Pures Pathos scheppert aus den Lautsprechern hoch über dem Bahnsteig. Unten schließen unter dem gestrengen Blick der Zugbegleiterinnen die Türen des Rossija-Express. Mit einem Seufzer setzt sich der Zug in Bewegung. "Vergesse nicht den Abschied einer Slawin", gibt ihm die Marschmusik mit auf seinen langen Weg. "Lebe wohl, Land der Väter, erinnre dich unser; lebe wohl, geliebter Anblick."
Es ist die "Slavianka" - der Abschied der Slawin -, seit zaristischer Zeit Russlands beliebtester Marsch und Beinahe-Nationalhymne. Ein gerade eben angemessener Auftakt für eine Reise auf der längsten Zugstrecke der Welt. An jedem geraden Wochentag verlässt der Rossija-Express - die Transsibirische Eisenbahn - den Bahnhof von Wladiwostok. Sieben Tage lang wird er westwärts rollen, sieben Zeitzonen und 9288 Kilometer überwunden haben, bis Kilometer Null in Moskaus Jaroslawer Bahnhof erreicht ist.
9288 Kilometer, so steht es unübersehbar geschrieben auf der steinernen Stele am Fernbahnsteig von Wladiwostoks Bahnhof. Ein vergoldeter russischer Doppeladler umflort den letzten Kilometerstein der Transsib. Und kein Tourist, der nicht sofort die Kamera zückt und vor dem Gedenkstein posiert. Denn wer hier steht, hat es bis ans Ende der Welt geschafft. Das aber ist genau die Frage: endet hier am südöstlichsten Zipfel des russischen Riesenreichs die Welt - oder zumindest Europa? Oder beginnt hier vielmehr Asien? Eine heiß diskutierte Frage in Wladiwostok - nicht zuletzt hier, am Kilometer 9288. Diese Stadt scheint aus geographischem Pathos gebaut, das ist hier mit Händen zu greifen.
Tatsächlich. Gleich hinter dem Schlussstein der Kontinente umspannenden Eisenbahnstrecke öffnet sich ein Tor zu einer anderen Welt: Unmittelbar hinter Wladiwostoks pittoreskem Bahnhof liegt der Hochseehafen. Der Überseekai begrenzt das westliche Ende des Hafenbeckens, "das Goldene Horn", nennen es die Wladiwostoker. Pate beim Namen stand die gleichnamige Bucht in Istanbul. Denn mindestens so elegant wie das Goldene Horn am Bosporus, bohrt sich Wladiwostoks Hafen einem gewaltig geschwungenen Gehörn gleich in die taigabedeckten Hügel der Armurski-Halbinsel. So geschützt vor den Unbilden des Japanischen Meeres empfahl sich die Bucht als Naturhafen.
Jahrhundertelang hatten hier vereinzelt mandschurische Fischer gesiedelt. Bis dann der südostwärts drängende russische Imperialismus seine Pflöcke einschlug. Wann, das weiß offenbar jeder Wladiwostoker auf den Tag genau. Selbstverständlich auch Ljudmila Kornilova, die Deutsch an der hiesigen Universität des Fernen Ostens lehrt:
"Am 2. Juli 1860 sind die ersten Matrosen mit einem Leutnant Kamaruv an der Spitze auf dem Schiff Panjur hierher gekommen und die ersten 40 Baracken gebaut im heutigen Zentrum der Stadt."
"Wladiwostok" sollte der kleine Marinestützpunkt heißen. Ein nicht eben bescheidener Name, ganz im kolonialistischen Gestus: Wladi-Wostok - das bedeutet "Beherrsche den Osten!" Und die Stadt schickte sich an, einzulösen, was ihr mit diesem Namen aufgegeben war. Mit den mandschurischen Ureinwohnern wurde man schnell fertig. Aber es gab da auch noch die eigentlichen Herrscher der Region, erzählt Ljudmila Kornilova:
"Damals war es sehr gefährlich allein in die Taiga zu gehen wegen des Tiger. Heute in der Region Primorje etwa leben 200 bis 300 Tiger. Weil sie migrieren es ist sehr schwer genaue Zahl zu sagen. Und nennt man nicht sibirische Tiger. In Leipzig in dem Zoo habe ich gesehen: Schild mit Aufschrift "Sibirischer Tiger". Nicht sibirischer Tiger, Ussuri-Tiger - das ist der richtige Name."
