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Wladimir Grinin
"Militärparade ist keine Machtdemonstration"

Der Tag des Sieges über Nazideutschland am 9. Mai sei in Russland eine Art Überlebensfeiertag für diejenigen, die das Land befreit haben, sagte Russlands Botschafter in Deutschland, Wladimir Grinin, im Interview der Woche. Dennoch bleibe der Kurs gegenüber Deutschland die Versöhnungspolitik. Der Botschafter äußerte sich auch zur Ukraine-Krise und den Beziehungen zur EU.

Wladimir Grinin im Gespräch mit Birgit Wentzien |
    Wladimir Michailowitsch Grinin (Botschafter der Russischen Föderation in der Bundesrepublik Deutschland) in der ARD-Talkshow GÜNTHER JAUCH am 15.02.2015 in Berlin Thema der Sendung: Merkels Mission - Wie groß ist die Hoffnung auf Frieden?
    Wladimir Michailowitsch Grinin, Botschafter der Russischen Föderation in der Bundesrepublik Deutschland (imago/Müller-Stauffenberg)
    Birgit Wentzien: In den kommenden Tagen jährt sich das Ende des Zweiten Weltkriegs zum 70. Mal. Herr Botschafter, Willkommen zum Interview der Woche des Deutschlandfunks. Wir wollen bitte über die Erinnerung sprechen, über die Veränderung der Erinnerung an diese entscheidenden Tage und natürlich zuerst über die Bedeutung des Großen Vaterländischen Krieges für Russland. Wie bedeutsam ist dieser Einschnitt, ist diese Zeit für Russland seither und jetzt?
    Wladimir Grinin: Ja, vielen herzlichen Dank für die Einladung zu diesem Interview. Ich kann sagen, der Große Vaterländische Krieg war und bleibt für uns sehr bedeutend. Und er wird zuerst einmal wahrgenommen als eine Tragödie und gleichzeitig als eine Heldentat. Wir haben unser eigenes Land befreit. Wir haben geholfen, auch Europa und die ganze Welt von der Nazi-Diktatur zu befreien. Und wir sind eigentlich stolz deswegen.
    Wentzien: Deutschland hat ja erst sehr spät, nämlich 1985 mit Richard von Weizsäcker, von einer Befreiung in Deutschland gesprochen. Hat es ähnliche Zeiträume gebraucht, um diese Deutung in Russland zu erreichen oder festzustellen?
    Grinin: In Ihrer Frage höre ich einen Zweifel - können Sie mir verdeutlichen, worum es geht?
    Neue Komponenten der Erinnerungskultur
    Wentzien: Hat sich die Erinnerung verändert in dieser Zeit? Es sind jetzt 70 Jahre, das sind ja fast drei Generationen.
    Chefredakteurin Birgit Wentzien und der russische Botschafter Wladimir Grinin sitzen in einem Wohnzimmer.
    Chefredakteurin Birgit Wentzien mit dem russischen Botschafter Wladimir Grinin (Deutschlandradio / Thomas Schütt)
    Grinin: Das stimmt. Natürlich gibt es neue Komponenten sozusagen in dieser Erinnerungskultur. Das Erste, was wir alle verstehen müssen, ist die Tatsache, dass sehr viele Kriegsteilnehmer und Augenzeugen des Krieges nicht mehr bei uns sind, und deswegen ist die Erinnerungskultur in eine andere Phase eingetreten. Und von solchen Leuten wie von mir oder meinen Kindern wird das etwas - wie soll ich sagen - "geschrieben" wahrgenommen, nicht authentisch sozusagen. Aber das besagt nicht, dass der Grundsatz der Wahrnehmung anders geworden ist. Vielleicht weniger Emotionen, mehr Tatsachen, aber ich kann nicht sagen, dass es im Grundsatz anders geworden ist.
    Wentzien: Wladimir Putin, Ihr Präsident, spricht vom "wichtigsten und ehrlichsten Feiertag des großen Sieges". Warum dieser Superlativ "der wichtigste und ehrlichste Tag"?
