass wir unseren Mitstudierenden zeigen, wie man Argumente, aber auch gute Gegenargumente entwickeln kann. Was ich absolut unerträglich finde, ist, einer Person wie Peter Singer, der einen großen Teil seiner Vorfahren durch die Vernichtungspolitik des deutschen Nationalsozialismus verloren hat, vorzuwerfen, er sei ein Nazi. Und das ist das, was in Deutschland immer, wenn er versucht hat, aufzutreten, regelmäßig passiert ist."
Der Preis der Freiheit
Auseinandersetzung also statt Ausschluss, Argumentieren statt Moralisieren seien die Merkmale der akademischen Freiheit, da sind sich viele Forscher einig. Warum soll das nicht auch für Personen wie Thilo Sarrazin oder Mark Jongen gelten? Schon vor 200 Jahren wusste der Philosoph John Stuart Mill, dass man auch von umstrittenen oder vermeintlich ‚falschen‘ Positionen lernen kann. Weil man dann lernt, die eigene Haltung besser zu verteidigen. Dies mag nicht immer einfach sein, ist aber das Gebot liberaler Demokratien:
"Wenn es neben der Würde des Menschen einen obersten Verfassungswert gibt, dann ist es doch der, dass die Freiheit immer mit der Zumutung verbunden sein muss, die Freiheitsausübung der anderen zu ertragen. Alles andere wäre ein egoistisches Freiheitsverständnis, das ins Chaos führt. Wir müssen immer mitdenken, dass unsere Mitmenschen in der Gesellschaft dieselbe Freiheit haben, dass die aber von ihrer Freiheit einen ganz anderen Gebrauch machen und das zu ertragen, auch wenn es weh tut. Das gehört zur Freiheit, man kann auch sagen, das ist der Preis der Freiheit."