Die Bewohner Afrikas: geeignet vor allem für ein Dasein als Sklaven. Die Menschen Asiens: unbrauchbar für schwere Arbeit. Allein die Europäer: fähig zu voll entwickelter Kultur. Wer so etwas äußert, den kann man wohl kaum anders titulieren denn als Rassisten. Und von dem dürfte man erwarten, dass er vornehmlich am Stammtisch zitiert wird und nicht in philosophischen Seminaren. Es sei denn, er hieße Immanuel Kant. Denn von dem stammen diese Zuschreibungen.
Und es handelt sich dabei nicht um ein paar unschickliche Bemerkungen, die der Königsberger Gelehrte irgendwo mal fallengelassen hätte. Sie stammen vielmehr aus seinen Vorlesungen, die noch heute Lehrstoff sind. In denen beschrieb Kant den Übergang des Menschen vom mehr oder weniger instinkt- und triebgesteuerten Naturwesen zum Träger einer allgemeinen Vernunft, berichtet die Münchener Philosophin Marina Martínez Mateo, die die "Critical Race Theory" vertritt:
"Die entscheidende Frage ist letztlich, wie kommt dieser Übergang zustande und wem wird er zugesprochen?"
Und die Antwort ist eindeutig: Dieser Übergang gelingt nach Kant nur in einem ganz besonderen Zusammenhang menschlicher Gemeinschaft.
"Die ist die Form der bürgerlichen Gesellschaft. Diese Struktur wird, wie immer wieder deutlich wird, außerhalb von Europa nicht vorgefunden. So erscheinen die Textstellen, in denen von der vermeintlichen Faulheit oder Arbeitsunfähigkeit verschiedener nicht-weißer Menschengruppen die Rede ist, in ganz neuem Licht. Wenn es etwa von den Indern heißt, sie seien zu schwach für schwere Arbeit, zu gleichgültig für emsige, und unfähig zu aller Kultur, dann wird deutlich, dass damit eine Aussage über die Verortung dieser Menschen im Verhältnis von Natur und Vernunft verbunden ist."
Unterschiede zwischen den Menschen an Hautfarbe festgemacht
Das ist der zentrale Vorwurf. Kant gilt zwar als Vertreter, ja sogar als Erfinder des Universalismus, der Gleichheit der Menschen und der Menschenwürde. Aber wenn man genauer hinschaue, sehe man eben, dass bei ihm nicht alle Menschen gleich seien. Zwar betont er mehrfach die Einheit der Gattung, und dass alle besonderen Fähigkeiten, die den Menschen auszeichnen und ihn von anderen Naturwesen unterscheiden, im Erbgut aller Menschen angelegt sind. Kant legt aber zugleich Wert auf, heute würde man sagen, genetische Unterschiede zwischen verschiedenen Menschengruppen, die er vor allem an unterschiedlichen Hautfarben festmacht.
"Den letzten Zweck der Natur zu verwirklichen, d.h. aus der Natur herauszufinden, sind nicht alle gleichermaßen in der Lage."
Allein die Weißen hätten alle menschlichen Fähigkeiten voll entfaltet. Die anderen seien auf Grund äußerer, Kant vermutet vor allem klimatischer, Faktoren auf weniger hohen Entwicklungsstufen stehen geblieben. Man könnte also zu dem Schluss kommen, wenn Kant im emphatischen Sinne die Vernunftbegabung des Menschen im Unterschied zu allen anderen Naturwesen hervorhebt, denke er insgeheim nur an die Weißen. Sein Werk sei in dieser Hinsicht zumindest widersprüchlich, bestätigt Christian Geulen, der sich als Historiker an der Universität Koblenz-Landau* vor allem mit einem Standardwerk zur "Geschichte des Rassismus" einen Namen gemacht hat.
"Kants Texte über Menschenrassen sind allemal ein Teil der altbekannten Dialektik der Aufklärung und damit ein Dokument ihrer Zeit. Kants Bemühen, die Unterschiede zwischen den Rassen anthropologisch zu beschreiben und rational zu erklären, hatte wenn nicht die Absicht, so mindestens aber den Effekt, die Ungleichbehandlung dieser Rassen unter Verweis auf ihre höhere oder geringere Vernunftfähigkeit zu rechtfertigen."
Kant ein Stichwortgeber für Rassentheoretiker?
Vor allem in Deutschland, wo sich zwischen der Reichsgründung 1871 und dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus 1945 aus allgemein verbreiteten rassistischen Ressentiments eine verfestigte Weltanschauung entwickelte, die nach gewaltsamem politischen Handeln verlangte.