    Grinin: In gewissem Sinne ist das eigentlich ein Zeugnis der - wie soll ich sagen - nationalen Identität, obwohl das Wort "nationale Identität" kaum anwendbar ist bei uns in Russland, in der früheren Sowjetunion, weil wir über hundert Nationalitäten haben bis jetzt noch, und ich würde sagen, das ist eine Identität der Bürger. Und dieser Große Vaterländische Krieg und der Sieg in diesem Zweiten Weltkrieg hat die Identität unserer Bürger ohne Weiteres geprägt. Und das war nicht der erste Fall. Der erste war wahrscheinlich der Große Vaterländische Krieg gegen Napoleon, Anfang des 19. Jahrhunderts. Der Zweite Weltkrieg war natürlich für uns auch der Beweis dafür, dass wir zu einem Land gehören, dass unsere Leute unser Land verteidigen wollen. Und dass sie das können, das ist ein Stolz.
    Wentzien: Das ist heute auch noch so, also diese Größe, als Bürger für ein Land zu stehen, das sich ja verändert hat in den sieben Jahrzehnten? Aber es selber auch verteidigen zu können, also wehrhaft zu sein, ist auch noch eine wichtige Geschichtslinie heutzutage?
    Grinin: Das ist eine wichtige Geschichtslinie. Und ich glaube, das ist ein Teil der Erinnerungskultur, die eigentlich sehr sorgfältig gepflegt werden sollte. Nicht nur deswegen, weil wir unsere Landsleute gemeinsam halten wollen - das ist offensichtlich die Tatsache -, aber auch deswegen, weil diese Erinnerungskultur eigentlich uns allen beibringt, dass der Krieg, so ein Krieg, nie wiederholt werden darf. Und das ist die Lehre, die wir gezogen haben.
    Sieges- und Trauertag zugleich
    Wentzien: Nun sagt ja Erinnerung oftmals - das sehen wir in Deutschland, das sehen wir in Russland, das sehen wir weltweit - sehr viel mehr aus über die Generation, die sich gerade erinnert, als über die Zeit, an die erinnert wird. Also Erinnerung verändert sich auch. Wenn Sie betonen, dass es ja zunächst einmal auch eine Tragödie war, dieser Einschnitt damals und eine immense Trauer, würden Sie sagen, dass die Ziele des Sieghaften zugenommen haben in den sieben Jahrzehnten seither, also dieses Selbstbewusstsein, dass Sie gerade beschrieben haben?
    Grinin: Das würde ich nicht sagen. Natürlich stimme ich Ihnen zu in dem Sinne, dass früher viel mehr darüber nachgedacht wurde, wie viel wir verloren haben und was wir verloren haben während dieses Krieges. Heute ist das ein bisschen zurückgegangen. Aber damals, wie auch heute, ist es für uns ein Tag des Sieges und es ist für uns gleichzeitig ein Trauertag. Das ist unverändert geblieben, mit einigen wenigen Akzenten, die Sie selbst genannt haben. Und ich stimme Ihnen zu, das ist wirklich die Tatsache, weil diejenigen, die gekämpft haben - das sind gute zwei oder drei Millionen -, die sind bald nicht mehr am Leben.
    Wentzien: Fürchten Sie diesen Einschnitt? Das geht ja allen Nationen ähnlich, dass, wenn die Zeitzeugen gar nicht mehr da sind, dass sich dann auch die Erinnerung verändern wird?
    Grinin: Natürlich ist das eine interessante Frage, und natürlich müssen wir uns eigentlich konfrontieren mit dem Versuch der Geschichtsklitterung. Das ist wirklich so. Aber ich muss sagen, wo es bei uns zum Beispiel zur Vielfalt der Meinungen gekommen ist, besonders nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, ist trotzdem dieser Grundsatz, diese grundsätzliche Wahrnehmung des Krieges als ein Vaterländischer Krieg, als der Krieg, der uns eine Tragödie gebracht hat. Das ist eigentlich geblieben. Aber hier sind eigentlich die Möglichkeiten entstanden, dass irgendwie zu korrigieren. Wie gesagt, besonders nachdem diese, aus unserer Sicht falsche Interpretation des Krieges besonders aktiv eingesetzt worden war, sind diejenigen für unsere Wahrnehmung auch aktiver geworden in der Bestätigung dessen, was wirklich passiert ist.
