Die Erzählungen von Zeugen, die Einlassung der Angeklagten, sie sollen Licht in das scheinbar unergründliche Dunkel des Tatmotivs, einer Täter- oder Täterinnenpersönlichkeit bringen. Ist die Amerikanerin Amanda Knox ein "ganz normales Mädchen" oder ein Engel mit eiskalten Augen, Beate Zschäpe eine abhängige Frau oder eine mit Kalkül agierende Angeklagte? Glaubwürdigkeit ist daran geknüpft, wie Zeugnisgebende wahrgenommen werden.
Geschlecht ist eine basale Kategorie unserer Wahrnehmung und auch unseres Selbstkonzepts und beeinflusst in vielfacher, wenngleich nicht immer offenbarer Weise eine Aussage vor Gericht.
Melanie Grütter fragt in ihrem Essay zu Zeugenschaft danach, ob der Grundsatz von der Gleichheit beim Sprechen vor Gericht wirklich zutrifft. Sie hat zu Geschlechterfragen vor dem Strafgericht geforscht, arbeitet als freie Autorin, Lyrikerin und Wissenschaftlerin und lehrt derzeit an der Zürcher Hochschule der Künste.
Das Manuskript:
"Überblicke ich das Ganze, so ist es wie in der Erzählung: 'Da kam der Wind und riss den Baum um.' Ich weiß nicht, was das für ein Wind war und woher er kam. Das Ganze ist ein Teppich, der aus vielen einzelnen Fetzen besteht, aus Tuch, Seide, auch Metallstücke, Lehmmassen dabei. Es hat sich so ereignet; auch die Akteure glauben es. Aber es hat sich so auch nicht ereignet.' Alfred Döblin, Die beiden Freundinnen und ihr Giftmord."
Zeugenschaft ist ein wirkmächtiger Faktor in Bezug auf die Konstruktion von Geschlecht vor Gericht. Das Zeugnis ist einer der gesellschaftlichen 'Orte', an dem der Gedanke der Produktion und Reproduktion von Geschlechtsidentität der amerikanischen Gender-Theoretikern Judith Butler konkret und offenbar wird. Ein aktuelles Beispiel hierfür ist die Diskussion um die mutmaßliche Rechtsterroristin Beate Zschäpe. Ist Zschäpe Anführerin, Mitwisserin oder lediglich Hausfreundin der verstorbenen Täter Uwe Böhnhard und Uwe Mundlos gewesen?
Die einzige Überlebende des Nationalsozialistischen Untergrunds NSU hat im nun schon mehr als vier Jahre laufenden Prozess lange geschwiegen.
Die "Berliner Zeitung" schreibt:
"Und so greifen die Medien einerseits auf die Aussagen der wenigen Zeugen zurück, Nachbarn aus Zwickau und Urlaubsbekanntschaften zumeist, die Zschäpe nach ihrem Untertauchen 1998 kennenlernten. Andererseits wird versucht, jede Geste und jedes Mienenspiel der Angeklagten im Gerichtssaal zu deuten, aus Frisur und Kleidung auf Psyche und Geist zu schließen. "
Personenbeschreibung der Beate Zschäpe
Auch einer Begutachtung durch den vom Gericht beauftragten Forensiker Henning Sass hat sie sich entzogen. Sass musste das Gutachten auf seine Beobachtungen während der Verhandlungen stützen sowie auf die Aussagen von Zeugen und Zeuginnen, die über Beate Zschäpe in der Verhandlung berichteten.
"Die hübsche blonde Elli Link kam 1918 nach Berlin. Sie war 19 Jahre alt. Vorher hatte sie in Braunschweig, wo die Eltern Tischlersleute waren, angefangen, zu frisieren."
"Beate Zschäpe ist 16 Jahre alt, hat gerade ihren Hauptschulabschluss gemacht. Ihre Freizeit verbringt sie in einem Jugendklub um die Ecke."
"Der Friseur, bei dem sie arbeitete, fand sie fleißig, ehrlich, von sehr gutem Charakter."
"Völlig unauffällig, bisschen schüchtern. Klar hat sie, wie immer Mädchen in diesem Alter nach den Jungs geguckt, hat auch n bisschen kokettiert und hat, denk ich schon geguckt, welcher könnte mir denn hier gefallen. Ich habe nie erlebt, dass sie sich für Politik interessiert hat."
