Abweisend, ja hässlich muss das Dorf gewesen sein, das sich an die Mauer des Kastells schmiegte: Die rußgeschwärzten Häuser, zwei und drei Stockwerke hoch, schienen sich aufeinander zuzuneigen, der Rauch aus einem Dutzend Essen hing in der Luft, das Hämmern der Schmiede und das Plärren der Kinder hallte in den dunklen Gassen. Über allem lag ein durchdringender Gestank nach Verwesung, denn der Unrat der Sieldung sammelte sich in einem offenen Graben zwischen den Häusern und der Mauer des Forts.
Das war zur Römerzeit - heute liegen die Grundmauern von Vindolanda, der Garnison an der nördlichen Grenze des römischen Weltreichs, sauber restauriert im gepflegten Rasen Nordenglands. Der Archäologe Andrew Birley tritt unbeschwert über die Schwelle in eines der ehemaligen Geschäfte an der Hauptstraße:
"Wir haben gerade den Metzgerladen von Vindolanda betreten. Links von uns sehen wir die Reste der alten Verkaufstheke, eine niedrige, L-förmige Mauer: Da muss der Metzger gestanden haben. Dahinter erkennt man auf dem Boden die Abflüsse für das Blut und die Abfälle von den Fleischstücken, die hier gleich neben uns gehangen haben müssen."
Vindolanda, Ausgrabung und archäologischer Park, liegt am Hadrianswall. Die restaurierte Mauer aus der Antike zieht sich quer über die britische Insel, von Newcastle im Osten bis nach Carlisle an der Irischen See im Westen. Sie schützte das römische Imperium gegen die freien Stämme im Norden, dort wo heute Schottland beginnt.
Wenn auch verdreckt und schmierig, war Vindolanda vor rund 2000 Jahren doch ein lebendiges Wirtschaftszentrum. Bäcker, Metzger und Wirte betrieben ihre Geschäfte an der Hauptstraße, in den Seitengassen unter den Mauern des Forts lagen die dunklen Werkstätten der Schmiede, Küfer und Wagenmacher:
"Im Osten lag die mächtige Mauer des Forts, dann kamen drei Meter mit dem alten Graben und einer Straße, und danach folgte die erste Häuserreihe. Diese Häuser direkt vor der Mauer waren Werkstätten, dort arbeiteten Eisenhändler, Metallbieger und viele andere Handwerker."
Florierende kleine Siedlungen lagen praktisch vor jedem römischen Kastell. Doch in Vindolanda ist etwas Außergewöhnliches ans Licht gekommen: Über das, was hier gefertigt und gekauft, verhandelt und verschoben wurde, haben sich schriftliche Aufzeichnungen erhalten. Das alltägliche Geschäftsleben der kleinen Garnisonsstadt am Nordrand des Imperium Romanum erwacht heute wieder zum Leben, dank mehr als 1400 originaler Preislisten, Geschäftsbriefe und Einkaufszettel:
Besorge mir 4 Gallonen Bohnenschrot, 20 Hühner, 100 Äpfel (wenn Du schöne findest), 100 bis 200 Eier (wenn sie für einen ordentlichen Preis verkauft werden), 1 Gallone Fischsauce und 2 Gallonen Oliven.
Auch Briefe und militärische Rapporte haben die antiken Bewohner Vindolandas auf ihren Notizblöcken festgehalten, zwei Millimeter dünnen Holztäfelchen im Format einer Postkarte, mit Tinte beschrieben. Diese "Merkzettel" waren nicht für die Nachwelt gedacht. Sie landeten im Abfall und sollten eines Tages verbrannt werden - doch ein Regenguss hat das Feuer offensichtlich gelöscht. Die verkohlten Täfelchen blieben liegen und wurden im Lauf der Zeit von immer mehr feuchter Erde überdeckt.
Abgeschlossen von Sauerstoff, wurden sie im nassen Boden konserviert - bis Robin Birley, Chef-Ausgräber in Vindolanda, sie knapp 2000 Jahre später entdeckte. Ein Glücksfund, denn in der Antike benutzte praktisch jedermann hölzerne Notiz-Tafeln - aber außerhalb von Vindolanda wurden kaum mehr als ein halbes Dutzend gefunden.