    "9. Mai ist ein Überlebensfeiertag"
    Wentzien: Wenn wir auf den diesjährigen 9. Mai schauen, dann wird in Moskau die größte Militärparade und -präsentation aller Zeiten zu sehen sein - das ist der Plan. 15.000 Soldaten, 200 Panzer und Geschütze und Raketen, 140 Kampfflugzeuge. Botschafter Grinin, warum diese Machtdemonstration heute, 70 Jahre danach?
    Grinin: Ich glaube nicht, dass es um eine Machtdemonstration geht. Ich glaube, das ist in gewissem Sinne - vielleicht klingt das etwas zynisch, aber trotzdem ist es die Wahrheit - vielleicht der letzte Feiertag solcher Art, ein Überlebensfeiertag für diejenigen, die das mitbekommen haben, die das Land befreit haben. Deswegen will man das entsprechend organisieren, allen zeigen, dass wir nach wie vor dazu stehen, zu diesen Kämpfern, zu diesen Helden und so weiter.
    Wentzien: Die Bilder, die jetzt auch schon zu sehen sind von verschiedenen Veranstaltungen im Vorfeld des 9. Mai zeigen ja Wladimir Putin auch im Kreise der Veteranen umringt. Wenn wir diese Macht- oder, sagen wir mal, die Erinnerungsdemonstration auf der einen Seite zu Ehren der Überlebenden und der noch Lebenden, wie Sie sagen, sehen und wenn wir zugleich sehen, dass aber die Zahl derjenigen, die eingeladen worden waren - Staats- und Regierungschefs - minimalst ist, die jetzt zum 70. Jahrestag nach Moskau kommt, was hat das wiederum zu bedeuten? Es waren ja 60, 70 Staats- und Regierungsrepräsentanten eingeladen, und eine kleine Zahl kommt nur.
    Grinin: Das brauche ich Ihnen kaum zu erklären, worum es geht.
    Wentzien: Doch, bitte.
    Wladimir Putin während der Militärparade in Moskau. Er blickt ernst.
    Wladimir Putin während einer Militärparade in Moskau (Yuri Kochetkov, dpa picture-alliance)
    Grinin: Es geht um die Situation in der internationalen Politik, wo wir in gewissem Sinne zu Geiseln der Ukrainekrise geworden sind - wir, Russland, und die Europäische Union, glaube ich, genau so. Und wir müssen das alles in Kauf nehmen.
    Wentzien: Donald Tusk, der frühere polnische Premier und jetzige Ratsvorsitzende und damit Sprecher der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union, spricht von "Doppelbödigkeit". Er hat zum Beispiel seine Abwesenheit - er war auch eingeladen - in Moskau begründet mit den Worten: "Neben den derzeitigen Aggressoren und jenen zu stehen, die im Osten der Ukraine Waffen gegen Zivilisten einsetzen, das wäre für mich, gelinde gesagt, doppelbödig." Darum sei er nicht dabei. Was sagen Sie dazu? Tusk ist ja nicht alleine mit diesem Vorwurf und dieser Kritik.
    Grinin: Lassen Sie mich nicht die Worte des großen Politikers kommentieren. Ich werde das Ihrem Gewissen überlassen, genau wie Aussagen ähnlicher Art von manch anderen Politikern. Aber für uns ist das eine absolut andere Wahrnehmung als von denjenigen, die die Geschichte anders präsentieren wollen. Und natürlich werden wir darauf nicht eingehen. Wir werden das machen, was wir für richtig halten.
    Verständnis für Terminverschiebung Merkels
    Wentzien: Dann sprechen wir über Angela Merkel bitte und der zwischen ihr, der Kanzlerin, und Wladimir Putin, dem Präsidenten Russlands, abgesprochenen Gedenkverschiebung. Angela Merkel wird auch nicht am 9. Mai in Moskau sein, sondern am 10. Mai. Sie hat dies mit Wladimir Putin abgesprochen, und sie wird mit ihm gemeinsam am Grab des unbekannten Soldaten einen Kranz niederlegen.
    Nun hat im Gefüge der Diplomatie - Botschafter Grinin, bitte lassen Sie uns da teilhaben - ja auch bestimmt vieles an Austausch stattgefunden. Wie wird diese Gedenkverschiebung, die ja zwischen beiden Politikern abgemacht und besprochen worden ist, vom 9. auf den 10. Mai, in Russland aus Ihrer Sicht bewertet?
