Natürlich habe er auch noch in der 112. Minute an den deutschen Sieg geglaubt, betonte Breitner. Der Wunsch sei immer da, dass "einer ein Ding reinmacht". Letztlich seien es die Nerven, die entschieden - nicht das Können.
Zum Thema "bester Fußballer" zeigte sich der frühere Nationalspieler ungehalten. Es sei eine Farce, dass die FIFA nicht den deutschen Torhüter Manuel Neuer ausgewählt habe, sondern den Argentinier Lionel Messi, der nur ein paar Mal in Erscheinung getreten sei. Offenbar zähle ein Torhüter nicht als Spieler. Hier hätte die Jury den Mut beweisen können, einen Torwart zu nehmen und zu sagen: "Du bist der absolute Superstar." Neuer ist allerdings zum besten Torhüter der WM gewählt worden.
Breitner sieht auch weiterhin Joachim Löw als Bundestrainer und findet, er sei ein perfekter Partner und Teil der Mannschaft. Überhaupt habe die Nationalelf gezeigt, dass sie eine Turniermannschaft sei - und nicht ein Team, dass einem Kopf wie Ronaldo oder Messi die Möglichkeit gebe, sich zu profilieren.
Das Interview in voller Länge:
Christine Heuer: Deutsche Fernsehunterhaltung 1974, dem Jahr, in dem Deutschland in München zum zweiten Mal Fußball-Weltmeister wurde. Mitgespielt und mitgesungen in der National-Elf hat damals Paul Breitner. Guten Morgen, Herr Breitner, und danke fürs frühe Aufstehen nach dem Finale.
Paul Breitner: Guten Morgen! Kein Problem.
Heuer: Schön! - Wo und mit wem haben Sie sich das Spiel gestern angesehen?
Breitner: Mit einigen Freunden bei mir hier zuhause.
Heuer: Haben Sie in der, sagen wir mal, 112. Minute noch an einen deutschen Sieg geglaubt?
Breitner: Ja, natürlich. Was heißt geglaubt? Schauen Sie, das ist jetzt eine Frage wie vor dem Spiel, wie glaubst denn du, dass es ausgeht.
Heuer: Aber Sie sind nicht Herr Mertesacker.
Breitner: Nicht unbedingt.
Heuer: Gut.
Breitner: Aber ich habe gesagt, du wirst doch nicht glauben, dass einer, der hinter der deutschen Nationalmannschaft steht, sagt, wir werden verlieren. Und so ist doch auch in der 113. Minute, 110., 105. Minute der Wunsch immer da gewesen, dass irgendeiner ein Ding reinmacht. Da geht es gar nicht darum, was man noch glaubt, sondern was man einfach immer will, 120 Minuten und dann möglicherweise beim Elfmeterschießen.
"Endspiele sind selten gute Spiele"
Heuer: War das ein gutes Spiel?
Breitner: Nein!
Heuer: Warum nicht?
Breitner: Weil selten Endspiele bei einer WM, oder auch in der Champions League, bei Europameisterschaften richtig gute Spiele sind, weil auch gestern wieder bei allen zu sehen war, dass in erster Linie die Nerven entscheiden, nicht das Können.
Und die Nerven, die stehen immer wieder einigen Spielern im Weg, um das zu bringen, um das zu zeigen, was sie eigentlich können, oder was sie die Spiele davor gezeigt haben.
Heuer: Die Nerven, die Sie ansprechen, darüber habe ich auch nachgedacht. Sie selbst haben ja im Münchner Endspiel '74 einen Faulelfmeter zum 1:1 verwandelt, und diese Bilder kennt jeder, wie Sie sich den Ball nehmen und wie Sie dann schießen und der geht rein. Die ganze Welt hat da zugeschaut. Wie hält man diesen Druck aus, Herr Breitner?
Breitner: Indem dieser Druck gar nicht aufkommt, indem ich gelernt habe, sehr früh - mit 12, 13, 14 Jahren habe ich mit autogenem Training begonnen und habe da gelernt, in bestimmten Situationen um mich herum alles auszuschalten, mich auf einen Punkt, auf einen Moment zu konzentrieren. Das hat oft mit Fußball gar nichts zu tun gehabt. Das war auch der entscheidende Moment oder der entscheidende Punkt, warum ich diesen Elfmeter geschossen habe, weil ich eben nicht überlegt habe, was passiert jetzt, denn in dem Moment, wo du anfängst, in einem WM-Finale darüber nachzudenken, was passieren könnte, dann denkst du ja übers Negative, über die negative Seite nach. Dann bist du schon erster Verlierer und das geht nicht.
Heuer: Und das hatte Mario Götze gestern Abend drauf und die anderen nicht?