"Dass sie lebenslustig war, entging auch ihm nicht."
In den Aussagen diverser Zeugen und Zeuginnen, Nachbarinnen und Freundinnen, die Beate Zschäpe gekannt haben, aber auch in den Aussagen der Angeklagten wird deutlich, wie sehr darin selbst die Personenbeschreibungen vergeschlechtlicht sind. Dies bedeutet, dass oftmals typisch männliche oder typisch weibliche Eigenschaften hervorgehoben werden, um zu belegen, dass die Angeklagten normal sind, eine oder einer von uns; ein ganz normales Mitglied der Gesellschaft.
"Ihre Frage, Herr Untersuchungsrichter, ob ich Zimmermaler bin, vielmehr, sie haben gar nicht gefragt, sondern es mir auf den Kopf zugesagt, ist bezeichnend für die ganze Art des Verfahrens, das gegen mich geführt wird." Franz Kafka, "Der Prozess".
Zeugenschaft unterliegt gewissen Koordinaten der Gültigkeit
Auch der Autor, die Autorin eines literarischen Textes erzählt und bezeugt. Es spielt eine untergeordnete Rolle, ob er fiktional ist wie Franz Kafkas Prozess oder ob er auf realen Fällen basiert, wie "Die beiden Freundinnen und ihr Giftmord" von Alfred Döblin, das Theaterstück "Hexenjagd" von Arthur Miller oder "Das schweigende Mädchen" von Elfriede Jelinek, die sich direkt auf den aktuellen Fall bezieht. Die Texte bilden auch ein Zeugnis, allerdings eines, dessen fiktiver Gehalt durch die Kennzeichnung als Literatur eindeutig ist.
Aussagen von Zeugen und Zeuginnen vor Gericht sollen wahr und objektiv sein. Aber die Kategorien wahr und objektiv sind vergeschlechtlicht.
Die Philosophin Sybille Krämer schreibt: "Das Ideal der Zeugenschaft – jedenfalls so, wie es in der Rechtssphäre Profil gewinnt – ist das Unbeteiligtsein an eben jenem Vorgang, der zu bezeugen ist."
Zeugenschaft unterliegt gewissen Koordinaten der Gültigkeit: Diese stehen für die Glaubwürdigkeit der Aussage und des Zeugen an sich. Autorität, Kompetenz, Aufrichtigkeit und Zeugnisfähigkeit sind Aspekte der Zeugenschaft. An ihnen wird Glaubwürdigkeit gemessen. Sie sind nicht bei allen Zeugnisgebenden gleichermaßen vorhanden oder ausgeprägt. So gibt es Zeugen, deren Wort mehr Gewicht hat, weil sie als Experten auftreten. Dann wiederum gibt es Zeugen, deren Wort womöglich weniger zählt, weil sie zum Beispiel aus einem verdächtigen Milieu kommen.
Glaubwürdigkeit wird diskursiv hergestellt. Geschwätzigkeit, Lüge und Verstellung sind weiblich konnotierte Aspekte. Die den zeugenbeweissichernde Vernunftrede und Objektivität des Berichts wird dem Männlichen zugeschrieben. Skepsis gegenüber weiblichen Zeugen zieht sich durch die gesamte Rechtsgeschichte, hat die Literaturwissenschaftlerin Christine Künzel anhand von Vergewaltigungsprozessen gezeigt:
"Als Rechtssubjekt gilt die Frau erst seit der vorletzten Jahrhundertwende; ihre behauptete Nähe zum Kind und Kindlichen verhindert eine vollkommene Anerkennung als Zeugin in Gerichtsprozessen."
"Der Topos der weiblichen Geschwätzigkeit suggeriert, dass es in der weiblichen Rede/Aussage einen Überschuss, ein Zuviel an Details, Worten, Ausschmückungen gebe, das der Ermittlung von reinen Fakten wie sie das Rechtsverfahren fordere, entgegenstehe."
Eine emotionale Anteilnahme, wie sie Frauen oftmals zugeschrieben wird, wird einerseits eher als problematisch angesehen, andererseits ist die kalte Rede der Frau ebenso stets suspekt.
"Sie können sich nicht erinnern? Sie wissen gar nicht, ob da etwas war, an das sie sich erinnern sollten? Sie haben es erst nachher erfahren, dass vorher etwas war, bei dem sie dabei waren?" Elfriede Jelinek, "Das schweigende Mädchen".