    Grinin: Wir respektieren das, was Frau Bundeskanzlerin für richtig hält. Heutzutage muss sie natürlich die heutige Einstellung berücksichtigen, die hier vorherrschend ist, in Deutschland, in der Europäischen Union, in der westlichen Welt. Das respektieren wir durchaus, genauso wie die Tatsache, dass sie trotzdem nach Moskau kommt und entsprechend den Gefallenen dieses Krieges die Ehre erweist.
    Wentzien: Im Deutschlandfunk zum Interview der Woche zu Gast ist Botschafter Wladimir Grinin. Herr Grinin, wenn ich jetzt meinen Eindruck kurz schildern darf zu dieser Gedenkverschiebung - und Sie müssen mir sofort ins Wort fallen -, dann würde ich jetzt als Zuschauer und Beobachter sagen: Angela Merkel bleibt der Parade fern, kommt aber nach Moskau. Angela Merkel ehrt die Toten, aber nicht die Armee. Und die Bundeskanzlerin, mit dieser Geste, achtet den Präsidenten, aber nicht den Kriegsherrn. Was würden Sie mir, wenn ich so die Situation deute, entgegnen? Liege ich richtig, liege ich falsch? Was habe ich vergessen?
    Grinin: Das werde ich Ihnen überlassen, das zu deuten. Aber aus meiner Sicht, wie gesagt, ich weiß das hoch zu schätzen, die Tatasche selbst, dass die Frau Bundeskanzlerin nach Moskau kommt und den Gefallenen die Ehre erweist. Und das ist die Bestätigung dessen, dass eigentlich die Versöhnungspolitik, die eigentlich uns Deutsche und Russen zu einem gewissen Stand der Beziehungen gebracht hat - leider haben wir das ein bisschen reduziert jetzt - , aber zu dem Stand der Beziehungen in der Nachkriegszeit, das war eigentlich und bleibt für uns eine sehr wichtige Sache. Ich glaube, diese Geste ist eigentlich die Bestätigung der Absichten, die Zusammenarbeit zwischen Russland und Deutschland nicht abzubrechen, sondern nach der Lösung der Fragen, die uns jetzt im gewissen Sinne im Wege stehen, was diese Zusammenarbeit angeht, dass wir uns dann wieder kräftig einsetzen.
    Wentzien: Über die Beziehungen - eines Ihrer Themen über viele Jahrzehnte hinweg - zwischen beiden Ländern, sprechen wir bitte gleich. Und ich weiß, dass Sie da sehr viel Nachdenkenswertes zu sagen haben.
    Ich würde noch ganz kurz einen Punkt machen und an die deutsche Erinnerung an diese Zeit erinnern, denn wir haben aller Voraussicht nach jetzt ja ein Gedenken, das sehr viel anders gestaltet sein wird am 8. Mai als bisher. Sprechen wird im deutschen Parlament Heinrich August Winkler, erstmals ein Historiker, nicht mehr ein Staatsrepräsentant und kein Politiker. Das ist ein Einschnitt in der Bewertung und Betrachtung dieser Zeit. Würden Sie zustimmen, wenn man damit auch eine Geschichte historischer macht, die Erinnerung etwas abhebt vom Tagesgeschehen und damit ja auch einer Bewertung zuführt, die möglicherweise eine andere ist als bisher?
    "Russen und Deutsche müssen neue Ebene erreichen"
    Grinin: Man muss natürlich die Rede von diesem Historiker abwarten, was er sagen wird. Ich will darauf hoffen, dass er eigentlich hier entsprechende Aussagen macht, die uns in unserer Wahrnehmung bestätigt. Wir haben einen enormen Weg hinter uns, um vom totalen Zerfall zu dem Stand der Beziehungen zu kommen, wo wir in gewissem Sinne vergeben können oder besser gesagt, wo wir Mitgefühl haben können mit denjenigen, die auch auf der deutschen Seite gefallen sind. Nicht alle waren so überzeugte Anhänger der damaligen Ideologie. Manche haben mitgedient und sind eigentlich Opfer dieser Politik, und wir müssen das auch verstehen. Und ich habe in der letzten Zeit auch deutsche Kriegsgräberstätten besucht, und das wird auch weitergemacht.