Octavius an seinen Bruder Candidus, Grüße. Ich habe Dir schon mehrmals geschrieben, dass ich etwa 10.000 Gallonen Ähren gekauft habe und deshalb Geld brauche. Wenn du mir nicht mindestens 500 Denare schickst, werde ich meine Anzahlung verlieren und in große Verlegenheit geraten.
Die Summen verraten, dass hier ordentliche Geschäfte gemacht wurden. Wem verkaufte man Waren in dieser Größenordnung? Nur die römische Armee erzeugte eine solche Nachfrage. Bevor die Legionäre in der dünn besiedelten Region ihre Garnison aufbauten, lebten die einheimischen Stämme vom Ackerbau, erzählt Robin Birley, Geld kannten sie nicht.
"In der Umgebung kam es zu einem gewaltigen Boom. Die römischen Soldaten entwickelten die Region nicht nur, indem sie Bergbau und Waldwirtschaft betrieben oder die Felder trockenlegten, um Weiden für ihre Pferde und Rinder zu bekommen. Ihnen folgten ja auch Zivilisten, die weitere Waren mitbrachten."
Wo die römische Armee das Land besetzte, lernten die Einwohner schnell den Wert der Denare und Sesterzen kennen, denn von nun an mussten sie Steuern zahlen. Sie verloren ihre Freiheit, aber die Legionäre leisteten wenigstens Entwicklungshilfe. Wo eine Garnison aufgebaut wurde, entstand ein Markt, denn die Armee verlangte eine Unmenge Ressourcen: Das Militär betrieb selbst Steinbrüche und Bergwerke und brachte eigene Zugtiere mit - aber alles was fehlte, lieferten die Bauern aus dem Umland: ob nun Getreide, Wagen oder viele Fässer Bier.
Masclus an Cerialis, seinen Herrscher. Bitte, Herr, geben Sie Anweisungen, was wir morgen tun sollen. Und meine Kameraden haben kein Bier. Bitte, lassen Sie Bier schicken.
Zu den offiziellen Bestellungen der Quartiermeister kam noch die Nachfrage der Soldaten hinzu: In guten Zeiten erhielten sie reichlich und regelmäßig Sold - also musste man sie nach Dienstschluss bloß ins Dorf herüber locken.
"Den Soldaten wurde eine Menge Unterhaltung geboten, und nicht alles war wirklich ehrenwert. Es gab Kneipen und Spielhöllen und zweifellos auch Häuser, wo - wie die Römer sagten - "Schauspielerinnen" warteten. Außerhalb des Forts entwickelte sich eine vielseitige Service-Industrie und warum? Weil die Armee Geld mitbrachte."
Die Armee war ein sehr gewichtiger Wirtschaftsfaktor. Den genauen Beitrag des Militärs kann man nicht beziffern, denn das ökonomische Volumen des Imperium Romanum lässt sich nicht mehr berechnen. Aber wie die Provinzstädte wuchsen und wie sich die quasi-industriellen Töpfereien, Ziegel- und Metallfabriken ausbreiteten, können Archäologen an den Überresten im Boden erkennen: an zahllosen Schmelzöfen, Wasserleitungen und Produktionsabfällen.
Trotzdem machte ein Legionslager die Anwohner in der Umgebung nicht reich. Was das Militär mit der einen Hand für lokale Güter ausgab, kassierte es mit der anderen Hand als Steuern wieder ein. Außerdem brauchte es ganz andere Geschäfte als den örtlichen Fleisch- oder Getreide-Handel, um es zu Vermögen zu bringen:
Andrew Birley:
"Es gab ja auch Luxuswaren. Reisende Juweliere zum Beispiel verkauften Ringe und Edelsteine. Oder Händler, die ausgefallene Nahrungsmittel lieferten: Zum Beispiel glaube ich kaum, dass die Armee ihre Quartiermeister normalerweise mit Pfeffer versorgte - der kam weither aus dem Osten, über die Seidenstraße aus Samarkand."
Fernhändler tätigten im Römischen Reich Geschäfte großen Stils. Sie unterhielten Handelsbeziehungen weit über die Provinzgrenzen hinaus, versorgten ganze Armee-Einheiten und große Städte, engagierten sich im Übersee-Handel und jonglierten mit unglaublichen Geldbeträgen.