"In dieser Zeit stieg die Zahl rassentheoretischer und rassistischer Schriften massiv an und viele von ihnen erreichten auch eine ungeheure Popularität. Und diejenigen, die versuchten, sich wenigstens noch den Anschein von Intellektualität zu geben, wurden nicht müde, auf die großen Theoretiker, Wissenschaftler und Philosophen der deutschen Klassik als Vorläufer ihrer rassentheoretischen Einsichten zu verweisen. Unter diesen Klassikern war auch immer wieder Immanuel Kant."
Kant also ein Stichwortgeber der radikalen Rechten? Zumindest historisch war er auch das. Als entlastenden Umstand könnte man anfügen, dass er es erst posthum wurde, sich also nicht wehren konnte. Aber fachlich wäre ein solcher Einwand viel zu kurz gegriffen, betont der Trierer Professor Bernd Dörflinger, Vorsitzender der Kant-Gesellschaft. Doch wenn man sich Kants Leben genauer anschaue, könne man erkennen, wie er sich und sein Werk im Laufe seines Schaffens weiterentwickelt habe.
"Kant hat seinen ganz außertheoretischen und außerphilosophischen Rassismus, der zuvor schon im impliziten Widerspruch zu seiner Moralphilosophie stand, in seiner Rechtsphilosophie dann tatsächlich explizit überwunden."
Abkehr von rassistischen Vorurteilen im Spätwerk Kants
Der Wandel von jenem Kant, der Sklaverei und Kolonialismus befürwortete, zu dem, der beides verurteilte, vollzog sich ungefähr von 1792 bis 1795. Danach war er bereit für sein Buch "Zum ewigen Frieden", in dem er aus seiner Moralphilosophie politische Schlussfolgerungen zog. Und für seine "Metaphysik der Sitten", in der er es als Aufgabe des Rechts bezeichnete, das angeborene Recht jedes Menschen auf Freiheit durchzusetzen.
Bernd Dörflinger: "Dieser Universalismus ist nämlich, obwohl Menschenrassen gar nicht explizit thematisierend, mit Rassismus absolut unvereinbar. Er impliziert die Einheit und Gleichheit aller Menschen."
Man kann also mit dem späten Kant über den frühen Kant hinausdenken, ihm quasi dabei zusehen, wie er mit der Entwicklung vor allem seiner Rechtsphilosophie seine rassistischen Vorurteile überdenkt und überwindet. Kann man dann nicht schlicht darauf verzichten, ihn moralisch zu verurteilen? Auf gar keinen Fall, widerspricht Marcus Willaschek, Professor für Philosophie in Frankfurt am Main.
"Wenn man Kants Äußerungen über die angebliche Faulheit und Dummheit nicht-weißer Menschen als rassistisch klassifiziert, ist das nicht in erster Linie eine moralische Verurteilung Kants, sondern eine Distanzierung von seinen Äußerungen, die wir den Opfern rassistischer Diskriminierung schuldig sind. Was Kant da geschrieben hat, ist moralisch falsch und abstoßend und daran gibt es nichts zu beschönigen."
Wirkt Kants früher Rassismus noch nach?
Kant persönlich einen moralischen Vorwurf zu machen, ist sinnlos. Der Mann ist schließlich mehr als 200 Jahre tot. Aber seine Philosophie bleibt bis heute wirkmächtig und gehört zur geistigen Grundausstattung aller westlich-orientierten Gesellschaften. Marcus Willaschek:
"Kants Äußerungen klar und deutlich als rassistisch und ihn als Rassisten zu bezeichnen, heißt also nicht, seine Größe als Philosoph in Frage zu stellen."
Aber was bedeutet es dann, dass er ein großer Philosoph war, wenn er auch ein Rassist gewesen sein sollte – obschon ein geläuterter? Wenn der Erfinder oder Entdecker der Menschenwürde und des Universalismus selbst eindeutig rassistische Vorurteile hegte, was sagt das dann aus über moderne liberale Gesellschaften? Wenn der wichtigste Philosoph der Aufklärung durch skandalöse rassistische Äußerungen auffällig wurde, was sagt das aus über alle ihm folgende Philosophie, die sich in die Tradition der Aufklärung stellte? Und was kann oder muss daraus folgen für heutige und zukünftige Philosophie? Darüber diskutieren Historiker und Juristen, Sozialwissenschaftler und Philosophen noch zwei weitere Monate an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.
* In der ersten Version stand eine falsche Hochschule. Wir haben das korrigiert. Das Audio haben wir gelöscht.