    Wir müssen bloß auf eine neue Ebene kommen, was unsere Beziehungen angeht und unser Verständnis zueinander, des psychologischen Plans und des Mentalen. Wir müssen immer darüber nachdenken, dass Deutsche und Russen sehr eng verbunden sind. Und diese zwei schrecklichen Kriege, die im 20. Jahrhundert waren, die haben uns praktisch so getrennt, dass wir zu Feinden geworden sind, aber trotzdem dieses Potenzial der Sympathien, diese Verbundenheit, diese, wenn man will, Verwandtschaft doch erschlossen werden konnte durch diese gemeinsame Anstrengung, diese gemeinsame Politik.
    "Wir dürfen eine bestimmte Linie nicht überschreiten"
    Wentzien: Nun gibt es ja Zeiten - wenn Sie, Exzellenz, von Verwandtschaft sprechen -, da ist man mal gut und mal schlecht aufeinander zu sprechen. In einer Familie wird auch mal gestritten - was ja vielleicht auch eine Qualität von Auseinandersetzung ist. Wladimir Putin sei noch mal zitiert, bitte, aus 2005, da hat er gesagt: "Die Versöhnung zwischen Russland und Deutschland ist eine der wertvollsten Errungenschaften im Nachkriegseuropa".
    Sie sagen: "Wir müssen aufpassen, dass wir eine gewisse rote Linie nicht überschreiten und dass wir das, was wir an Partnerschaft hatten, auch wiederbeleben". Das heißt, ist im Moment gerade in der Verwandtschaft, die Sie so bezeichnen, "Budenzauber" und ein bisschen Streit, und kommt man gerade nicht so gut miteinander aus, wie man sollte, angesichts ja auch der Probleme in der Welt, die nur miteinander gestemmt werden können?
    Grinin: Sie haben Recht. Wissen Sie, wir dürfen nicht eine gewisse Linie überschreiten, wo wir dann miteinander keine gemeinsamen Berührungspunkte finden und wo wir uns entfremden werden.
    Wentzien: Würden Sie denn sagen, man kann noch weiter auseinander sein als jetzt? Also man kann ja schon feststellen, dass da der Abstand relativ groß ist.
    Grinin: Worum geht es insgesamt? Es geht darum, dass eigentlich die direkten Kontakte, die direkten Verbindungen eingestellt worden sind. Und zuerst sind Fragen entstanden in der einfachen Bevölkerung: 'Was ist denn'? Dann eine gewisse Enttäuschung. Wir dürfen das alles so nicht weiter gehen lassen, denn dann kommt es zu einer Entfremdung. Und das ist die Frage des Vertrauens. Und Vertrauen, das ist das Rückgrat jeglicher Beziehungen.
    "Staatsstreich ist Ursache für Ukraine-Krise"
    Wentzien: Wer ist schuld? Man fragt ja immer dann, wenn Entfremdung da ist: Wer ist schuld? Also natürlich immer der andere - ist klar -, aber wenn Deutschland zum Beispiel und Europa auch argumentiert, Russland würde pro-russische Separatisten unterstützen, würde einen Krieg in der Ukraine befördern und würde schuld sein an der Eiszeit jetzt?
    Grinin: Wissen Sie, ich bin nicht Anhänger dessen, dass wir uns mit Schuldzuweisungen beschäftigen -, was eigentlich der Fall ist. Man versucht uns zu zwingen, Ja zu sagen zu der Ansicht, die auf der westlichen Seite vertreten ist. Wir sind zutiefst davon überzeugt, dass eigentlich die Ursache dieser Krise der Staatsstreich war, der Anfang vorigen Jahres, am 22./23. Februar vorigen Jahres der Fall war. Die westlichen Länder, die eigentlich das neue Abkommen garantieren wollten, haben das nicht gemacht. Obama hat mit Putin vor der Unterzeichnung dieses Abkommens gesprochen und Obama hat Putin gebeten, auf Janukowitsch einzuwirken, damit der nicht ...
    Wentzien: ...der frühere Staatspräsident der Ukraine...