Bald nach seiner Gründung setzte Wladiwostok selbst zum ökonomischen Tigersprung an. Zu besichtigen ist das auf der Swetlanskaja-Straße. Unweit des Bahnhofs säumen prächtige Gründerzeitbauten den Boulevard, der sich an der Hafenbucht des Goldenen Horns entlang zieht. Hier demonstrierte einst Russlands Metropole am Pazifik ihren imperialen Glanz.
"Die Stadt wurde gegründet als Militärhafen. Aber sehr schnell kamen her die Zivilisten. 1862 wurde Wladiwostok eine Freihandelszone, dann kamen die ersten Ausländer. 1864 kamen die Hamburger Kunst und Albers, sehen sie heute das Kaufhaus. Das war das erste Kaufhaus in die Welt, so eine gemischte Handlung. Das Gebäude, das Sie heute noch sehen wurde von Leipziger Architekten Junghändel gebaut."
Ob der Kolonialwarenladen Kunst & Albers tatsächlich das erste Kaufhaus der Welt gewesen ist, bleibe dahin gestellt. Fraglos aber ist das prächtige Gebäude mit seiner üppig manierierten Art Noveau-Fassade Wladiwostoks architektonisches Highlight. Seit über achtzig Jahren heißt es nun Kaufhaus GUM. Und noch immer erzählt es von Wladiwostoks goldener Ära:
Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert erreicht die Trasse der Transsibirischen Eisenbahn endlich den Pazifik: die Bucht von Wladiwostok. Weit dringt das russische Imperium ins schwächelnde Reich der Mitte ein und macht sich die Mandschurei Untertan. Das stolze Wladiwostok ist der Stadt gewordene Anspruch Russlands auf die neue Vormacht in Fernost. Aber auch die Bucht der Tiger erreicht das Jahrhundert der Wölfe. Nach russisch-japanischem Krieg, nach Welt- und Bürgerkrieg war Wladiwostoks imperialer Glanz dahin, dann ziehen die siegreichen Bolschewiki einen dicken Schlussstrich unter das erste Kapitel der Stadtgeschichte. Wladiwostok wurde über drei Generationen hinweg zur verbotenen Stadt. Als Heimathafen der sowjetischen Pazifikflotte war die Stadt 70 Jahre lang für Ausländer tabu, Sowjetbürger durften nur mit Sondererlaubnis einreisen.
Einem Freilichtmuseum gleich stapeln sich die Zeugen dieses wirren vergangenen Jahrhunderts im Umkreis weniger hundert Meter von Bahnhof und Hafen entlang der Swetlanskaja-Straße. Rege rollen hier die Trolleybusse vorbei an jenen etwas derangierten fünfstöckigen Gründerzeithäusern, die sich tapfer gegen die Hinterlassenschaften der Sowjetjahre behaupten.
Ende der 50er Jahre hatte Chruschtschow verkündet, er werde aus Wladiwostok das "San Francisco des Ostens" machen. Aber dann setzte man stadtplanerisch doch lieber auf die "Chruschtschewkas", auf die typischen sowjetischen Plattenbauriegel. Sie prägen heute das Stadtbild, eben nur nicht das Zentrum.
Dort, auf der mondänen Swetlanskaja, bahnen sich junge Wladiwostokerinnen ihren Weg durch fliegende Händler und Losverkäufer. Auf Pfennigabsätzen. Wann immer es das Wetter nur irgend zulässt fühlen sich die Wladiwostokerinnen ihren wirklich hohen High Heels verpflichtet. Aus Tradition. Denn zu Sowjetzeiten wurde die Hafenstadt privilegiert mit Konsumgütern versorgt. Es heißt, selbst unter Stalin trugen hier die Frauen Schuhe mit hohen Absätzen.