Das macht von den Stoffballen 8 Talente, vom Preis des Elfenbeins 76 Talente, von den sechs Frachtteilen, die im Schiff des Hermapollon transportiert worden sind, als Ladegut an Silber 1154 Talente.
Nicht eine Holztafel aus Vindolanda berichtet von diesen Reichtümern, sondern ein Papyrus aus dem Osten des Römischen Reiches. Es sind Notizen eines Kaufmanns, der im Indien-Handel tätig war. Dieser Händler verfügte über ganz andere Mittel als Octavius und Candidus in Britannien: Die genannte Summe hätte ausgereicht, schätzen Althistoriker, um eine ganze Stadt ein Jahr lang zu ernähren.
Vor allem im römischen Ägypten hat sich eine Vielfalt von Papyri erhalten. Auch diese "Merkzettel" sind in der Antike auf den Müll geworfen worden, wurden aber im trockenen, heißen Sandboden konserviert. Vor allem aus diesen Quellen haben Hans-Joachim Drexhage und seine Mitarbeiter an der Universität Marburg einen ersten detaillierten Überblick über die Wirtschaft des Römischen Reiches erarbeitet.
Die ägyptische Textilbranche kennen sie besonders genau. Allein aus einem Bezirk der Provinz gingen jedes Jahr mehr als 100.000 Kleidungsstücke in den Export. In diesem führenden Wirtschaftszweig waren fast alle sozialen Schichten engagiert. Das liest Professor Drexhage an den differenzierten Berufsbezeichnungen ab - griechischen Begriffen übrigens, da Griechisch im Osten des Imperiums Umgangssprache war:
"Ein Linnemporos wäre dann ein Leinentuchgroßhändler, oft mit Schiffsbesitz, das wären etwa Leute, die größere Städte beliefern oder Überseehandel betreiben. Wenn wir in den einzelnen Ortschaften bleiben, im ganzen Osten des Römischen Reiches, wäre eher die Terminologie Linnopoles, ein Linnen-Verkäufer, darunter wäre ein Linnoprates und ganz unten wäre dann ein so genannter Linnokapellos, ein Leinentuch-Krämer."
Wie groß eine typische Weberei in der ägyptischen Leinen-Produktion war, lässt sich nicht exakt feststellen. Drexhage vermutet, dass in einem Betrieb mehrere Webstühle ratterten, an denen Mitglieder der Familie arbeiteten - Sklaven konnte sich nur die Oberschicht leisten. Für die Versorgung mit Garn und den Absatz der Kleidungsstücke sorgte wohl ein anderer Unternehmer, ein "Verleger" - ähnlich wie später im vor-industriellen "Verlagssystem" in Mitteleuropa.
In der Regel wurde das Gewerbe nur im Familienverband betrieben und immer von einer Generation zur nächsten weitergeführt.
Hans-Joachim Drexhage :
"Andererseits haben wir gerade im Textilgewerbe sehr viele Hinweise auf regelrechte Ausbildung, Weber-Ausbildung, Brokatstickerei etc, diese Ausbildungsverträge zeigen uns, dass auch Fremde in Lehrwerkstätten hineinkommen und dort eine ein- bis fünf-jährige Lehre absolvierten, wobei vertraglich alles geregelt wurde."
Die Lohnvereinbarungen sind die folgenden: im 1. Jahr 8 Drachmen monatlich, im 2. Jahr 12, im 3. Jahr 16 und im 4. Jahr 20 Drachmen monatlich. Dem Mädchen sollen jährlich 18 arbeitsfreie Tage für die Teilnahme an Festen gewährt werden. Falls sie aber an irgendwelchen Tagen nicht arbeitet oder krank ist, soll sie die gleiche Anzahl von Tagen bei dem Lehrherrn nach der Vertragszeit verbleiben. Die Gewerbesteuer und die Abgaben für die Ausbildung gehen zu Lasten des Lehrherrn.
Verblüffend modern wirken nicht nur diese Lehrverträge, sondern auch die Vereinbarungen, wenn in größeren Unternehmen Arbeitskräfte eingestellt wurden. Man hat darin den Tageslohn und die Vertragsdauer festgelegt, wie viel vom Lohn in Geld und wie viel in Nahrungsmitteln abgegolten wurde. Welchen Einfluss die Arbeitskräfte auf die Höhe ihres Lohns hatten, ist offen - immerhin stand es ihnen zu, vor Gericht zu gehen, wenn der Vertrag nicht eingehalten wurde.