"Das Zeugnis erscheint als Medium von Wissen"
Zeugen übernehmen mit ihrer Präsenz vor dem Strafgericht Verantwortung für ihre Aufrichtigkeit; diese wird eingefordert und gesichert, zum Beispiel durch den Eid oder die eidesstattliche Erklärung. Die moralische Verantwortung des Zeugen besteht in seiner Integrität, sie macht die Evidenz der Zeugenaussage aus. Ein Zeugnis, so die Philosophin Sibylle Schmidt, "ist zwar kein gesichertes Wissen, wird aber in seiner Sinnstiftung evident. Es bekommt einen fundamentalen Wert für die Orientierung unseres Denkens und Handelns: Das Unfassbare einer verbrecherischen Tat wird so sinnvoll eingeordnet und die Geschehnisse werden biografisch kontextualisiert."
Wissen aus Zeugenaussagen wird bedeutsam und auswertbar, wenn die Zeugenschaft rational abgesichert ist. Die Zeugenaussage soll Ungewissheit verringern und Gewissheit vermitteln. Das Zeugnis ist demnach kein als real und objektiv anzusehender Tatsachenbericht, sondern Zeugenschaft ist durch diese Sichtweise erheblich offener zu bewerten. Sybille Schmidt:
"Das Zeugnis erscheint als Medium von Wissen von und um Tatsachen – was natürlich nicht ausschließt, dass es gerade aufgrund seiner scheinbaren Faktizität und Objektivität für religiöse und politische Diskurse funktionalisiert wird."
Oder werden kann. Bezeugungen wurden und werden einerseits in der juristischen Praxis als beweisführend angenommen, allerdings gilt der Zeuge auch als notorisch unzuverlässig in seinem Erzählen. Sibylle Schmidt schreibt:
"Das Zeugnis kann so keine Gewissheit erzeugen. Der Hörende muss glauben".
Die Zeugenaussage ist ein Teil der Konstruktion von Täterin oder Täter. Die Aussagen der Zeugen vor Gericht stellen sie narrativ her. Zeugenaussagen erzählen die Täterin ebenso nach, wie die Täterin die Tat nacherzählt.
Auftritt des Zeugen - mehr als Inhalt der Aussage
Der Literaturwissenschaftler Thomas Weitin:
"Den Auftritt des Zeugen zu beobachten, das bedeutet im Unterschied zum Lesen eines Protokolls nicht nur den Inhalt der Aussage, sondern gleichzeitig die mimischen und gestischen Zeichen, die sie begleiten, aufzunehmen und zu verarbeiten."
Im Fall Zschäpe hat dies vor allem der forensische Gutachter Henning Sass getan. Der Zeuge verkörpert den narrativen Kern des Rechts. In der Verhandlung wird das Geschehen nacherzählt.
"Im Drama der mündlichen Hauptverhandlung sind sämtliche Akte von der Verlesung der Anklage über die Zeugenaussagen bis zur Verkündung des Urteils Transformationen von Akten in gesprochene Worte."
Nach Thomas Weitin stellt die Prozessführung vor dem Gericht einen theatralen Akt dar.
"Der theatrale Akt verleiht den Akten ihre Beweiskraft."
Schon im Vorhinein wurde alles zu Protokoll gegeben und in Akten zusammengefasst und archiviert. Weitin weist darauf hin, dass reine Mündlichkeit im Recht trotz ihrer Installierung als Prinzip nicht vorkommt. Der Literaturwissenschaftler Joachim Linder ergänzt:
"Das Strafverfahren ist als Prozess der Signifikation zu verstehen, der sich im Rahmen eines festgelegten Ablaufs und mithilfe von Geschichten, Erzählungen realisiert. […] Das Strafverfahren wird als eine ‚Aufführung‘ konzipiert, in der nach festgelegten Rollenvorgaben und gleichsam nach ‚Drehbuch‘ Vergangenheit vergegenwärtigt und im Sprachspiel Schuld zugerechnet wird. Der inszenatorische Aspekt der Verhandlung ist eng mit einer erzählerischen Vergegenwärtigung des vergangenen Geschehens verknüpft. Die Tat wird jeweils nacherzählt, sei es mit Worten oder auch mit Dingen, mit der Rekonstruktion am Tatort, den Mordwaffen und Indizien."