Folgen wir dem Gestöckel auf der Swetlanskaja weiter: vorbei am Marinedenkmal, dem U-Boot S 59 nächst der ewigen Flamme, die des pazifischen Weltkriegs zu gedenken mahnen; vorbei an einem gewaltigen Plakat mit dem sich das ferne Moskau in Erinnerung bringt: "Putins Plan ist Russlands Stärke", steht da geschrieben. Plötzlich, Ecke Swetlanskaja-Puschkinskaja, taucht ein Gebäude auf, das nicht recht hierher passen will:
Pastor Manfred Brockmann und rund vierzig Gemeindemitglieder beschallen das Schiff einer neogotischen Backsteinkirche: Es ist die Pauluskirche, erbaut im Jahre 1907. Von wem sonst als jenem Leipziger Architekten Junghändel. Heute ist es schwer vorstellbar, wie das jetzt liebevoll restaurierte Kirchenschiff vor 16 Jahren ausgesehen hat. Da betrat Pastor Brockmann die Pauluskirche zum ersten Mal. Gerade hatte eine Studienreise den Hamburger Pfarrer ins westsibirische Omsk geführt, wo sich Russlands lutherische Kirche neu formierte.
"Dann kam das Gerücht auf, da, so sieben-, achttausend Kilometer weiter östlich, Wladiwostok, am Pazifik, streng geschlossene Hafenstadt, da soll eine alte lutherische Kirche. In der Kirche soll das Museum der Russischen Kriegsmarine sein, in der Stadt sollen achthundert Russlanddeutsche sein, und im Gebiet vier Tausend wer hat denn Lust das zu untersuchen. Da hab ich mich gemeldet, das find ich interessant, das ist Pionierarbeit, mach ich gerne, schickt mich mal'. "
Brockmann hing seinen Talar in Hamburg an den Nagel und übernahm in Wladiwostok die gerade neu gegründete Propstei - und damit ein Amtsgebiet mit acht Gemeinden und einer Ausdehnung von 4000 Kilometern von Alaska bis zur chinesischen Grenze. Allein, es fehlte ein geistliches Zentrum. Die alte Pauluskirche in Wladiwostok war noch immer im Besitz der russischen Marine.
" "Dann haben wir uns immer bemüht, die Kirche wieder zu bekommen, haben einmal sogar vor der Kirche einen Demonstrations-Gottesdienst gemacht, um zu zeigen, das gehört uns! Das war eine tolle Sache, 1996, und dann kam so ein Platzregen runter und ich dachte, jetzt laufen sie alle weg, und die Russen sind ja so abergläubisch, wenn die denken, Gott lässt es regnen, dann kriegt der die Kirche nie wieder. Aber genau das Gegenteil passierte, die Gemeinde scharte sich um mich, und dann ertönte auf einmal der Ruf: Jetzt gehen wir in Kirche! Und auch von der anderen Seite öffnete sich die Kirchentür, die Tür des Museums, das waren unsere Feinde, denn die wussten ja, wir wollen ihr Gebäude haben. Aber die lassen keinen im Regen stehen, Erbarmen und Mitleid ist eine große Sache in Russland. Unsere eigenen Gegner haben uns hier rein geholt. Und ein Jahr später hatten wir die Kirche wieder."
Pastor Brockmann kann es den deutschstämmigen Gemeindemitgliedern nicht verdenken, inzwischen nahezu sämtlich nach Deutschland gegangen zu sein. Zwar droht Wladiwostok nicht mehr in Gewalt und Korruption zu versinken, wie in den frühen düsteren neunziger Jahren. Da wurde in der von Moskau vergessenen Region Kommunalpolitik auch schon mal mit dem Raketenwerfer betrieben. Diese Zeiten sind vorbei, das soziale Klima aber bleibt rau in der Stadt am Goldenen Horn:
"Einige Leute werden immer reicher und viele Leute werden immer ärmer. Manchmal hat man den Eindruck, es entwickelt sich auf südamerikanische Verhältnisse hin."