Breitner: Er hatte gar keine Zeit zu überlegen. Schauen Sie, dieses Tor war ein Moment, eine Momentaufnahme. Da geht es um hundertstel, um zehntel Sekunden und da kommst Du als Spieler nicht in die Situation zu überlegen, was passiert jetzt, wenn ich mich jetzt drehe, wenn ich den Ball jetzt Volley nehme, oder wenn ich den von der Brust abtropfen lasse. Da kommt es nicht zu. Hätte er mehr Zeit gehabt, hätte er den Ball wahrscheinlich nicht so getroffen, weil dann hätte er überlegt, um Gottes Willen, und wenn ich jetzt doch vorbeihaue ...
"Absolute Farce, dass Messi zum Spieler des Turniers gewählt wird"
Heuer: Auswechseln kann sich auszahlen. Wer war für Sie gestern der beste Spieler auf der deutschen Seite?
Breitner: Das ganze Turnier über Manuel Neuer und deswegen empfinde ich es auch als eine absolute Farce, dass ein Lionel Messi, der drei, vier oder fünf Szenen hatte in dem ganzen Turnier, zum Spieler des Turniers gewählt wird. Ich verstehe nicht, warum ein Torwart nicht zu den Spielern einer Mannschaft zählt, warum niemand, Entschuldigung, den Arsch in der Hose hat, um zu sagen, okay, dann nehmen wir auch mal einen Torwart. Wenn er die beste Leistung aller, aller anwesenden Spieler in einem Turnier gezeigt hat, dann nehme ich den und sage, du bist der absolute Superstar dieser WM. Und es gab nur einen absoluten Superstar, und das ist und war Manuel Neuer.
Heuer: Trotzdem, wenn Sie Lionel Messi ansprechen, da geht es ja auch ein bisschen um die Spielphilosophie. Die Deutschen, sagt man, spielen als Mannschaft, die Argentinier mit einigen herausragenden Superstars wie eben Messi. Haben wir deshalb gewonnen?
Breitner: Ja. Wir haben deshalb gewonnen, weil wieder einmal die Turniermannschaft gewonnen hat, weil sich wieder mal gezeigt hat, dass wir eine Turniermannschaft sind. Und das, was ich darunter verstehe, ist, dass wir eben nicht in ein Turnier gehen, um einen Herrn Ronaldo bei den Portugiesen, oder auch Lionel Messi die Möglichkeit zu geben, sich zu profilieren, sich zu produzieren, zu sagen, ich, ich, ich, ich, es geht um mich, es geht um mich und nicht um die Mannschaft, nicht um meine Nationalmannschaft. Wir gehen rein, alle 23, die zur Verfügung waren. Wir gehen rein und sagen, wir wollen gewinnen, weil wir als Kinder, egal was wir machen, egal welchen Sport wir von unseren Eltern aufgedrückt bekommen, wir erlernen diesen Sport mit zwei, drei, vier Jahren ja nicht, um Spaß oder Freude zu haben, sondern um in diesem Alter bereits zu lernen, was es heißt zu gewinnen.
Deswegen gehen wir in ein Turnier rein und tun alles, um zu gewinnen. Bei uns geht es nicht darum, sich zu zeigen und zu demonstrieren, was der Einzelne am Ball kann, wie oft er den Ball jonglieren kann, wie viel er auf dem Quadratmeter umspielen kann. Nein, wir gehen rein, um zu gewinnen. Und wenn wir nach 70 Minuten irgendein Spiel im Griff haben, dann zeigen wir auch, dass wir ausgezeichnete Fußballer sind, und das unterscheidet uns. Bei den Argentiniern geht es nur darum, dass ein Lionel Messi die Bühne bekommt, dass er vielleicht der Superstar der WM wird, aber damit wirst Du eben nicht Weltmeister.
Löw "ein perfekter Teil dieser Mannschaft"
Heuer: Wie groß ist Jogi Löws Verdienst an diesem WM-Sieg?
Breitner: Nun ja, das habe ich mich auch immer gefragt, wie groß der Verdienst von Sepp Herberger war, oder wie groß der Verdienst vom Franz war, oder wie groß der Verdienst von Helmut Schön war. Ich gehe mal davon aus, ich bin ja da nie in der Kabine mit dabei, aber ich gehe mal davon aus, dass Jogi Löw ein perfekter Partner, ein perfekter Teil dieser Mannschaft ist, dass er, jetzt will ich mal sagen, der 24. Spieler ist, der jetzt in Argentinien mit zum Team gehört hat.
Heuer: Soll Jogi Löw Trainer bleiben?
Breitner: Diese Frage stellt sich überhaupt nicht, denn wir werden jetzt einen Lauf haben. Der deutsche Fußball wird in den nächsten fünf, zehn, 15 Jahren gemeinsam mit den Spaniern, die nach wie vor auf unserer Ebene sind, wir werden den Weltfußball bestimmen, mitbestimmen, und das ist ein Lauf. Warum soll er jetzt da aus diesem Boot aussteigen? Das würde ich gar nicht verstehen.
Heuer: Auf dem Höhepunkt des Erfolges.