Dies ist ein sehr wichtiger Gedanke: Linder weist darauf hin, dass im Strafprozess durch Bezeichnung und Benennung von Tat und Tatbeteiligten das Geschehen nicht nur im alltagssprachlichen Sinne 'rekonstruiert' wird, sondern die Nacherzählung selbst als neue Geschichte, als eine Konstruktion angesehen werden muss. Die Gerichtsverhandlung selbst ist also als eine fiktive Nacherzählung der Geschehnisse lesbar.
Gerichtsverhandlung als eine "Bühne der Normierung"
Die Theaterwissenschaftlerin Gabriele Brandstetter spricht von der Gerichtsverhandlung als einer "Bühne der Normierung" des Körpers. Schon in den 1920er-Jahren wurde in der Fachliteratur vom Gericht als einer Arena der Norm gesprochen. Das Gericht wird zur Arena, zum Schauplatz, auf dem das Normale und das Abweichende verhandelt, präsentiert und nicht nur reproduziert, sondern auch aktiv hergestellt wird. Denn vor Gericht steht zwar eine Person, nie aber kann sie in ihrer Ganzheitlichkeit, oft auch nicht in ihrer Menschlichkeit erfasst und besprochen werden. Geurteilt wird über einen Teil des Ganzen.
Die Massenmedien als Organ verbreiten diese Botschaften vom guten, vom richtigen, vom normalen und vom abweichenden Menschen. Sie tragen sie aus dem Gerichtssaal in die Öffentlichkeit. Das Normale ist ebenso wie Geschlecht eine abhängige Kategorie: Das Normale ist ohne Devianz nicht denkbar. Einen wichtigen Unterschied in der Wertigkeit der Zeugenaussagen macht das Geschlecht der oder des Bezeugenden.
Zeuginnen werden tendenziell als weniger glaubwürdig wahrgenommen. Von großer Relevanz ist dies in Vergewaltigungsprozessen, wie die Literaturwissenschaftlerin Christine Künzel gezeigt hat. Die Soziologin Hannelore Bublitz stellt fest:
"Geschlechterstereotypien sind in Bezug auf alle Agierenden wirksam, die vor Gericht erscheinen."
Bei Täterinnen wird zumeist ihr Verhältnis zu Kindern von großer Beweislast für ein Normalsein angeführt. Ein eindeutig erkennbares Frau- oder Mannsein, das Sich-Halten an die Regeln der gesellschaftlich vorgegebenen Rolle wird nicht nur gesellschaftlich, sondern auch vor Gericht oft belohnt. Zeugen und Zeuginnen sind hier wichtige Wegweiser. So sagt Zschäpes ehemalige Nachbarin Heike K. in einer Dokumentation des NDR über Beate Zschäpe: Die nette Terroristin von nebenan:
"Wenn die Tür aufging und die Lisa stand vor der Tür, da war die Welt in Ordnung. Die war auch zu Kindern herzensgut, auch zu den anderen Kindern, die jetzt hier auf der Straße gewohnt haben. Wenn die Kinder die von Weitem schon gesehen haben, sind sie ja auch schon hingerannt."
Und eine andere Nachbarin fügt an:
"Da eine Zeitung geholt, da Schokolade mitgebracht. Die Kinder haben sich, egal, welches es war, gefreut, dass die Lisa kommt."
Normalität als Gegenpol zur kriminellen Abweichung wird vielfach über Geschlecht hergestellt. Nichts kann an Zschäpe so abnormal sein, wenn sie doch, wie es sich für eine Frau gehört, so beliebt bei Kindern ist. Kinder- und Mutterliebe ist ein normativer Aspekt des Weiblichkeitsideals. Auch Passivität ist demgemäß weiblich konnotiert.
Vor Gericht - in der Arena der Norm - wird auch um Deutungsmacht gestritten. Disziplinen und ihre Experten kämpfen auf der Bühne des Gerichts um die Gültigkeit ihrer Definitionen und der Setzung ihrer Wahrheiten; um die Etablierung ihrer wissenschaftlichen Bedeutung und Macht, auch im Sinne der Institutionalisierung der Disziplinen.