Seine raueren Seiten offenbart Wladiwostok nur einige Straßenzüge oberhalb der Pauluskirche. Hier durchschneidet der Krasnogo Znameni-Prospekt, die Straße des Rotbannerordens, Wladiwostoks nördliche Plattenbauschluchten. In einem kleinen vermüllten parkähnlichen Grünstreifen erinnert eine mannshohe Staute an das finsterste Kapitel der Stadtgeschichte. Allzu leicht kann man es übersehen, das bronzene Denkmal für Ossip Mandelstam. Der Dichter starb hier Weihnachten 1938 in der Krankenbaracke eines Durchgangslagers. Zu hunderttausenden verfrachtete man in Wladiwostok Gefangene mit Schiffen auf die Halbinsel Kolyma, in die schlimmsten Lager des stalinistischen GULag. Wie Ossip Mandelstam starben viele bereits beim Transport. Das kleine Denkmal bleibt der einzige Hinweis auf diesen Teil der Geschichte Wladiwostoks.
Nur wenige hundert Meter entfernt duckt sich, angemessen abgründig, unter die aufgeständerte Stadtautobahn Wladiwostoks erste Adresse in Sachen Underground, der BSB-Club:
Todesgeist spielen auf, Wladiwostoks Veteranen des sinistren Rocks. Frontman Max Morbid, Archibald und Architektr ließen schon Anfang der 90er Jahre ihre ziemlich langen Haare kreisen, als eine der ersten Rockbands in Wladiwostok überhaupt, erzählt der 32-jährige Max Morbid alias Maxim Chepurnov,
"Und ich glaube, was die Old-School-Fans angeht, sind wir noch immer die populärste Band hier. Aber jetzt gibt es viele dieser Nu-Metal- und Metalcore-Bands, kleine Jungs, die versuchen, Gitarre zu spielen. Denen geht es eher ums Image als um die Musik. Aber das ist wohl normal."
Mitten zwischen dem boomenden China, dem Tigerstaat Südkorea und der Wirtschaftsmacht Japan liegt Wladiwostok.
Da gilt es, sich zu positionieren - immerhin bedeute Wladiwostok wörtlich: Beherrsche den Osten!, daran erinnert in einem Hinterzimmer des BSB-Clubs Andrej Alexeijwitsch.
Der Betreiber des Clubs ist das, was man in Russland einen "Businessman" nennt. Für ihn bleibt der Name der Stadt Programm:
"Gleichzeitig mit der Vergabe der Olympischen Spiele an Sotschi, bekam Wladiwostok den Zuschlag für den Aseatisch-Pazifischen Wirtschaftsgipfel 2012. Damit werden wir uns der Welt als Wirtschaftszentrum am Pazifik präsentieren."
Andrej Alexeijwitsch sitzt für die Putin-Partei "Einiges Russland" im Stadtparlament. Schon qua Amt glaubt er fest an den "Putin-Plan", eine Art Leuchtturmpolitik, die der Präsident kurz vor der letzten Parlamentswahl verkündete: Wladiwostok soll mächtig aufgehübscht werden.
"Putin kaputt", kommentiert lakonisch Andrejs Mitarbeiter Anton die Zuversicht seines Chefs. Wie viele in Wladiwostok scheint er dem Braten nicht ganz zu trauen. Mit dem von Chruschtschow ausgerufenen "San Francisco des Ostens" war es schließlich auch nicht weit her. Aber immerhin, so Metal-Barde Max, lieferte Wladiwostoks Stadtbild damit einen guten Resonanzraum für Death Metal:
"Unsere ganze Lebensweise findet Eingang in unsere Musik. Nun ja, vor allem die dunklen Seiten, wie die Umweltverschmutzung. Und jeden Morgen, wenn ich aufwache, sehe ich diese grauen Wände der Plattenbauten, das ist ziemlich brutal."
Nein, dass ihm sein Publikum weg brechen könnte, darüber macht sich Max keine Sorgen.
Dabei sind es nur ein paar hundert Meter in Richtung Hafen, und schon sieht die Welt ganz anders aus. An Wladiwostoks Stadtstrand drehen sich ein knallbuntes Riesenrad und Zuckerwattezentrifugen in der tiefen Abendsonne; Kinder in Elektroautos und Väter in Biergärten warten darauf, dass die mandschurische Taiga auf der anderen Seite der Bucht die Sonne schluckt. Wladiwostok liegt auf dem Breitengrad Barcelonas. Man glaubt es sofort und weiß sich am Mittelmeer. Doch da weht vom Bahnhof die Slavianka herüber und verabschiedet die Transsibirische Eisenbahn.
