Pressekonferenz von Erfolgstrainer Lionel Scaloni vor dem letzten Spiel der argentinischen Nationalmannschaft vor der WM. Gegen Ende ist Raum für eine Frage jenseits des Fußballs:
"Es gibt etwas, das in Argentinien zur Staatsangelegenheit wurde: Das Panini-Sammelalbum ist ausverkauft. Wie behalten Sie die Ruhe, angesichts der riesigen Begeisterung, dass es nicht mal mehr Panini-Bilder gibt? Sammeln Sie auch selbst?"
Nicht, dass Trainer Scaloni mit einer Katar-kritischen Frage gerechnet hätte. Aber der Coach reagierte verblüfft. Dabei hatte sich zur Panini-Krise in Argentinien bereits der Staatspräsident geäußert. Das argentinische Team wird derzeit mit Zuneigung und Fanatismus überhäuft. Die erste WM nach dem Tod von Diego Maradona wird die letzte für Lionel Messi sein. Fanartikel, Werbetafeln und Fernsehen: Alles dreht sich um die Hoffnung einer Nation auf den WM-Titel.
"Die politische Situation in Katar wird kaum beachtet"
"Das Interesse der Medien konzentriert sich sehr stark auf sportliche Aspekte. Die politische Situation in Katar wird kaum beachtet", sagt Gabriel Salvia, Direktor der politischen Stiftung CADAL. Seine Organisation hatte den argentinischen Fußballverband aufgefordert, auf dem Trikotärmel ein geschwärztes Logo der Menschenrechte zu tragen. Ziel: Auf die Missachtung der Menschenrechte in Katar aufmerksam zu machen. "Wir wollten keinen WM-Boykott fordern. Das wäre äußerst unpopulär. Eher dachten wir an etwas Praktisches."
Der Verband hat gar nicht geantwortet. Im Internet konnte CADAL nach zwei Monaten gerade zehntausend Unterschriften sammeln. Eine ähnliche Aktion von Amnesty International erreichte in Argentinien kaum 3.000 Unterzeichner*innen. Dabei hätten gerade die Argentinier einen guten Grund, sich mit Arbeitern, Homosexuellen oder Frauen in Katar zu solidarisieren, findet Salvia.
"Moralische Verpflichtung der Argentinier"
Salvia sagt: "Wenn ein Sportevent in einem Land stattfindet, in dem die Einhaltung der Menschenrechte klar in Frage gestellt werden muss, haben wir Argentinier eine moralische Verpflichtung, uns zu solidarisieren."
Salvia denkt dabei an die letzte Militärdiktatur, bei der zwischen 1976 und 1983 30.000 Menschen ums Leben kamen. Damals hat man selbst Erfahrungen mit schweren Menschenrechtsverletzungen im Kontext einer Weltmeisterschaft gemacht: 1978 war Argentinien Veranstalter und gewann gar den Titel.
Im Süden von Buenos Aires, im sechsten Stock in der Wohnung von Cristina Muro, sieht man vom Balkon aus das Stadion ihres Lieblingsvereins Boca Juniors. Bei Heimspielen fahren die Mannschaftsbusse vor ihrer Haustür vorbei. Im Februar 1977 stürmten die Militärs ihre Wohnung.
Muro erzählt : "Als sie kamen, habe ich viel Gewalt erfahren. Ich hatte zwei kleine Kinder, eins war gerade fünf Tage alt. Danach habe ich meinen Mann nie wiedergesehen. Er wurde zu Tode gefoltert. Mein Mann ist einer der Verschwundenen der Diktatur."
Heimliche Aktionen währen der WM 1978
Cristina Muro war von nun an nicht nur Fußballfan, sondern auch politische Aktivistin. "Ich kann mich genau daran erinnern, dass einen Tag später mein Idol Maradona hier im Stadion für die Nationalmannschaft debütierte", berichtet die 71-jährige unter Tränen. Die Verflechtung politischer Verbrechen und Fußball vervielfachte sich im Folgejahr. Das Militärregime wollte die WM 1978 nutzen, um sich der Weltöffentlichkeit als gemäßigte Regierung zu präsentieren. Aber selbst während des Turniers wurden Oppositionelle verschleppt.
Cristina Muro und Andere setzten ihre Proteste fort: "Während der Weltmeisterschaft war es sehr gefährlich für uns. Wir verteilten Aufkleber mit der Aufschrift: 'Wo sind die Verschleppten'? Um das Stadion von River Plate, wo viele WM-Spiele stattfanden, verteilten wir heimlich Flugblätter." Für Muro war die internationale Aufmerksamkeit der WM wichtig, um die Menschenrechtsverletzungen anzuprangern und den Druck auf das Regime zu erhöhen.
Auch Raúl Cubas war politischer Gefangener. Er sagt: "Ja, durch die internationale Aufmerksamkeit wurde die Lage in Argentinien weltweit bekannter. Aber das hat nicht unmittelbar unsere Situation verbessert." Über 2 Jahre war Cubas in einer gefürchteten Militärschule wenige hundert Meter vom WM-Finalstadion in Folterhaft. Er erinnert sich an die vermeintliche Unvereinbarkeit von politischem Protest und Fußball-Euphorie: "Unabhängig von der politischen Haltung wollten wir, dass Argentinien gewinnt. Natürlich war das ein Widerspruch und dennoch haben die Gefangenen die Tore gemeinsam mit den Aufsehern gefeiert."
Selbst bei der WM in der Heimat übertünchte also Fußball-Euphorie vorrübergehend Kritik am Folter-Regime. Heute ist es in einem von Hyperinflation und Wirtschaftskrise gebeuteltem Argentinien gegenüber dem fernen Katar nicht anders.