Die Schichten der römischen Gesellschaft waren grundsätzlich durch das Vermögen definiert: Um in die Oberschicht aufzusteigen, vielleicht sogar Ritter oder Senator zu werden, musste man einen bestimmten Besitz nachweisen. Über mehrere Generationen hinweg kam es aber zu sozialer Mobilität: Vor allem die Nachkommen freigelassener Sklaven brachten es manches Mal zu Vermögen und stiegen in höhere Kreise auf.
Wer reich war, hatte auch in der römischen Welt gute Chancen noch reicher zu werden. Die Männer der Oberschicht besaßen meist große landwirtschaftliche Güter und machten daneben noch ganz andere Geschäfte:
Drexhage:
"Die haben überall mitgemischt, im Sklavenhandel, in der Produktion von Ziegeln für den Städtebau, also alles, was die Wirtschaft hergab, haben diese Leute dank ihres Kapital-Hintergrundes mitgenutzt und die konnten dann im großen Stil - auch durch ihren Familienverband, ihre Freigelassen, ihre Sklaven und so weiter - reichsweit arbeiten."
Wirtschaftshistoriker haben lange darüber gestritten, wie ausgeprägt das wirtschaftliche Denken in der römischen Antike überhaupt war. Doch vor allem die Forscher um Drexhage haben zahlreiche historische Quellen gefunden, die belegen: Die Grundlagen für Produktivität und Handel waren im römischen Reich garantiert:
Drexhage:
"Es muss relativer Friede sein, eine einheitliche Währung, auch mit der Sprachlichkeit hat das was zu tun, Griechisch und Latein, damit konnte man sich zumindest in den Städten im ganzen römischen Reich verständigen, Freizügigkeit war im Grundsatz gewährt, und eine zunehmende Urbanisierung."
Wirtschaftliches Denken lässt sich bis in staatliche Institutionen verfolgen. Das Imperium engagierte sich zum Beispiel beim Bau von Verkehrswegen - nicht bloß damit des Kaisers Legionen marschieren konnten, sondern ausdrücklich, um die Ökonomie zu fördern.
Offensichtlich betrieben die römischen Herrscher eine Art Wirtschaftspolitik. Damit des Kaisers Einnahmen auch langfristig sprudelten, konnte die Finanzverwaltung Steuern stunden und Marktordnungen erlassen. Die Staatsspitze kümmerte sich um soziale Fragen, insbesondere um die Versorgung der breiten Bevölkerung in Rom: In Krisenzeiten konnte die hungernde "Plebs" den Kaiser gefährlich unter Druck setzen. Man richtete soziale Stiftungen ein, die glatt aus der Gegenwart kommen könnten: Der Staat vergab günstige Darlehen an italische Landbesitzer und verwandte die Zinsen zur Förderung Not leidender Kinder.
Römische Herrscher versuchten auch der schleichenden Geld-Entwertung zu begegnen - letztlich aber vergeblich. Seit dem Ende des ersten Jahrhunderts nach Christus nahm der Metallwert der römischen Münzen allmählich ab. Denare wie Drachmen enthielten immer weniger Silber, eine Inflation drohte - doch Professor Drexhage analysierte Preislisten aus Ägypten und erkannte:
"Wenn man eine Preis-Analyse macht, muss man feststellen, dass, obwohl die in Ägypten zirkulierende Silbermünze, die Tetradrachme, ihr Geld vom Silbermetallwert nicht mehr wert war, trotzdem die Preise nicht stiegen."
Das heißt: Es kam nicht zur Inflation. Die Bürger behielten das Vertrauen in die etablierten Zahlungsmittel. Sie akzeptierten die Münzen als abstrakten Wert, gerade so als wäre es Papiergeld - das wurde jedoch erst im 17. Jahrhundert in Europa eingeführt.
Im 5. Jahrhundert nach Christus gerieten die römischen Herrscher schließlich in solche Geldnot, dass sie die teure Armee nicht mehr bezahlen konnten. In Nordengland müssen sich die Legionen bald nach dem Jahr 410 aufgelöst haben. Damals, meint Robin Birley, verlor das Grenzland mit seinen verrußten, grauen Dörfern eine unersetzliche Wirtschaftskraft.