Es ist die "Slavianka" - der Abschied der Slawin -, seit zaristischer Zeit Russlands beliebtester Marsch und Beinahe-Nationalhymne. Ein gerade eben angemessener Auftakt für eine Reise auf der längsten Zugstrecke der Welt. An jedem geraden Wochentag verlässt der Rossija-Express - die Transsibirische Eisenbahn - den Bahnhof von Wladiwostok. Sieben Tage lang wird er westwärts rollen, sieben Zeitzonen und 9288 Kilometer überwunden haben, bis Kilometer Null in Moskaus Jaroslawer Bahnhof erreicht ist.
9288 Kilometer, so steht es unübersehbar geschrieben auf der steinernen Stele am Fernbahnsteig von Wladiwostoks Bahnhof. Ein vergoldeter russischer Doppeladler umflort den letzten Kilometerstein der Transsib. Und kein Tourist, der nicht sofort die Kamera zückt und vor dem Gedenkstein posiert. Denn wer hier steht, hat es bis ans Ende der Welt geschafft. Das aber ist genau die Frage: endet hier am südöstlichsten Zipfel des russischen Riesenreichs die Welt - oder zumindest Europa? Oder beginnt hier vielmehr Asien? Eine heiß diskutierte Frage in Wladiwostok - nicht zuletzt hier, am Kilometer 9288. Diese Stadt scheint aus geographischem Pathos gebaut, das ist hier mit Händen zu greifen.
Tatsächlich. Gleich hinter dem Schlussstein der Kontinente umspannenden Eisenbahnstrecke öffnet sich ein Tor zu einer anderen Welt: Unmittelbar hinter Wladiwostoks pittoreskem Bahnhof liegt der Hochseehafen. Der Überseekai begrenzt das westliche Ende des Hafenbeckens, "das Goldene Horn", nennen es die Wladiwostoker. Pate beim Namen stand die gleichnamige Bucht in Istanbul. Denn mindestens so elegant wie das Goldene Horn am Bosporus, bohrt sich Wladiwostoks Hafen einem gewaltig geschwungenen Gehörn gleich in die taigabedeckten Hügel der Armurski-Halbinsel. So geschützt vor den Unbilden des Japanischen Meeres empfahl sich die Bucht als Naturhafen.
Jahrhundertelang hatten hier vereinzelt mandschurische Fischer gesiedelt. Bis dann der südostwärts drängende russische Imperialismus seine Pflöcke einschlug. Wann, das weiß offenbar jeder Wladiwostoker auf den Tag genau. Selbstverständlich auch Ljudmila Kornilova, die Deutsch an der hiesigen Universität des Fernen Ostens lehrt:
"Am 2. Juli 1860 sind die ersten Matrosen mit einem Leutnant Kamaruv an der Spitze auf dem Schiff Panjur hierher gekommen und die ersten 40 Baracken gebaut im heutigen Zentrum der Stadt."
"Wladiwostok" sollte der kleine Marinestützpunkt heißen. Ein nicht eben bescheidener Name, ganz im kolonialistischen Gestus: Wladi-Wostok - das bedeutet "Beherrsche den Osten!" Und die Stadt schickte sich an, einzulösen, was ihr mit diesem Namen aufgegeben war. Mit den mandschurischen Ureinwohnern wurde man schnell fertig. Aber es gab da auch noch die eigentlichen Herrscher der Region, erzählt Ljudmila Kornilova:
"Damals war es sehr gefährlich allein in die Taiga zu gehen wegen des Tiger. Heute in der Region Primorje etwa leben 200 bis 300 Tiger. Weil sie migrieren es ist sehr schwer genaue Zahl zu sagen. Und nennt man nicht sibirische Tiger. In Leipzig in dem Zoo habe ich gesehen: Schild mit Aufschrift "Sibirischer Tiger". Nicht sibirischer Tiger, Ussuri-Tiger - das ist der richtige Name."