Geschlecht als eine der wichtigsten Achsen der Bezeugungen vor Gericht
Zschäpes Wahlverteidiger Hermann Borchert und Mathias Grasel beauftragten einen weiteren Gutachter, Joachim Bauer, Psychiater in München. Dieser "Expertenzeuge" diagnostizierte der Angeklagten eine dependente Persönlichkeitsstörung. Die Diagnose beschreibt eine Störung, bei der die Betroffenen unter anderem unter starker Trennungsangst leiden und ein abhängig-klammerndes Verhalten, große Selbstunsicherheit sowie die Unfähigkeit, eigene Entscheidungen zu treffen zeigen: Eigenschaften, die vorwiegend dem schwachen Geschlecht, also Frauen zugeschrieben werden.
Hier zeigt sich eine Komponente der Vergeschlechtlichung, die durch Bauers Lesart der Persönlichkeit Beate Zschäpes offenbar wird. Geschlecht ist eine der wichtigsten Achsen der Bezeugungen vor Gericht. Diese ist von großer Bedeutung, möchte man die Grundlage für die Bewertung von Zeugenaussagen verstehen, die, wie es die Philosophin Sibylle Krämer genannt hat, Grammatik der Zeugenschaft, unter die Lupe nehmen.
"Der zweite Sachverständige war der Sanitätsrat Dr. H., untersetzt, breit, mit buschigem herab hängenden Schnurrbart. Er ist ein nüchterner, exakter Mensch, ein Wissenschaftler, auch ein Kämpfer. Er ist der Mann, der in Fällen dieser besonderen Art, der Beziehung Gleichgeschlechtiger, die größte praktische Erfahrung hat. Er kam zu dem Schluss, dass dieser langsame Giftmord das Ergebnis eines tiefen Hasses sei. ....Die Ursache für den tiefen Hass sieht er vor allem in der gleichgeschlechtigen Veranlagung der Frauen, die infolgedessen die Zumutungen ihrer Männer äußerst schwer empfanden. Der vierte Sachverständige Dr. L. lehnte jede Milderung ab. Er stellte fest, dass die Angeklagte Link sich in ihrer Lebensführung nie unselbstständig gezeigt habe." Alfred Döblin, "Die beiden Freundinnen und ihr Giftmord".
Die Gutachten werden vom Gericht und von der Presse abgeglichen. Ob die Zeugenschaft geringerwertig wirksam für einen Urteilsspruch wird, hängt davon ab, ob der Zeuge an sich durch Person und Aussage glaubwürdig ist und überzeugen kann. Das zeigt der Fall des Gutachters Bauer. Das Vorgehen dieses Expertenzeugen, der im Gegensatz zu Henning Sass keinerlei forensische Erfahrung hat, wird als unprofessionell eingeschätzt. Sein Gutachten wird vor Gericht nicht von Relevanz sein.
Wahrnehmung der Zeugnisgebenden
Die Wertigkeit eines Zeugnisses ist daran geknüpft, wie Zeugnisgebende wahrgenommen werden. Das Geschlecht als basale Kategorie unserer Wahrnehmung und auch unseres Selbstkonzepts beeinflusst in vielfacher, wenngleich nicht immer offenbarer Weise eine Aussage vor Gericht. Es ist als solch basale Kategorie historischen Bedingtheiten unterworfen und mit anderen Kategorien intersektional, sich überschneidend, verknüpft. Die Idee der schwachen Frau scheint in einer im Sinne des Feminismus emanzipierten Gesellschaft überholt, doch wird sie vor Gericht oft zitiert.
Die Grammatik der Zeugenschaft ist de jure, also laut Gesetz, unsichtbar, de facto: nach Tatsachen, wenig reflektiert. So lässt sich aus der Perspektive der Geschlechterforschung fragen, ob der Grundsatz von der Gleichheit beim Sprechen vor dem Richter wirklich zutrifft.
"Es war ein Mensch, von Gott gesandt, der hieß Johannes. Der kam zum Zeugnis um von dem Licht zu zeugen, dass sie alle durch ihn glaubten." Johannesevangelium Kapitel 1, Verse 1-8.