"In der römischen Epoche, vor allem als der Hadrianswall gebaut wurde, lebten in der Umgebung rund 13.000 Soldaten. Im Vergleich mit allen anderen waren sie sehr gut bezahlt, so dass für eine kurze Phase in der britischen Geschichte im Norden Englands mehr Geld kursierte als jemals zuvor oder danach."
Das war zur Römerzeit - heute liegen die Grundmauern von Vindolanda, der Garnison an der nördlichen Grenze des römischen Weltreichs, sauber restauriert im gepflegten Rasen Nordenglands. Der Archäologe Andrew Birley tritt unbeschwert über die Schwelle in eines der ehemaligen Geschäfte an der Hauptstraße:
"Wir haben gerade den Metzgerladen von Vindolanda betreten. Links von uns sehen wir die Reste der alten Verkaufstheke, eine niedrige, L-förmige Mauer: Da muss der Metzger gestanden haben. Dahinter erkennt man auf dem Boden die Abflüsse für das Blut und die Abfälle von den Fleischstücken, die hier gleich neben uns gehangen haben müssen."
Vindolanda, Ausgrabung und archäologischer Park, liegt am Hadrianswall. Die restaurierte Mauer aus der Antike zieht sich quer über die britische Insel, von Newcastle im Osten bis nach Carlisle an der Irischen See im Westen. Sie schützte das römische Imperium gegen die freien Stämme im Norden, dort wo heute Schottland beginnt.
Wenn auch verdreckt und schmierig, war Vindolanda vor rund 2000 Jahren doch ein lebendiges Wirtschaftszentrum. Bäcker, Metzger und Wirte betrieben ihre Geschäfte an der Hauptstraße, in den Seitengassen unter den Mauern des Forts lagen die dunklen Werkstätten der Schmiede, Küfer und Wagenmacher:
"Im Osten lag die mächtige Mauer des Forts, dann kamen drei Meter mit dem alten Graben und einer Straße, und danach folgte die erste Häuserreihe. Diese Häuser direkt vor der Mauer waren Werkstätten, dort arbeiteten Eisenhändler, Metallbieger und viele andere Handwerker."
Florierende kleine Siedlungen lagen praktisch vor jedem römischen Kastell. Doch in Vindolanda ist etwas Außergewöhnliches ans Licht gekommen: Über das, was hier gefertigt und gekauft, verhandelt und verschoben wurde, haben sich schriftliche Aufzeichnungen erhalten. Das alltägliche Geschäftsleben der kleinen Garnisonsstadt am Nordrand des Imperium Romanum erwacht heute wieder zum Leben, dank mehr als 1400 originaler Preislisten, Geschäftsbriefe und Einkaufszettel:
Besorge mir 4 Gallonen Bohnenschrot, 20 Hühner, 100 Äpfel (wenn Du schöne findest), 100 bis 200 Eier (wenn sie für einen ordentlichen Preis verkauft werden), 1 Gallone Fischsauce und 2 Gallonen Oliven.
Auch Briefe und militärische Rapporte haben die antiken Bewohner Vindolandas auf ihren Notizblöcken festgehalten, zwei Millimeter dünnen Holztäfelchen im Format einer Postkarte, mit Tinte beschrieben. Diese "Merkzettel" waren nicht für die Nachwelt gedacht. Sie landeten im Abfall und sollten eines Tages verbrannt werden - doch ein Regenguss hat das Feuer offensichtlich gelöscht. Die verkohlten Täfelchen blieben liegen und wurden im Lauf der Zeit von immer mehr feuchter Erde überdeckt.
Abgeschlossen von Sauerstoff, wurden sie im nassen Boden konserviert - bis Robin Birley, Chef-Ausgräber in Vindolanda, sie knapp 2000 Jahre später entdeckte. Ein Glücksfund, denn in der Antike benutzte praktisch jedermann hölzerne Notiz-Tafeln - aber außerhalb von Vindolanda wurden kaum mehr als ein halbes Dutzend gefunden.
Octavius an seinen Bruder Candidus, Grüße. Ich habe Dir schon mehrmals geschrieben, dass ich etwa 10.000 Gallonen Ähren gekauft habe und deshalb Geld brauche. Wenn du mir nicht mindestens 500 Denare schickst, werde ich meine Anzahlung verlieren und in große Verlegenheit geraten.