Bald nach seiner Gründung setzte Wladiwostok selbst zum ökonomischen Tigersprung an. Zu besichtigen ist das auf der Swetlanskaja-Straße. Unweit des Bahnhofs säumen prächtige Gründerzeitbauten den Boulevard, der sich an der Hafenbucht des Goldenen Horns entlang zieht. Hier demonstrierte einst Russlands Metropole am Pazifik ihren imperialen Glanz.
"Die Stadt wurde gegründet als Militärhafen. Aber sehr schnell kamen her die Zivilisten. 1862 wurde Wladiwostok eine Freihandelszone, dann kamen die ersten Ausländer. 1864 kamen die Hamburger Kunst und Albers, sehen sie heute das Kaufhaus. Das war das erste Kaufhaus in die Welt, so eine gemischte Handlung. Das Gebäude, das Sie heute noch sehen wurde von Leipziger Architekten Junghändel gebaut."
Ob der Kolonialwarenladen Kunst & Albers tatsächlich das erste Kaufhaus der Welt gewesen ist, bleibe dahin gestellt. Fraglos aber ist das prächtige Gebäude mit seiner üppig manierierten Art Noveau-Fassade Wladiwostoks architektonisches Highlight. Seit über achtzig Jahren heißt es nun Kaufhaus GUM. Und noch immer erzählt es von Wladiwostoks goldener Ära:
Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert erreicht die Trasse der Transsibirischen Eisenbahn endlich den Pazifik: die Bucht von Wladiwostok. Weit dringt das russische Imperium ins schwächelnde Reich der Mitte ein und macht sich die Mandschurei Untertan. Das stolze Wladiwostok ist der Stadt gewordene Anspruch Russlands auf die neue Vormacht in Fernost. Aber auch die Bucht der Tiger erreicht das Jahrhundert der Wölfe. Nach russisch-japanischem Krieg, nach Welt- und Bürgerkrieg war Wladiwostoks imperialer Glanz dahin, dann ziehen die siegreichen Bolschewiki einen dicken Schlussstrich unter das erste Kapitel der Stadtgeschichte. Wladiwostok wurde über drei Generationen hinweg zur verbotenen Stadt. Als Heimathafen der sowjetischen Pazifikflotte war die Stadt 70 Jahre lang für Ausländer tabu, Sowjetbürger durften nur mit Sondererlaubnis einreisen.
Einem Freilichtmuseum gleich stapeln sich die Zeugen dieses wirren vergangenen Jahrhunderts im Umkreis weniger hundert Meter von Bahnhof und Hafen entlang der Swetlanskaja-Straße. Rege rollen hier die Trolleybusse vorbei an jenen etwas derangierten fünfstöckigen Gründerzeithäusern, die sich tapfer gegen die Hinterlassenschaften der Sowjetjahre behaupten.
Ende der 50er Jahre hatte Chruschtschow verkündet, er werde aus Wladiwostok das "San Francisco des Ostens" machen. Aber dann setzte man stadtplanerisch doch lieber auf die "Chruschtschewkas", auf die typischen sowjetischen Plattenbauriegel. Sie prägen heute das Stadtbild, eben nur nicht das Zentrum.
Dort, auf der mondänen Swetlanskaja, bahnen sich junge Wladiwostokerinnen ihren Weg durch fliegende Händler und Losverkäufer. Auf Pfennigabsätzen. Wann immer es das Wetter nur irgend zulässt fühlen sich die Wladiwostokerinnen ihren wirklich hohen High Heels verpflichtet. Aus Tradition. Denn zu Sowjetzeiten wurde die Hafenstadt privilegiert mit Konsumgütern versorgt. Es heißt, selbst unter Stalin trugen hier die Frauen Schuhe mit hohen Absätzen.
