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Wissenschaftsgeschichte von Carlo Rovelli
Fragwürdiger Zuspruch für den Zweifel

Den frühgriechischen Philosophen Anaximander macht der Physiker Carlo Rovelli in seinem neuen Buch zum Vater der Wissenschaft. Doch das Plädoyer für Nichtwissen und Zweifel arbeitet mit halbseidenen Mitteln. Die klar und spannend formulierte Argumentation Rovellis basiert auf dünner Quellenlage.

Von Daniel-Pascal Zorn |
Ein Porträt des Physikers Carlo Rovelli.
Carlo Rovelli ist Mitentwickler der Schleifenquantengravitation. Nun widmet sich der italienische Physiker den Anfängen der modernen Wissenschaft. (picture alliance / Leemage)
Wissenschaft ist in neuester Zeit ein umkämpftes Gebiet. Das heißt: Sie war schon immer ein umkämpftes Gebiet und sie wurde auch schon immer für weltanschauliche Positionen und Absichten instrumentalisiert. Aber seitdem sich in sozialen Netzwerken alle Welt um die Wahrheit streitet, werden wissenschaftliche Quellen zu einer Ressource in einem Kulturkampf gemacht, in dem es vor allem darum geht, wer sie am besten für die eigenen Zwecke ausbeuten kann.
Carlo Rovellis Buch "Die Geburt der Wissenschaft. Anaximander und sein Erbe" scheint für diesen Missstand das richtige Gegengift zu sein. Das vor zehn Jahren im englischen Original erschienene Buch des italienischen Physikers ist in jeder Hinsicht gut beleumundet: Sein Autor ist der Mitentwickler der Schleifenquantengravitation, einer in der theoretischen Physik vieldiskutierten Alternative zur Stringtheorie. Im Buch selbst erinnert er schon in der Einleitung daran, dass nicht die Gewissheit, sondern der Zweifel, nicht das bereits vorhandene Wissen, sondern das zum Nachdenken und Forschen anregende Nichtwissen wesentliche Aspekte wissenschaftlicher Forschung sind.
"Die Suche nach Wissen nährt sich nicht aus Gewissheiten, sondern ganz im Gegenteil aus einem radikalen Fehlen von Gewissheiten."
Vorläufigkeit aller Ergebnisse
Rovelli möchte sich lösen von einem wissenschaftsgläubigen Vorurteil, das wie vor 150 Jahren auch heute wieder die Wahrnehmung von Wissenschaft beherrscht. Er setzt dagegen die Bereitschaft, im Denken immer wieder neu anzusetzen: "Der Aspekt des naturwissenschaftlichen Denkens, den ich auf diesen Seiten ins Zentrum rücken möchte, ist seine Fähigkeit zur Kritik und zur Rebellion, zum ständigen Neuerfinden der Welt."
Das ist natürlich nicht im Sinne eines Konstruktivismus gemeint, der durch Beliebigkeit regiert wird. Im Gegenteil sind auch für Rovelli die Mittel, dieses ständige Neuerfinden fortzuführen, die Beobachtung, das Experiment und die mathematisch-naturwissenschaftliche Theorie. Er grenzt sich nicht gegen die Suche nach der Wahrheit ab, sondern er unterstellt sie der immer wirksamen Ermahnung, sich in Voraussetzungen wie Ergebnissen nie allzu sicher zu sein. Dieser Weg ist, wie Rovelli in seinem Buch darstellen will, nicht nur der Kern aller Wissenschaft, sondern auch der Pfad der Entwicklung, den die Menschheit bis in die Gegenwart erfolgreich gegangen ist:
"Naturwissenschaftliche Antworten sind […] deshalb glaubhaft, weil sie […] die besten sind, die wir beim gegenwärtigen Stand unseres Wissens geben können. […] Die Menschheit hat einen Weg eingeschlagen, der sie in Richtung Erkenntnis führt, hat dabei aber die Gewissheiten derjenigen vermieden, die sich im Besitz der absoluten Wahrheit wähnen, ohne dabei zu behaupten – was viele tun –, dass alle Wahrheiten gleich sind, und ohne dabei absolute Deutungsmacht für sich zu reklamieren. Das ist der Standpunkt, den ich im letzten Abschnitt dieses Textes artikulieren möchte."
Geburt der Wissenschaft aus der ionischen Philosophie
Für die Darstellung dieses Weges wählt Rovelli eine Gestalt der frühgriechischen Philosophie, den ionischen Philosophen Anaximander von Milet. Er soll die entscheidende Wende im griechischen Denken herbeigeführt haben, die von einer durch Göttermythen geprägten Welterklärung zu einer auf Beobachtung der Phänomene basierenden Welterschließung geführt haben soll. In Anaximanders Kerngedanken findet Rovelli ein Ideal von wissenschaftlicher Forschung verwirklicht; der griechische Philosoph ist verantwortlich für die titelgebende "Geburt der Wissenschaft", für die Rovelli in seinem Buch werben möchte.