Die Summen verraten, dass hier ordentliche Geschäfte gemacht wurden. Wem verkaufte man Waren in dieser Größenordnung? Nur die römische Armee erzeugte eine solche Nachfrage. Bevor die Legionäre in der dünn besiedelten Region ihre Garnison aufbauten, lebten die einheimischen Stämme vom Ackerbau, erzählt Robin Birley, Geld kannten sie nicht.
"In der Umgebung kam es zu einem gewaltigen Boom. Die römischen Soldaten entwickelten die Region nicht nur, indem sie Bergbau und Waldwirtschaft betrieben oder die Felder trockenlegten, um Weiden für ihre Pferde und Rinder zu bekommen. Ihnen folgten ja auch Zivilisten, die weitere Waren mitbrachten."
Wo die römische Armee das Land besetzte, lernten die Einwohner schnell den Wert der Denare und Sesterzen kennen, denn von nun an mussten sie Steuern zahlen. Sie verloren ihre Freiheit, aber die Legionäre leisteten wenigstens Entwicklungshilfe. Wo eine Garnison aufgebaut wurde, entstand ein Markt, denn die Armee verlangte eine Unmenge Ressourcen: Das Militär betrieb selbst Steinbrüche und Bergwerke und brachte eigene Zugtiere mit - aber alles was fehlte, lieferten die Bauern aus dem Umland: ob nun Getreide, Wagen oder viele Fässer Bier.
Masclus an Cerialis, seinen Herrscher. Bitte, Herr, geben Sie Anweisungen, was wir morgen tun sollen. Und meine Kameraden haben kein Bier. Bitte, lassen Sie Bier schicken.
Zu den offiziellen Bestellungen der Quartiermeister kam noch die Nachfrage der Soldaten hinzu: In guten Zeiten erhielten sie reichlich und regelmäßig Sold - also musste man sie nach Dienstschluss bloß ins Dorf herüber locken.
"Den Soldaten wurde eine Menge Unterhaltung geboten, und nicht alles war wirklich ehrenwert. Es gab Kneipen und Spielhöllen und zweifellos auch Häuser, wo - wie die Römer sagten - "Schauspielerinnen" warteten. Außerhalb des Forts entwickelte sich eine vielseitige Service-Industrie und warum? Weil die Armee Geld mitbrachte."
Die Armee war ein sehr gewichtiger Wirtschaftsfaktor. Den genauen Beitrag des Militärs kann man nicht beziffern, denn das ökonomische Volumen des Imperium Romanum lässt sich nicht mehr berechnen. Aber wie die Provinzstädte wuchsen und wie sich die quasi-industriellen Töpfereien, Ziegel- und Metallfabriken ausbreiteten, können Archäologen an den Überresten im Boden erkennen: an zahllosen Schmelzöfen, Wasserleitungen und Produktionsabfällen.
Trotzdem machte ein Legionslager die Anwohner in der Umgebung nicht reich. Was das Militär mit der einen Hand für lokale Güter ausgab, kassierte es mit der anderen Hand als Steuern wieder ein. Außerdem brauchte es ganz andere Geschäfte als den örtlichen Fleisch- oder Getreide-Handel, um es zu Vermögen zu bringen:
Andrew Birley:
"Es gab ja auch Luxuswaren. Reisende Juweliere zum Beispiel verkauften Ringe und Edelsteine. Oder Händler, die ausgefallene Nahrungsmittel lieferten: Zum Beispiel glaube ich kaum, dass die Armee ihre Quartiermeister normalerweise mit Pfeffer versorgte - der kam weither aus dem Osten, über die Seidenstraße aus Samarkand."
Fernhändler tätigten im Römischen Reich Geschäfte großen Stils. Sie unterhielten Handelsbeziehungen weit über die Provinzgrenzen hinaus, versorgten ganze Armee-Einheiten und große Städte, engagierten sich im Übersee-Handel und jonglierten mit unglaublichen Geldbeträgen.
Das macht von den Stoffballen 8 Talente, vom Preis des Elfenbeins 76 Talente, von den sechs Frachtteilen, die im Schiff des Hermapollon transportiert worden sind, als Ladegut an Silber 1154 Talente.