Folgen wir dem Gestöckel auf der Swetlanskaja weiter: vorbei am Marinedenkmal, dem U-Boot S 59 nächst der ewigen Flamme, die des pazifischen Weltkriegs zu gedenken mahnen; vorbei an einem gewaltigen Plakat mit dem sich das ferne Moskau in Erinnerung bringt: "Putins Plan ist Russlands Stärke", steht da geschrieben. Plötzlich, Ecke Swetlanskaja-Puschkinskaja, taucht ein Gebäude auf, das nicht recht hierher passen will:
Pastor Manfred Brockmann und rund vierzig Gemeindemitglieder beschallen das Schiff einer neogotischen Backsteinkirche: Es ist die Pauluskirche, erbaut im Jahre 1907. Von wem sonst als jenem Leipziger Architekten Junghändel. Heute ist es schwer vorstellbar, wie das jetzt liebevoll restaurierte Kirchenschiff vor 16 Jahren ausgesehen hat. Da betrat Pastor Brockmann die Pauluskirche zum ersten Mal. Gerade hatte eine Studienreise den Hamburger Pfarrer ins westsibirische Omsk geführt, wo sich Russlands lutherische Kirche neu formierte.
"Dann kam das Gerücht auf, da, so sieben-, achttausend Kilometer weiter östlich, Wladiwostok, am Pazifik, streng geschlossene Hafenstadt, da soll eine alte lutherische Kirche. In der Kirche soll das Museum der Russischen Kriegsmarine sein, in der Stadt sollen achthundert Russlanddeutsche sein, und im Gebiet vier Tausend wer hat denn Lust das zu untersuchen. Da hab ich mich gemeldet, das find ich interessant, das ist Pionierarbeit, mach ich gerne, schickt mich mal'. "
Brockmann hing seinen Talar in Hamburg an den Nagel und übernahm in Wladiwostok die gerade neu gegründete Propstei - und damit ein Amtsgebiet mit acht Gemeinden und einer Ausdehnung von 4000 Kilometern von Alaska bis zur chinesischen Grenze. Allein, es fehlte ein geistliches Zentrum. Die alte Pauluskirche in Wladiwostok war noch immer im Besitz der russischen Marine.
" "Dann haben wir uns immer bemüht, die Kirche wieder zu bekommen, haben einmal sogar vor der Kirche einen Demonstrations-Gottesdienst gemacht, um zu zeigen, das gehört uns! Das war eine tolle Sache, 1996, und dann kam so ein Platzregen runter und ich dachte, jetzt laufen sie alle weg, und die Russen sind ja so abergläubisch, wenn die denken, Gott lässt es regnen, dann kriegt der die Kirche nie wieder. Aber genau das Gegenteil passierte, die Gemeinde scharte sich um mich, und dann ertönte auf einmal der Ruf: Jetzt gehen wir in Kirche! Und auch von der anderen Seite öffnete sich die Kirchentür, die Tür des Museums, das waren unsere Feinde, denn die wussten ja, wir wollen ihr Gebäude haben. Aber die lassen keinen im Regen stehen, Erbarmen und Mitleid ist eine große Sache in Russland. Unsere eigenen Gegner haben uns hier rein geholt. Und ein Jahr später hatten wir die Kirche wieder."
Pastor Brockmann kann es den deutschstämmigen Gemeindemitgliedern nicht verdenken, inzwischen nahezu sämtlich nach Deutschland gegangen zu sein. Zwar droht Wladiwostok nicht mehr in Gewalt und Korruption zu versinken, wie in den frühen düsteren neunziger Jahren. Da wurde in der von Moskau vergessenen Region Kommunalpolitik auch schon mal mit dem Raketenwerfer betrieben. Diese Zeiten sind vorbei, das soziale Klima aber bleibt rau in der Stadt am Goldenen Horn:
"Einige Leute werden immer reicher und viele Leute werden immer ärmer. Manchmal hat man den Eindruck, es entwickelt sich auf südamerikanische Verhältnisse hin."