Dabei geht der Physiker durchaus gründlich vor. Das erste Kapitel versucht den Leser in die Welt des 6. Jahrhunderts vor Christus einzuführen, in der Anaximander gelebt hat. Vor diesem Hintergrund entfaltet Rovelli die Beiträge des ionischen Philosophen und stützt sich dabei auf angesehene Rekonstruktionen aus der griechischen Philologie: Von Charles H. Kahns 1960 erschienenem Standardwerk Anaximander and the Origins of Greek Cosmology bis zu den neueren Veröffentlichungen der Vorsokratiker-Forscher Dirk Couprie und Daniel Graham reichen seine Quellen. Dank Rovellis klarem Stil und der deutschen Übersetzung von Monika Niehaus entsteht so der Eindruck eines kenntnisreichen, sehr verständlichen und vor allem spannenden populärwissenschaftlichen Sachbuches. Rovelli weiß seinen Leser neugierig zu machen und für sein Thema zu begeistern; die Suche nach den Gedanken des antiken Philosophen Anaximander ist gestaltet wie ein "komplexes Puzzlespiel", so dass man auf dem Weg, ehe man sich versieht, eine ganze Menge gelernt hat.
Desolate Quellenlage bei Anaximander
Leider ist Rovellis Buch in dieser zentralen Hinsicht eine Mogelpackung. Das wird, dank der überzeugenden Machart, nur bei genauem Hinsehen deutlich. Dann aber wird die gesamte Darstellung fadenscheinig. Das Problem beginnt bei Rovellis Versuch, gleich drei sehr steile Thesen auf kaum mehr als 200 Seiten zur Entfaltung zu bringen: Einmal will er eine Darstellung wissenschaftlichen Denkens leisten, die gegenwärtige Fehlhaltungen korrigiert. Dann will er zeigen, wie sich dieses Denken selbst als Entwicklung der gesamten Menschheit darstellen lässt. Die Gegenwart kennt er gut, deswegen wählt er sich den Philosophen aus, der in allen gängigen Philosophiegeschichten als der erste genannt wird, von dem wir ein Satzfragment haben: Anaximander von Milet. Anders als Thales, der zumeist als erster Philosoph überhaupt genannt wird, belegt dieses Fragment eine Art Authentizität des Denkens. Deswegen ist Anaximander allerdings im 20. Jahrhundert auch Gegenstand aller Arten unredlicher Instrumentalisierung: Philosophen wie Wissenschaftler verleihen sich mit dem Rückgriff auf diesen ersten der argumentierenden Philosophen die Aura der Ursprünglichkeit. Diesem nicht mehr überbietbaren Anspruch steht allerdings die desolate Quellenlage gegenüber. Das ist keine Seltenheit: Es sind meistens die Dinge, über die man am wenigsten weiß, die sich deswegen für allerlei Inanspruchnahmen besonders gut eignen.
In Rovellis Text sorgt die Dynamik seiner anspruchsvollen Thesen für Sprünge und Widersprüche, die auch historiographische Referate aus der Fachliteratur nicht ganz verdecken können. So ist sich Rovelli völlig darüber im Klaren, dass das von ihm gewählte Vorbild der guten Wissenschaft als Quelle nicht viel hergibt. Gleichzeitig soll Anaximander aber als glänzendes Beispiel dienen. Das führt zu unfreiwillig komischen Formulierungen:
Er habe gar nicht, schreibt Rovelli, "das Ziel, [Anaximanders] Gedanken und sein konzeptionelles Universum so getreu wie möglich zu rekonstruieren". Er sehe ihn vielmehr mit den Augen "eines zeitgenössischen Naturwissenschaftlers, der sich Gedanken über das Wesen des wissenschaftlichen Denkens und auch über die Rolle dieses Denkens für die Entwicklung der Zivilisation macht."
Späte Schlüsse
Zugleich aber will Rovelli nicht nur "die in diesem Denken liegende gedankliche Tiefe beleuchten", sondern macht sogar eine bestimmte Wissenschaftsauffassung für die Unterschätzung des griechischen Philosophen verantwortlich: "Wenn Anaximanders Denken heute immer noch kaum bekannt und kaum verstanden ist, dann liegt das an der schädlichen Dichotomie zwischen Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft."