Nicht eine Holztafel aus Vindolanda berichtet von diesen Reichtümern, sondern ein Papyrus aus dem Osten des Römischen Reiches. Es sind Notizen eines Kaufmanns, der im Indien-Handel tätig war. Dieser Händler verfügte über ganz andere Mittel als Octavius und Candidus in Britannien: Die genannte Summe hätte ausgereicht, schätzen Althistoriker, um eine ganze Stadt ein Jahr lang zu ernähren.
Vor allem im römischen Ägypten hat sich eine Vielfalt von Papyri erhalten. Auch diese "Merkzettel" sind in der Antike auf den Müll geworfen worden, wurden aber im trockenen, heißen Sandboden konserviert. Vor allem aus diesen Quellen haben Hans-Joachim Drexhage und seine Mitarbeiter an der Universität Marburg einen ersten detaillierten Überblick über die Wirtschaft des Römischen Reiches erarbeitet.
Die ägyptische Textilbranche kennen sie besonders genau. Allein aus einem Bezirk der Provinz gingen jedes Jahr mehr als 100.000 Kleidungsstücke in den Export. In diesem führenden Wirtschaftszweig waren fast alle sozialen Schichten engagiert. Das liest Professor Drexhage an den differenzierten Berufsbezeichnungen ab - griechischen Begriffen übrigens, da Griechisch im Osten des Imperiums Umgangssprache war:
"Ein Linnemporos wäre dann ein Leinentuchgroßhändler, oft mit Schiffsbesitz, das wären etwa Leute, die größere Städte beliefern oder Überseehandel betreiben. Wenn wir in den einzelnen Ortschaften bleiben, im ganzen Osten des Römischen Reiches, wäre eher die Terminologie Linnopoles, ein Linnen-Verkäufer, darunter wäre ein Linnoprates und ganz unten wäre dann ein so genannter Linnokapellos, ein Leinentuch-Krämer."
Wie groß eine typische Weberei in der ägyptischen Leinen-Produktion war, lässt sich nicht exakt feststellen. Drexhage vermutet, dass in einem Betrieb mehrere Webstühle ratterten, an denen Mitglieder der Familie arbeiteten - Sklaven konnte sich nur die Oberschicht leisten. Für die Versorgung mit Garn und den Absatz der Kleidungsstücke sorgte wohl ein anderer Unternehmer, ein "Verleger" - ähnlich wie später im vor-industriellen "Verlagssystem" in Mitteleuropa.
In der Regel wurde das Gewerbe nur im Familienverband betrieben und immer von einer Generation zur nächsten weitergeführt.
Hans-Joachim Drexhage :
"Andererseits haben wir gerade im Textilgewerbe sehr viele Hinweise auf regelrechte Ausbildung, Weber-Ausbildung, Brokatstickerei etc, diese Ausbildungsverträge zeigen uns, dass auch Fremde in Lehrwerkstätten hineinkommen und dort eine ein- bis fünf-jährige Lehre absolvierten, wobei vertraglich alles geregelt wurde."
Die Lohnvereinbarungen sind die folgenden: im 1. Jahr 8 Drachmen monatlich, im 2. Jahr 12, im 3. Jahr 16 und im 4. Jahr 20 Drachmen monatlich. Dem Mädchen sollen jährlich 18 arbeitsfreie Tage für die Teilnahme an Festen gewährt werden. Falls sie aber an irgendwelchen Tagen nicht arbeitet oder krank ist, soll sie die gleiche Anzahl von Tagen bei dem Lehrherrn nach der Vertragszeit verbleiben. Die Gewerbesteuer und die Abgaben für die Ausbildung gehen zu Lasten des Lehrherrn.
Verblüffend modern wirken nicht nur diese Lehrverträge, sondern auch die Vereinbarungen, wenn in größeren Unternehmen Arbeitskräfte eingestellt wurden. Man hat darin den Tageslohn und die Vertragsdauer festgelegt, wie viel vom Lohn in Geld und wie viel in Nahrungsmitteln abgegolten wurde. Welchen Einfluss die Arbeitskräfte auf die Höhe ihres Lohns hatten, ist offen - immerhin stand es ihnen zu, vor Gericht zu gehen, wenn der Vertrag nicht eingehalten wurde.
Die Schichten der römischen Gesellschaft waren grundsätzlich durch das Vermögen definiert: Um in die Oberschicht aufzusteigen, vielleicht sogar Ritter oder Senator zu werden, musste man einen bestimmten Besitz nachweisen. Über mehrere Generationen hinweg kam es aber zu sozialer Mobilität: Vor allem die Nachkommen freigelassener Sklaven brachten es manches Mal zu Vermögen und stiegen in höhere Kreise auf.