    Grinin: ... Gewalt anwendet, damit das alles realisiert wird, was im Abkommen steht. Und das Wichtigste, was im Abkommen war, war der Punkt, der eigentlich sowohl die Regierung als auch die Opposition betraf. Das war ein Abkommen zwischen Regierung und Opposition, das eigentlich dazu aufrief, die Verfassungsreform durchzuführen und eine einheitliche inklusive Regierung zu bilden, was eigentlich nicht passiert ist.
    Wentzien: Botschafter Grinin, Sie sprechen weiterhin von einer Krise und nicht von einem Krieg.
    Grinin: Nein, ich spreche von einer Krise, nicht von einem Krieg. Und der Krieg, der heute auch der Fall ist, das ist eigentlich ein Bürgerkrieg in der Ukraine.
    Wentzien: Dann blicken wir nach vorn, schauen wir auf den 3. Oktober diesen Jahres, den 25. Jahrestag der Vereinigung Deutschlands. Schauen wir auf G7/G8. Was wird passieren? Wann wird Wladimir Putin wo sein? Kommt der Präsident nach Deutschland zum Jubiläum? Und kommt irgendwann der Präsident der Russen wieder in den G8/G7-Klub?
    Grinin: Es kommt darauf an, ob und wie das gefeiert wird. Bis jetzt habe ich noch keine Anzeichen dafür gehört.
    Wentzien: Zum 3. Oktober noch keine Einladung?
    Grinin: Ich habe nichts davon gehört. Wir wollen zum Beispiel auf unserer Seite eine Konferenz organisieren, die diesem Datum gewidmet würde. Aber mehr kann ich nicht dazu sagen.
    Wentzien: G8/G7, wann wird Putin wieder im Kreis der Staats- und Regierungschefs sein?
    Grinin: Wir sind bereit, jederzeit unsere Tätigkeit in diesen Gremien aufzunehmen, aber es kommt auf die Positionen der westlichen Seite an.
    Wentzien: Ich möchte gerne mit einer persönlichen Frage enden und den Botschafter Grinin noch mal ganz kurz vorstellen als einen Menschen, der über Jahrzehnte hinweg dieses Land begleitet, verfolgt und kennengelernt hat. Sie waren in den 70er-Jahren bereits in Deutschland, Sie waren in den 80er-Jahren hier, und Sie haben einmal gesagt: "Ich kam 1986 als sowjetischer Diplomat in die DDR und bin dann als russischer Diplomat in der Außenstelle der russischen Botschaft im vereinten Deutschland gewesen und habe dieses Land auch so verlassen". Sie haben jetzt einen Wunsch frei für die Perspektive der deutsch-russischen Beziehungen, die Sie immer wieder in ihrer Wichtigkeit betont haben. Diesen Wunsch übermitteln wir jetzt an alle, die es hören wollen und können. Was wäre das für ein Wunsch, Botschafter Grinin?
    Grinin: Mein Wunsch wäre, dass wir wieder mit Deutschland partnerschaftliche strategische Beziehungen etablieren, dass wir selbst den Höhepunkt unserer Beziehungen überschreiten, den wir erreicht haben. Und wir versuchen nach wie vor alles Mögliche zu machen, um das zu erreichen. Das ist meine Vorstellung, und ich glaube, ich fühle mich hier auch beauftragt dafür. Und dafür zu arbeiten, das ist mein Ziel. Ich habe wirklich Deutschland vor der Vereinigung gesehen und nach der Vereinigung. Ich kann Ihnen sagen, die Vereinigung, die wir in gewissem Sinne eigentlich möglich gemacht haben, das führte zu einer Explosion der Sympathien, insbesondere auf der westlichen Seite Deutschlands, weil wir mit der DDR damals schon und mit der Bevölkerung sehr befreundet waren. Ich will, dass wir eigentlich diese Sympathien für die Zwecke der Schaffung einer neuen Ordnung in Europa, eines neuen Systems der Zusammenarbeit in Europa und im euro-atlantischen Raum nutzen. Unser Ziel war immer, ein System der Kooperation zu schaffen im euro-atlantischen Raum, wo wir eigentlich auf Augenhöhe miteinander zusammenarbeiten könnten. Wir sind dazu bereit.
    Wentzien: Eine hoffnungsvolle Aussicht. Ich bedanke mich herzlich für das Interview, Botschafter Grinin.
    Grinin: Ja, ich habe Ihnen zu danken.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.