Man ist geneigt die Gegenfrage zu stellen: Nicht vielleicht an der Quellenlage? Denn diese Quellenlage ist das eigentliche Problem. Auch die Forschung, auf die Rovelli sich stützt, hat natürlich mit ihr zu kämpfen und macht deswegen eine ganze Reihe von Kompromissen: Anaximanders Philosophie kann, wie Rovelli an anderer Stelle zugibt, nur aus Quellen erschlossen werden, "die […] aus späteren Zeiten, indirekt berichten und nicht immer sehr zuverlässig sind." Die "späteren Zeiten", das sind nicht wenige Jahrzehnte oder vielleicht ein Jahrhundert – es handelt sich um einen Abstand von 200 bis zu 1100 Jahren. Aristoteles schreibt 200 Jahre nach Anaximander; wesentliche Teile der Rekonstruktion von Anaximanders Denken basieren jedoch auf Diogenes Laertios, der knapp 800 Jahre, und auf Simplikios, der die bereits genannten 1100 Jahre nach Anaximander schrieb. Von daher irritieren in Rovellis Buch, das sich der Problematik ja durchaus bewusst ist, solche Sätze wie "die Substanz von Anaximanders Denken müssen wir anderswo suchen". Es wirkt merkwürdig, wenn auf der einen Seite die Puzzlearbeit der Forschung und Rovellis ‚educated guesses‘ die Darstellung prägen, er auf der anderen Seite aber über die "phantasievollen Deutungen" spottet, zu denen Anaximanders einziger Satz angeregt hätte.
Übertünchende Bildungshuberei mit Beigeschmack
In gleicher Weise versucht Rovelli, die fehlenden Informationen zu Anaximander durch ein sogar auf die Weltgeschichte ausgreifendes Portrait des 6. Jahrhunderts zu ersetzen – da wimmelt es von Babyloniern und assyrischen Königen, gar von Olmeken und der Entstehung des Jainismus. Diese Bildungshuberei bekommt dort einen unangenehmen Beigeschmack, wo nach mehreren Halbsätzen zu verschiedenen Kulturen ein ganzer Absatz zur Grausamkeit der jüdischen Priester Jahwes folgt.
Umgekehrt wird aus der vorsichtigen Rekonstruktion mehrerer verschiedener Ansätze aus mehr als vier Jahrzehnten schon vor der Hälfte des Buches "Anaximanders naturalistische Weltsicht" bzw. "Anaximanders Naturalismus". Auf der nächsten Seite folgt dann wieder das Eingeständnis: "Wie konnte es Anaximander gelingen, das alles zu verstehen? Ich weiß es nicht […]."
Wie auch? "Das alles" bezieht sich auf Quellen, die Jahrhunderte nach Anaximander über ihn schreiben. Und so sehr man die Geschichte schüttelt, es fällt nicht mehr über Anaximander heraus als das, was eben schon drin ist.
Von dieser Hauptschwierigkeit abgesehen, ist Rovellis Buch vor allem in den Passagen ärgerlich, wo er der Darstellung in "Schulbüchern über Philosophie" zur ionischen Philosophie "ein wenig mehr Substanz […] verleihen" will. Der Anspruch, anhand eines Autors, den man nur indirekt erschließen kann, Naturwissenschaft zu begründen und Seitenhiebe an die Philosophie auszuteilen, wirkt allzu selbstbewusst. Das wird im weiteren Verlauf des Buches auch nicht besser: Es folgen eine eigene Version der Darstellung der ionischen Naturphilosophie (auf ganzen vier Seiten), eine Kulturgeschichte Griechenlands (Kapitel 7), Rovellis Version der Entwicklung der modernen Naturwissenschaft (Kapitel 8), eine Untersuchung zum vorwissenschaftlichen Denken (Kapitel 11). Stellenweise erinnert das Buch an typische Privatgelehrtenliteratur: ein berühmter Physiker setzt sich hin und schreibt auf, was ihm zu Anaximander und moderner Wissenschaft einfällt. Das ist oft interessant, hält unerwartete und im Detail überraschend sorgfältig recherchierte Abschnitte bereit und regt dazu an, die Antike mit neuen Augen zu sehen. Ob man dafür aber auf derart fragwürdige Mittel zurückgreifen muss, das ist dem Zweifel überlassen, der in Rovellis Buch eine mögliche, ganz sicher aber nicht die bestmögliche Antwort der Wissenschaft erblicken kann.
Carlo Rovelli: "Die Geburt der Wissenschaft. Anaximander und sein Erbe"
aus dem Französischen von Monika Niehaus
Rowohlt Verlag, Hamburg. 230 Seiten, 22 Euro.