Breitner: Ach was. Der Höhepunkt des Erfolges? Wissen Sie, es gibt immer diesen Spruch, ich trete auf dem Höhepunkt zurück, wenn ich irgendwie eine Weltmeisterschaft oder eine olympische Medaille gewonnen habe, eine olympische Goldmedaille. Du musst auf dem Höhepunkt deines Könnens zurücktreten, und das kann oft auch nach einer Niederlage sein, egal in welcher Sportart. Da kannst du sagen, jetzt bin ich Weltmeister und jetzt trete ich zurück. Was dann? Drehe ich jetzt Däumchen oder wie? Nein! Er soll jetzt den Einfluss aus dieser Position heraus, die er jetzt hat, über diesen Weltmeistertitel geltend machen und schauen, dass es mit unserem Fußball, mit dem, was unsere Kinder jetzt endlich lernen dürfen, und deswegen sind wir Weltmeister geworden, weil wir wieder vor einigen Jahren den Hebel umgeschaltet haben von den Fußballarbeitern hin zu den Fußballspielern.
Das soll er weiter mitbestimmen und mitbeeinflussen. Er soll dabei bleiben! Er hat jetzt den Einfluss, Kreativität reinzubringen, Individualität reinzubringen, zu schauen, dass eben so Spieler wie Mario Götze weiterhin ihre eigene Philosophie, ihre eigene Persönlichkeit mit auf den Platz bringen dürfen und dass wir nicht wieder in einen Rumpelfußball verfallen, nur weil es jetzt heißt, jetzt ist die Mannschaft Weltmeister und jetzt müssen wir irgendjemanden zurücknehmen. Er ist jetzt der große Macher und er soll den Weg weitergehen, den er bis jetzt mitgegangen ist und vorgegeben hat.
Heuer: 2022, Herr Breitner, soll die Fußball-WM in Katar stattfinden. Sie galten und gelten als politischer Kopf. Da gibt es Korruptionsvorwürfe, den Vorwurf der Sklavenarbeit, Fußball in der Wüste, es ist zu heiß, es gibt keine Fußball-Infrastruktur. Sollte die WM in Katar abgesagt werden?
Breitner: Wissen Sie, die ganze Geschichte mit Sklavenarbeit ist so was von verlogen. Seit auf der arabischen Halbinsel Öl gefördert wird und der Bauboom da ist, in Dubai, in Abu Dhabi, egal wie und wo, seitdem gibt es diese Situation, dass in Dubai, in Abu Dhabi 1,5 oder zwei Millionen Arbeiter dort sind, die in drei Schichten 24 Stunden arbeiten, ohne Absicherung irgendwo in der 40. oder 50. Etage. Ich kenne das, ich bin dort seit 20 Jahren unterwegs. Und jetzt plötzlich kommt irgendjemand auf die Idee und hebt den Zeigefinger und sagt, um Gottes Willen, da gibt es Sklavenarbeit. Die gibt es, seit es dort diesen Boom gibt.
Empörung über Katar "verlogen"
Heuer: Das macht es nicht besser.
Breitner: Es macht es nicht besser, aber auch nicht schlechter. Entschuldigung! Da bin ich jetzt absoluter Realist. Natürlich nicht! Aber warum kommt jetzt irgendeine Ethik-Kommission, irgendeine Menschenrechtsorganisation an und hebt den Finger und sagt, oh, wir haben gesehen, dass es da im Stadionbau hier und da und dort, dass es dort Sklavenarbeit gibt. Ja, verdammt noch mal, da gibt es Hunderte, Tausende von Hotels, von Wohnkomplexen und da gibt es seit jeher diese Sklavenarbeit, und jetzt plötzlich kommt jemand daher. Es ist ja in Ordnung, aber es ist verlogen, weil diese Aktivisten hätten vor 15, vor 20 Jahren den Finger heben müssen und dann hätten wir die Situation heute wiederum nicht.
Heuer: Herr Breitner, ein Mao-Shirt würden Sie heute nicht mehr anziehen, oder?
Breitner: Bitte?
Heuer: Ein Mao-Shirt würden Sie heute nicht mehr anziehen, wenn ich Ihnen zuhöre?
Breitner: Alles zu seiner Zeit. Wissen Sie, Sie reden jetzt von einer Zeit, die 40 oder 45 Jahre zurück ist, und es war hier in Deutschland - vielleicht waren Sie da noch gar nicht geboren - eine Zeit, ...
Heuer: Leider doch!
Breitner: ..., in der Mao ein Thema war, in der Che Guevara ein Thema war. Ich muss sagen, mir hat es gut getan, diese Phase mitzumachen, denn wer sich in jungen Jahren an niemandem reiben kann, ich weiß nicht, ob der eine richtige Persönlichkeit entwickeln kann.
Heuer: Der Fußballer Paul Breitner, WM-Sieger von 1974, heute Berater von Bayern München. Herr Breitner, das hat Spaß gemacht. Ich danke Ihnen für das Gespräch.
Breitner: Gerne.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.