Wer reich war, hatte auch in der römischen Welt gute Chancen noch reicher zu werden. Die Männer der Oberschicht besaßen meist große landwirtschaftliche Güter und machten daneben noch ganz andere Geschäfte:
Drexhage:
"Die haben überall mitgemischt, im Sklavenhandel, in der Produktion von Ziegeln für den Städtebau, also alles, was die Wirtschaft hergab, haben diese Leute dank ihres Kapital-Hintergrundes mitgenutzt und die konnten dann im großen Stil - auch durch ihren Familienverband, ihre Freigelassen, ihre Sklaven und so weiter - reichsweit arbeiten."
Wirtschaftshistoriker haben lange darüber gestritten, wie ausgeprägt das wirtschaftliche Denken in der römischen Antike überhaupt war. Doch vor allem die Forscher um Drexhage haben zahlreiche historische Quellen gefunden, die belegen: Die Grundlagen für Produktivität und Handel waren im römischen Reich garantiert:
Drexhage:
"Es muss relativer Friede sein, eine einheitliche Währung, auch mit der Sprachlichkeit hat das was zu tun, Griechisch und Latein, damit konnte man sich zumindest in den Städten im ganzen römischen Reich verständigen, Freizügigkeit war im Grundsatz gewährt, und eine zunehmende Urbanisierung."
Wirtschaftliches Denken lässt sich bis in staatliche Institutionen verfolgen. Das Imperium engagierte sich zum Beispiel beim Bau von Verkehrswegen - nicht bloß damit des Kaisers Legionen marschieren konnten, sondern ausdrücklich, um die Ökonomie zu fördern.
Offensichtlich betrieben die römischen Herrscher eine Art Wirtschaftspolitik. Damit des Kaisers Einnahmen auch langfristig sprudelten, konnte die Finanzverwaltung Steuern stunden und Marktordnungen erlassen. Die Staatsspitze kümmerte sich um soziale Fragen, insbesondere um die Versorgung der breiten Bevölkerung in Rom: In Krisenzeiten konnte die hungernde "Plebs" den Kaiser gefährlich unter Druck setzen. Man richtete soziale Stiftungen ein, die glatt aus der Gegenwart kommen könnten: Der Staat vergab günstige Darlehen an italische Landbesitzer und verwandte die Zinsen zur Förderung Not leidender Kinder.
Römische Herrscher versuchten auch der schleichenden Geld-Entwertung zu begegnen - letztlich aber vergeblich. Seit dem Ende des ersten Jahrhunderts nach Christus nahm der Metallwert der römischen Münzen allmählich ab. Denare wie Drachmen enthielten immer weniger Silber, eine Inflation drohte - doch Professor Drexhage analysierte Preislisten aus Ägypten und erkannte:
"Wenn man eine Preis-Analyse macht, muss man feststellen, dass, obwohl die in Ägypten zirkulierende Silbermünze, die Tetradrachme, ihr Geld vom Silbermetallwert nicht mehr wert war, trotzdem die Preise nicht stiegen."
Das heißt: Es kam nicht zur Inflation. Die Bürger behielten das Vertrauen in die etablierten Zahlungsmittel. Sie akzeptierten die Münzen als abstrakten Wert, gerade so als wäre es Papiergeld - das wurde jedoch erst im 17. Jahrhundert in Europa eingeführt.
Im 5. Jahrhundert nach Christus gerieten die römischen Herrscher schließlich in solche Geldnot, dass sie die teure Armee nicht mehr bezahlen konnten. In Nordengland müssen sich die Legionen bald nach dem Jahr 410 aufgelöst haben. Damals, meint Robin Birley, verlor das Grenzland mit seinen verrußten, grauen Dörfern eine unersetzliche Wirtschaftskraft.
"In der römischen Epoche, vor allem als der Hadrianswall gebaut wurde, lebten in der Umgebung rund 13.000 Soldaten. Im Vergleich mit allen anderen waren sie sehr gut bezahlt, so dass für eine kurze Phase in der britischen Geschichte im Norden Englands mehr Geld kursierte als jemals zuvor oder danach."