Ein Blick in die Etymologie des Wortes Zeuge legt eine Spur zu den Wurzeln seiner vergeschlechtlichten Bedeutung. Die Ableitung der Bedeutung des Wortes "Zeuge" ist strittig. Der Literaturwissenschaftler Thomas Weitin leitet den Begriff "Zeuge" von "zeug", beziehungsweise mittelhochdeutsch "ziuc, geziuc" ab, das heißt "Herangezogenes"; sowohl, wie er schreibt, "im Sinne der für eine Arbeit benötigten Gerätschaften als auch in der Bedeutung des herbeizitierten Zeugen, der durch seine Aussage einen zur Wahrheitsermittlung notwendigen Beweis erbringen soll. 'Geziuc' in dieser Verwendung heißt: 'Ziehung vor Gericht'."
Der Begriff des Rechtszeugen "testis" meint in seiner historisch älteren Bedeutung "Garant" und Beistand. Er weist damit auf die Orientierungsfunktion hin, die das Zeugnis in einer Gerichtsverhandlung hat. Der Begriff "testis" verweist außerdem auf den männlichen Hoden "testiculus". Zeugen meint hier sowohl erzeugen im Sinne von erschaffen als auch bezeugen in Rechtsangelegenheiten. Die Definitionen allerdings haben keinerlei Absolutheit. Sie sollen als heuristische Denkmuster, also im Sinne von Versuch und Irrtum dazu dienen, Zeugenschaft und ihre Ausformungen fassbar zu machen. Der Philosoph Giorgio Agamben spricht vom Zeugen vor Gericht als einem unbeteiligten Beobachter, als Figur des Dritten, die Distanz zum Geschehen und Unparteilichkeit auszeichnet.
"Die meisten Seelendeutungen sind nichts als Romandichtungen. Mit dem Kausalitätsprinzip frisiert man. Zuerst weiss man, dann wendet man die Psychologie an." Alfred Döblin, "Die beiden Freundinnen und ihr Giftmord".
Beate Zschäpe ließ in ihrer Einlassung vor Gericht erklären, sie sei von ihren Männern abhängig gewesen, insbesondere von Uwe Mundlos, der sie auch körperlich misshandelt haben soll. Mit den Morden sei sie nicht einverstanden gewesen und habe mit beiden Uwes darüber lautstark gestritten. Dem NSU will sie nicht zugehörig gewesen sein. Zschäpe habe ihre Situation im Untergrund schon früh als ausweglos empfunden und sei durchgängig emotional bedrückt gewesen. Aussagen von Urlaubsbekanntschaften und langjährigen Wohnungsnachbarn stehen dem ebenso entgegen wie das Gutachten des Expertenzeugen Henning Sass. Zschäpe wird von vielen Zeugen grundlegend als meinungsstark, politisch, aktiv und unabhängig beschrieben. Auch Indizien wie Fingerabdrücke auf Beweismaterial weisen auf eine aktive Mittäterinnenschaft Zschäpes hin. Die Version von der schwachen, abhängigen ja, dependent persönlichkeitsgestörten Frau wirkt nicht glaubwürdig. Die Sicht von außen auf Beate Zschäpe korreliert nicht mit dem, wie sie sich selbst beschreibt oder besser: beschreiben lässt.
Selbstdarstellung und Geschlechterwissen
Auch in der Selbstdarstellung wird Geschlechterwissen vor Gericht quasi vorgeführt. Die Angeklagten sind durch ihren Auftritt als deviant, also abweichend, kriminell, verdächtig usw. markiert und versuchen nun, ihre Normalität zu verhandeln, zu zeigen, dass sie normal sind. Wenn sich Brüche in der Übereinstimmung zwischen dem anatomischen Geschlecht, der Geschlechtsidentität, der sexuellen Praxis und dem Begehren einer Person ausmachen lassen, werden diese zu Schlüsselmomenten der Behauptung abweichender Eigenschaften.
Es geht in der Selbstaussage vor Gericht deshalb auch darum, stattdessen den Eindruck von Eindeutigkeit zu erzeugen. Zschäpe versucht dies, ob strategisch bewusst oder unbewusst, indem sie auf Schwäche und Dependenz zurückgreift.
Die Erklärung des Angeklagten vor Gericht wird auch moralisch ausgewertet. Je egoistischer eine Selbstaussage klingt, desto höher die Strafzumessung. Zschäpes Einlassung und der Versuch der eigenen Entlastung kippt hier um. Von Zeugen und Zeuginnen wird sie als aktiv und stark dargestellt wird. Mit ihrem selbstbewussten, meinungsstarken, politisch aktiven und damit männlich konnotierten Auftreten hat sie mit traditionellen Rollenmustern gebrochen. Indem sie nun versucht, sich in ihrer eigenen Bezeugung auf traditionelle Rollenmuster zu beziehen, wird sie umso weniger glaubwürdig.