Seine raueren Seiten offenbart Wladiwostok nur einige Straßenzüge oberhalb der Pauluskirche. Hier durchschneidet der Krasnogo Znameni-Prospekt, die Straße des Rotbannerordens, Wladiwostoks nördliche Plattenbauschluchten. In einem kleinen vermüllten parkähnlichen Grünstreifen erinnert eine mannshohe Staute an das finsterste Kapitel der Stadtgeschichte. Allzu leicht kann man es übersehen, das bronzene Denkmal für Ossip Mandelstam. Der Dichter starb hier Weihnachten 1938 in der Krankenbaracke eines Durchgangslagers. Zu hunderttausenden verfrachtete man in Wladiwostok Gefangene mit Schiffen auf die Halbinsel Kolyma, in die schlimmsten Lager des stalinistischen GULag. Wie Ossip Mandelstam starben viele bereits beim Transport. Das kleine Denkmal bleibt der einzige Hinweis auf diesen Teil der Geschichte Wladiwostoks.
Nur wenige hundert Meter entfernt duckt sich, angemessen abgründig, unter die aufgeständerte Stadtautobahn Wladiwostoks erste Adresse in Sachen Underground, der BSB-Club:
Todesgeist spielen auf, Wladiwostoks Veteranen des sinistren Rocks. Frontman Max Morbid, Archibald und Architektr ließen schon Anfang der 90er Jahre ihre ziemlich langen Haare kreisen, als eine der ersten Rockbands in Wladiwostok überhaupt, erzählt der 32-jährige Max Morbid alias Maxim Chepurnov,
"Und ich glaube, was die Old-School-Fans angeht, sind wir noch immer die populärste Band hier. Aber jetzt gibt es viele dieser Nu-Metal- und Metalcore-Bands, kleine Jungs, die versuchen, Gitarre zu spielen. Denen geht es eher ums Image als um die Musik. Aber das ist wohl normal."
Mitten zwischen dem boomenden China, dem Tigerstaat Südkorea und der Wirtschaftsmacht Japan liegt Wladiwostok.
Da gilt es, sich zu positionieren - immerhin bedeute Wladiwostok wörtlich: Beherrsche den Osten!, daran erinnert in einem Hinterzimmer des BSB-Clubs Andrej Alexeijwitsch.
Der Betreiber des Clubs ist das, was man in Russland einen "Businessman" nennt. Für ihn bleibt der Name der Stadt Programm:
"Gleichzeitig mit der Vergabe der Olympischen Spiele an Sotschi, bekam Wladiwostok den Zuschlag für den Aseatisch-Pazifischen Wirtschaftsgipfel 2012. Damit werden wir uns der Welt als Wirtschaftszentrum am Pazifik präsentieren."
Andrej Alexeijwitsch sitzt für die Putin-Partei "Einiges Russland" im Stadtparlament. Schon qua Amt glaubt er fest an den "Putin-Plan", eine Art Leuchtturmpolitik, die der Präsident kurz vor der letzten Parlamentswahl verkündete: Wladiwostok soll mächtig aufgehübscht werden.
"Putin kaputt", kommentiert lakonisch Andrejs Mitarbeiter Anton die Zuversicht seines Chefs. Wie viele in Wladiwostok scheint er dem Braten nicht ganz zu trauen. Mit dem von Chruschtschow ausgerufenen "San Francisco des Ostens" war es schließlich auch nicht weit her. Aber immerhin, so Metal-Barde Max, lieferte Wladiwostoks Stadtbild damit einen guten Resonanzraum für Death Metal:
"Unsere ganze Lebensweise findet Eingang in unsere Musik. Nun ja, vor allem die dunklen Seiten, wie die Umweltverschmutzung. Und jeden Morgen, wenn ich aufwache, sehe ich diese grauen Wände der Plattenbauten, das ist ziemlich brutal."
Nein, dass ihm sein Publikum weg brechen könnte, darüber macht sich Max keine Sorgen.
Dabei sind es nur ein paar hundert Meter in Richtung Hafen, und schon sieht die Welt ganz anders aus. An Wladiwostoks Stadtstrand drehen sich ein knallbuntes Riesenrad und Zuckerwattezentrifugen in der tiefen Abendsonne; Kinder in Elektroautos und Väter in Biergärten warten darauf, dass die mandschurische Taiga auf der anderen Seite der Bucht die Sonne schluckt. Wladiwostok liegt auf dem Breitengrad Barcelonas. Man glaubt es sofort und weiß sich am Mittelmeer. Doch da weht vom Bahnhof die Slavianka herüber und verabschiedet die Transsibirische Eisenbahn.