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WM 1974
Kalter Krieg auf dem Platz

Bei der WM 1974 zeigte eine Vorrundengruppe wie ein Brennglas die Konflikte des Kalten Kriegs: BRD, Australien, DDR und Chile in derselben Gruppe - das barg Zündstoff. Denn in Chile war seit neun Monaten Diktator Augusto Pinochet an der Macht.

Von Sebastian Feldmeier |
    Bis heute beschäftigen sich die meisten Rückblicke mit dem deutsch-deutschen Vorrundenspiel in Hamburg. Paul Breitner, damals 22 Jahre alt, winkt ab:
    "Also ich persönlich empfand das, was um das Spiel gegen die DDR herum gemacht wurde in Berlin von irgendwelchen Aktivisten, von protestierenden Chilenen, politisch höher angesiedelt als unser Spiel in Hamburg gegen die DDR. Dass das Spiel hochgehoben wurde, hochgehalten wurde - Bruderkampf etc. Nur, es tat sich mehr um das Spiel herum gegen Chile, ja."
    Das Spiel, von dem der damalige Nationalspieler Paul Breitner spricht, findet am Abend des 18. Juni 1974 im West-Berliner Olympiastadion statt. Wer sich Karten für die Partie besorgt hat, merkt schnell: Das ist nicht nur ein normales Fußballspiel. Auf den Rängen stehen junge Leute, schwenken Transparente und rufen "Chile Si - Junta No!": "Ja zu Chile - Nein zur Militärjunta."
    Wenige Monate zuvor, im September 1973, putscht sich General Pinochet gegen den sozialistischen Präsidenten Allende an die Macht. Unter Pinochets Herrschaft sterben nach Angaben der chilenischen Wahrheitskommission mehr als dreitausend Menschen.
    Kuriose Qualifikation
    Chiles Militärjunta wird zum Außenseiter der internationalen Gemeinschaft. Aber die Fußballmannschaft ist schon fast qualifiziert für die WM in Deutschland. In der Relegation wartet ein besonders heikler Gegner - sportlich, vor allem aber politisch: die UdSSR. Ein Fall für die FIFA-Diplomatie, erzählt der damalige Vizepräsident Hermann Neuberger im Januar 1974 im Deutschlandfunk:
    "Nach dem Sturz von Allende - ungefähr 14 Tage später und nach dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen - haben sich auf Einladung der FIFA und am Sitz der FIFA in Zürich Vertreter des chilenischen Verbandes und des Verbandes der UdSSR getroffen. Man hat also schon im September zwei Spiele und Spielorte festgelegt. Also traf man sich in Moskau. Man spielte 0 zu 0. Danach war 14 Tage Pause und dann kam der Einspruch aus Moskau, dass sie in Santiago zum festgesetzten Zeitpunkt nicht antreten."
    Die Folge ist ein kurioses Spiel: Elf Chilenen stehen zum Anstoß im Estadio Nacional bereit. Sie spielen sich den Ball zu, einer schießt: Tor. Dann pfeift der Schiedsrichter die Partie ab, weil kein sowjetischer Spieler den erneuten Anstoß ausführen kann.
    Ist es tatsächlich die Empörung über den Spielort, ein Stadion, das als provisorisches Gefängnis und Folterkammer genutzt worden war? Oder will sich Moskau die Blamage einer sportlichen Niederlage gegen den Klassenfeind ersparen? Das ist bis heute umstritten.
    Nach der Auslosung der Endrunde im Januar 1974 ist klar: Ausgerechnet die DDR muss gegen Chile antreten. Die klare politische Linie wäre zu dieser Zeit: Solidarität mit der Sowjetunion, Protest gegen FIFA und Militärjunta. Absage des Spiels. Die Sport-Funktionäre bevorzugen aber eine pragmatische Lösung, sagt der Berliner Fußballhistoriker Hanns Leske:
    "Die DDR war tatsächlich in einem Dilemma, gerade unter dem Aspekt, sich eben nun zum ersten Mal qualifiziert zu haben. Und mit Chile standen sie in der Tat vor der Frage, sollen sie deswegen nicht antreten. Und man hat dann zu der Parole gefunden: Wer sich für eine Weltmeisterschaft qualifiziert, muss auch die Spielregeln akzeptieren, und damit war das Thema gegessen."
    Für die Funktionäre ist der Erfolg zu wichtig. Und auch für die Spieler ist die WM-Qualifikation der bisher größte Erfolg? in ihrer Karriere. DDR-Torjäger Hans-Jürgen Kreische kann sich heute nicht erinnern, dass eine Absage jemals erwogen worden wäre:
    "Es wurde eigentlich nur von außen reingetragen, weil sicherlich hat man das alles registriert gehabt, was in Chile passiert, aber es hat uns jetzt nicht in dem Maße beschäftigt, dass man jetzt gedacht hat: Oh Gott, jetzt spielen wir in Westberlin und dann auch noch ausgerechnet gegen Chile und so weiter und so fort. Also dieses Spiel wurde von uns auch rein sportlich gesehen."
    Aufgabe des Sportboykotts gegen West-Berlin
    Die Funktionäre haben noch ein Problem: Den Spielort. Seit 15 Jahren halten die Ostdeutschen einen Sportboykott gegen West-Berlin aufrecht. Ein Relikt des frühen Kalten Kriegs. Fußballhistoriker Hanns Leske:
    "Ein Jahr vorher, im Januar 73, gab es einen Besuch einer SED-Delegation in Moskau. Und da ging es um die Fußball-WM. Und da haben die Sowjets ganz klar erklärt, sie werden nicht in West-Berlin antreten, wenn sie sich qualifizieren. Allerdings hätten sie auch eine Zusage der FIFA, dass kein sozialistisches Land in West-Berlin antreten muss. So, dann sind ja aus bekannten Gründen die Sowjets ausgeschieden aus der Qualifikation. Und dafür kam eben Chile."
    Die klammheimliche Aufgabe des Sportboykotts wird mit den Zuständigkeiten der westdeutschen Sportverbände begründet. Der wahre Hintergrund - so deuten es Historiker heute - ist wohl die zunehmende Entspannung zwischen den beiden deutschen Staaten seit Abschluss des Grundlagenvertrags 1972. Und so kann dank Losglück wieder ein bisschen Normalität in den deutsch-deutschen Fußball einziehen:
    "Dass das sich so ergeben hat, war ja auch eine schöne Sache: Denn wer wollte nicht auch endlich mal im Olympiastadion spielen, also in Westberlin. Deshalb muss ich nochmal betonen: Uns Spieler - also überwiegend - hat Politik null interessiert: Weil, mit Politik gewinnst du kein Spiel. Man hat sich auf das Spiel konzentriert, wir sind 1:0 in Führung gegangen, haben dann dummerweise noch den Ausgleich bekommen... Es hat im Verlauf des Turniers meines Wissens mit der chilenischen Mannschaft nirgendswo Probleme gegeben. Sicherlich gab es den einen oder anderen, der da von außen Einfluss nehmen wollte, aber es war sicherlich ne Minderheit."
    Dieser "Minderheit" aus westdeutschen und chilenischen Demonstranten gelingt im letzten Gruppenspiel der Chilenen dann noch ein kleiner Triumph. Acht Studenten aus der Berliner Sponti-Szene stürmen zu Beginn der zweiten Halbzeit den vom Regen durchweichten Rasen. In den Händen ein großes Transparent. "Chile Si - Junta No". Das chilenische Fernsehen bricht die Übertragung ab.