Die Rechtswissenschaftler Aldo Legnaro und Astrid Aengenheister schreiben: "Frauen werden forensisch vor dem Hintergrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Heteronomie wahrgenommen; ihr Handeln zeichnet sich in den gerichtlichen Rekonstruktionen primär durch ein ‚Dasein für andere‘ aus".
Vorstellungen von Geschlechtscharakteren funktionieren als Folie, vor der die individuelle Schuld der oder des Angeklagten beurteilt wird. Sie kommen als solche auch in der Bezeugung der Angeklagten selbst zur Geltung. Beate Zschäpes ehemaliger Ausbildner sagt über sie:
"Frau Zschäpe ist mir in Erinnerung als eine junge, an vielen Dingen interessierte Frau, die eine eigene Meinung hatte, die in der Gruppe auch eine Meinungsführerschaft hatte".
Diese Sichtweise steht im Kontrast zu der Einschätzung als ohnmächtig-abhängige Frau, die in dem Gutachten Bauers erzählt wird. Frauen innerhalb von Täter*innengruppen werden oft entweder als Anstifterinnen oder als von einer männlichen Anführerperson Abhängige gesehen. Dies sind auch die Positionen, die sich beispielhaft im Fall Zschäpe zeigen. In diese Richtung weisen Aussagen eines ehemaligen Jugendklubbetreuers, nämlich dass: "sie sich nicht nur mit ihren Männern solidarisiert (hat), sondern sie hat ihren Männern auch gezeigt, dass sie nicht nur ein Anhängsel ist, sondern dass sie selbst wer ist."
Ganz klar wird es aber bei der Aussage des Cousins Zschäpes: "Sie hatte ihre Jungs im Griff."
Die Behauptung der Schwäche
Ein Bootsmotorenverkäufer erinnert sich an ein 'sehr dominantes Auftreten' Zschäpes. Für Frauen entspricht die Performanz von Schwäche vor Gericht, dem normalen Rollenbild, das der Frau zugeschrieben wird. Es wirkt als "Normalisierungsinstanz". Aktives selbstbezogenes Handeln hat den gegenteiligen Effekt. Dass Zschäpe somit in ihrer Selbstdarstellung auf das Bild der abhängig liebenden Frau zurückzugreifen versucht, unterliegt der Logik des Geschlechts. Es ist die Folie der geschlechtlichen Eindeutigkeit, die Normalsein behauptet. Wenn sie funktioniert, kann das strafmildernd wirksam werden. Was sich wahrscheinlich auch Beate Zschäpe erhoffte. Die Behauptung der Schwäche fällt aber im doppelten Sinne negativ ins Gewicht, denn sie wird in der moralischen Auswertung als egoistischer Versuch der Selbstentlastung gewertet.
Vor Gericht – so lässt sich schließen – wird die imperativ wirksame Vorstellung einer polarisierten Geschlechtlichkeit exemplarisch (re-)produziert; Man hat eindeutig Mann oder Frau zu sein und sich nach dem vorgegebenen Rollenmuster zu verhalten. Es wird verhandelt und be- und verurteilt und schlussendlich vorgeführt, was als normal oder abweichend gilt. Der Zeugnisakt ist eine Neukontextualisierung: Er wird als kognitive Verarbeitung von Zeit – in Form von Erinnerung –, in der wiederum die Täterin im Sinne der Nacherzählung der Geschehnisse erst hergestellt wird, wirksam. Die Reflexion der Koordinaten dieser Nacherzählung unterbleibt oftmals. Sie wird selten einer komplexeren Betrachtung unterzogen. Der Zeugenstand ist eine Konstruktion, er ist ein prekärer, ein vergeschlechtlichter Ort. Der Fall Zschäpe führt dies sehr lebendig vor.
Die Angeklagte schweigt zuweilen. Die vielen Fetzen, der Teppich, er fügt sich schwerlich zusammen.
"Die Züge nehmen das Mädchen mit, das hier nicht spricht, obwohl es viel zu sagen hätte. Das Mädchen tritt vor uns hin und sagt nichts, zumindest bis jetzt."